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Chrimhilde und ich waren immer die am wenigsten Begabten der Familie, und hatten nichts, uns auszuzeichnen, wäre es nicht etwa der Umstand gewesen, daß wir Zwillinge sind. Thekla sagt, wir seien ächte Sächsinnen und haben nichts von dem heftigen böhmischen oder Czechenblut in unsern Adern; das mag für mich schon gut sein, da Konrad nicht wenig von dem hitzigen Charakter der Schweizer an sich hat. Man sprach immer von Chrimhilden und mir zusammen, und wenn man uns die Schönheiten der Familie nannte, so meinte man wahrscheinlich blos, daß wir uns des Kontrastes wegen hübsch neben einander ausnehmen. Thekla sagt, Gott sende die Blumen als Zwillinge in die Welt, gerade so wie wir gegen einander abstechen –das dunkelblaue Veilchen mit dem hellen Schlüsselblümchen, den goldgelben Ginster mit dem purpurfarbigen Heidekraut. Daher nannte sie Chrimhilden zuweilen Schwester Schlüsselblume und mich Schwester Veilchen. Allein Chrimhilde ist schön ohne mich, so groß und schlank, so weiß und ruhig, so imponierend mit ihren großen, grauen Augen, ihrer ruhigen, hohen Stirne, ihrer vollen majestätischen Gestalt, welche ihrem sanften, freundlichen Wesen einen solchen Anstrich von Herablassung gibt, wie bei einer Königin. Allein ich bin nichts ohne Chrimhilde; und man sah meine kleine, schmächtige Gestalt, meine schwarzen Augen und Haare nur des Kontrastes wegen gerne neben ihr.
Was wohl Konrad Winkelrieds Landsleute in dem fernen Schweizerlande, wohin er mich führen will, von mir denken werden? Er versichert mich, daß mich alle lieb haben werden;, aber wie kann ich das hoffen? Es wird mir zuweilen recht bange um's Herz bei dem Gedanken, meine Heimat und Else, die liebe Mutter und alle zu verlassen. Chrimhilde freilich schien es ganz natürlich zu finden, als die Zeit herbeikam: aber sie ist so ganz anders als ich. Sie mußte ja gewiß, jedermann gefallen.
Und ich bin so sehr an Liebe und Freundlichkeit gewöhnt. Sie kennen mich alle hier, und obgleich ich lange nicht so klug, bin als die andern, so sind sie doch alle nachsichtig und gütig, gegen mich. Selbst Thekla, die manchmal ein wenig heftig wird, ist immer sanft gegen mich, obgleich sie mich zuweilen ein wenig auslacht, wenn ich etwas ganz besonders thörichtes sage. Meinetwegen bin ich eigentlich nicht so sehr bange; denn ich habe ja so wenig Ursache, Ansprüche zu machen, uns mein lieber himmlischer Vater und alle Menschen sind so viel gütiger gegen mich, als ich's verdiene. Nur um Konrads willen, der so viele Sprachen kann und so gelehrt ist, möchte ich ein wenig klüger sein. Als ich mit Elsen einmal davon sprach, lächelte sie und sagte, sie habe einmal dieselbe Furcht gehabt; aber Gott wolle uns täglich die nötige Weisheit geben, wenn wir ihn darum bitten; das gehöre zum »täglichen Brot«. Else ist auch sicher nicht sehr gelehrt, und doch hat jedermann sie lieb, und sie thut in der Stille so viel Gutes. Aber wenn sie auch nicht gelehrt ist, so scheint sie mir doch in kleinen Dingen sehr verständig. Als sie noch nicht einmal mein Alter hatte, pflegte sie schon eine Chronik zu schreiben. So erzählte sie mir, denn gesehen hab' ich sie nie. Ich habe gedacht, daß sie vielleicht durch das Schreiben dieser Chronik so klug geworden sei, und deshalb will ich versuchen, auch eine zu schreiben. Da ich aber jetzt gerade gar nichts von mir zu sagen weiß, will ich eine Geschichte abschreiben, welche mir Konrad vor einigen Tagen zum Lesen gegeben hat, deren Verfasser, ein Freund von ihm, auch ein Schweizer Student, erst kürzlich aus St. Gallen, wo seine Eltern wohnen, nach Wittenberg gekommen ist. Er heißt Johann Keßler, und Konrad sagt, daß er ein sehr braver, fleißiger Mensch sei.
»Auf unserer Reise nach Wittenberg, wo wir die heiligen Schriften studieren wollen, überfiel uns in Jena ein furchtbares Ungewitter, und trotz aller Erkundigungen in der Stadt konnten wir kein Gasthaus finden, wo man uns die Nacht beherbergen wollte. Denn es war die Zeit des Karnevals, wo man sich wenig um Pilgrime und Fremde bekümmert. Wir verließen daher die Stadt, um zu versuchen, ob wir nicht in einem benachbarten Dorfe ein Unterkommen finden könnten.
An dem Thore jedoch begegneten wir einem achtbar aussehenden Manne, der uns freundlich anredete und fragte, wo wir so spät am Abend noch hinwollten; denn nach allen Seiten hin sei kein Haus oder Herberge, die wir vor Einbruch der Nacht erreichen könnten.
Wir antworteten: »Lieber Vater, wir sind in allen Gasthäusern der Stadt gewesen, und man hat uns von dem einen zum andern geschickt; überall weigerte man sich, uns aufzunehmen, deshalb bleibt uns keine andere Wahl, als weiter zu reisen.«
Hierauf fragte er uns, ob wir uns schon im schwarzen Bären erkundigt hätten.
Wir sagten: »Den haben wir noch gar nicht gesehen. Wo ist er, Freund?«
Nun führte er uns ein wenig vor die Stadt. Und als wir den schwarzen Bären erblickten, siehe! da kam der Wirt selbst uns vor die Thüre entgegen. Während die andern alle uns abgewiesen hatten, hieß er uns willkommen und führte uns in die Stube.
Dort fanden wir einen Mann allein an dem Tische sitzend, und ein kleines Buch lag vor ihm. Er grüßte uns freundlich und forderte uns auf, näher zu treten und uns zu ihm an den Tisch zu setzen, denn unsere Schuhe waren (mit Respekt zu melden) so mit Schlamm und Kot überzogen, daß wir, uns fast schämend, ins Zimmer zu treten, uns in einem Winkel nahe bei der Thüre auf eine kleine Bank gesetzt hatten.
Nun forderte er uns auf, zu trinken, was wir nicht abschlagen konnten. Als wir sahen, wie herzlich und freundlich er war, setzten wir uns zu ihm an den Tisch, wie er es gesagt hatte, und forderten Wein, um ihm auch zutrinken zu können. Wir hielten ihn, wie er so in der gewöhnlichen Landestracht dasaß, in Hosen und Tunika ohne Rüstung, mit dem Schwert an der Seite, seine rechte Hand auf den Knauf seines Schwertes gelegt, mit der linken den Griff haltend, für einen Reitersmann. Seine Augen waren tief und schwarz, blitzend und strahlend wie Sterne, so daß man ihm nicht wohl hineinsehen konnte. –
Bald fing er an nach unserm Vaterland zu fragen.
Allein er antwortete selbst:
»Ihr seid Schweizer. Aus welchem Teil der Schweiz?«
Wir antworteten: »Aus St. Gallen.«
Dann sagte er: »Wenn Ihr, wie ich höre, nach Wittenberg geht, so werdet Ihr gute Landsleute dort finden, den Dr. Hieronymus Schürf und seinen Bruder, den Dr. Augustin.«
Wir sagten: »Wir haben Briefe an diese Herren zu übergeben.« Und dann fragten wir: »Herr, könnt Ihr uns vielleicht berichten, ob Dr. Luther jetzt in Wittenberg oder wo er sonst ist?«
Er antwortete: »Ich habe sichere Kunde, daß Luther jetzt nicht in Wittenberg ist. Aber er wird bald hinkommen. Dr. Melanchthon ist dort; er lehrt griechisch, andere lehren hebräisch. Ich rate Euch ernstlich, beide Sprachen zu studieren; denn beide sind nötig, um die Heilige Schrift zu verstehen.«
»Gott sei gelobt!« riefen wir. »Denn, wenn uns Gott am Leben läßt, wollen wir nicht heimkehren, ehe wir diesen Mann gesehen und gehört haben. Seinetwegen haben wir die Reise unternommen; denn wir haben gehört, daß er die Priesterschaft samt der Messe, als etwas ganz Unbegründetes abschaffen will. Da wir nun von Kindheit auf von unsern Eltern dazu bestimmt sind, Priester zu werden, so möchten wir wissen, was er uns für Unterricht geben will, und auf welche Autorität er seine Lehre gründet.«
Nach diesen Worten fragte er: »Wo habt Ihr bis jetzt studiert?«
Wir antworteten: »In Basel.«
Dann sagte er: »Wie steht es in Basel? Ist Erasmus von Rotterdam noch dort, und was macht er?«
»Herr,« sagten wir, »wir wissen nicht anders, als daß dort alles ganz wohl steht. Erasmus ist auch dort; womit er sich aber beschäftigt, weiß niemand, denn er lebt sehr still und zurückgezogen.«
Dieses Gespräch mit dem Reitersmann schien uns höchst, seltsam. Es fiel uns auf, daß er von den beiden Schurf, von Philipp und Erasmus und von dem Studium der griechischen und hebräischen Sprache zu reden wußte.
Ueberdies gebrauchte er zuweilen lateinische Worte, so daß wir dachten, er müsse mehr als ein gewöhnlicher Reiter sein.
»Freunde,« fragte er weiter, »was hält man in der Schweiz von Dr. Luther?«
»Herr, dort wie überall herrschen verschiedene Ansichten. Manche können ihn gar nicht hoch genug stellen und preisen Gott, daß Er durch ihn Seine Wahrheit klar gemacht und den Irrtum aufgedeckt hat; andere dagegen, besonders die Geistlichkeit, verdammen ihn als einen fluchwürdigen Ketzer.«
Hierauf sagte er: »Ich kann mir wohl vorstellen, daß die Geistlichkeit also redet.«
Durch diese Gespräche wurden wir ganz zutraulich, so daß mein Gefährte das kleine Buch in die Hand nahm, welches er vor sich liegen hatte, und hineinsah. Es war ein hebräischer Psalter. Da legte er es schnell wieder hin, und der Reiter zog es zu sich. Mein Gefährte sagte: »Ich wollte einen Finger darum geben, wenn ich diese Sprache verstünde.«
Er antwortete: »Ihr werdet sie bald verstehen lernen, wenn Ihr fleißig seid. Auch ich möchte sie besser verstehen und übe mich deshalb darin.«
Indessen war es ganz dunkel geworden, und der Wirt trat an unsern Tisch.
Als er von unserm sehnlichen Wunsche hörte, Martin Luther zu sehen, sagte er:
»Gute Freunde, wenn Ihr vor zwei Tagen hier gewesen wäret, so wäre Euer Wunsch erfüllt worden; denn er saß hier an diesem Tische und (mit dem Finger zeigend) an diesem Platze.«
Es reute uns sehr, daß wir uns unterwegs aufgehalten hatten, und wir schimpften über die schlechten, schmutzigen Wege, wodurch unsere Reise verzögert worden. Allein wir setzten hinzu:
»Es freut uns wenigstens, in dem Hause und an dem Tische zu sitzen, wo er gesessen hat.«
Darüber lachte der Wirt und ging zur Thüre hinaus.
Nach einer kleinen Weile rief er mich hinaus. Ich erschrak, denn ich fürchtete, etwas Unschuldiges gethan oder ohne mein Wissen Anstoß gegeben zu haben.
Aber er sagte zu mir: »Da Ihr so sehr wünscht, Luther zu sehen und zu hören, –der ist's, welcher bei Euch am Tische sitzt.«
Ich glaubte, daß er scherzte und sagte: »Ei, Herr Wirt, Ihr wollt mich zum Besten haben und mir einen falschen Luther zeigen.«
Er antwortete: »Er ist's ganz gewiß. Aber laßt es Euch nicht merken, daß Ihr's wisset.«
Ich konnte es nicht glauben, aber ich kehrte in die Stube zurück und sehnte mich, meinem Gefährten zu sagen, was der Wirt mir entdeckt hatte. Endlich flüsterte ich ihm leise zu:
»Der Wirt hat mir gesagt, dieser Mann sei Luther.«
Er wollte es eben so wenig glauben wie ich und sagte: »Er hat vielleicht Hutten gesagt, und du hast Luther verstanden.«
Da nun der Anzug und die Haltung des Fremden besser für Hutten als Luther zu passen schienen, so ließ ich mich überreden, er habe »Hutten« gesagt, weil beide Namen einen ähnlichen Klang haben. Was ich nun weiter sprach, sagte ich unter der Voraussetzung, daß ich mit dem Ritter Ulrich von Hutten rede.
Unterdessen waren zwei Kaufleute eingetreten, welche auch beabsichtigten, hier zu übernachten. Nachdem sie sich ihrer Mäntel und Sporen entledigt hatten, legte einer von ihnen ein ungebundenes Buch neben sich.
Da fragte derjenige, welchen der Wirt Martin Luther genannt hatte, was dies für ein Buch sei.
»Es ist Dr. Martin Luthers Erklärung der Evangelien und Episteln, die gerade eben im Druck erschienen ist. Habt Ihr sie noch nicht gesehen?«
Martin sagte: »Man wird sie mir bald zuschicken.«
Der Wirt sprach hierauf: »Setzt Euch zu Tische, Ihr Herren, wir wollen essen.«
Aber wir baten ihn, uns zu entschuldigen und uns ein besonderes Plätzchen anzuweisen. Doch er sprach:
»Gute Freunde, setzt Euch nur an den Tisch; ich stehe dafür, daß Ihr wohl gelitten seid.«
Als Martin dies hörte, sagte er: »Kommt, kommt! Ich will schon die Zeche nachher berichtigen.«
Während der Mahlzeit führte Martin viele fromme, freundliche Reden, so daß die Kaufleute und wir ganz stumm waren und weit mehr auf seine Worte als auf das Essen achteten. Unter anderm beklagte er mit einem Seufzer, daß die Fürsten und Adeligen, welche jetzt auf dem Reichstage zu Nürnberg versammelt seien, um über viele schwierige Gegenstände, über Gottes Wort und die Unterdrückung des deutschen Volkes zu beraten, zu glauben scheinen, durch Turniere, Schlittenfahrten, und alle Arten eitler, weltlicher Vergnügungen bessere Zeiten herbeiführen zu können, da doch Gottesfurcht und christliches Gebet weit mehr ausrichten würden.
»Das sind,« sagte er traurig, »unsere christlichen Fürsten!«
Ferner sagte er: »Wir wollen hoffen, daß die evangelische Wahrheit in unsern Kindern und Nachfolgern, die nie von den Irrtümern des Papsttums vergiftet worden, sondern in der reinen Wahrheit und dem Wort Gottes gegründet werden, –bessere Früchte hervorbringen wird als in ihren Eltern, in denen diese Irrtümer so festgewurzelt sind, daß man sie nur sehr schwer herauszureißen vermag.«
Hierauf teilten auch die Kaufleute ihre Meinung mit, und der ältere von ihnen sagte:
»Ich bin nur ein einfältiger, ungelehrter Laie und verstehe mich nicht viel auf solche Dinge; aber wenn ich mir die Sache so überlege, scheint mir's, Luther muß entweder ein Engel vom Himmel oder ein höllischer Teufel sein. Ich würde zehn Gulden drum geben, wenn ich ihm beichten dürfte! denn ich glaube gewiß, daß er mir den rechten Weg zeigen würde.«
Indessen sagte uns der Wirt insgeheim: »Martin hat Euer Abendessen bezahlt.«
Dies freute uns sehr, nicht wegen des Geldes oder der Mahlzeit, sondern daß dieser Mann uns freigehalten hatte.
Nach dem Abendessen gingen die Kaufleute in den Stall, um nach ihren Pferden zu sehen. Martin Luther blieb indessen in der Stube mit uns, und wir dankten ihm für seine Güte und Freigebigkeit und sagten, daß wir ihn für Ulrich von Hutten hielten.
Allein er sagte: »Der bin ich nicht.«
Hierauf kam der Wirt herein und Martin sagte:
»Ich bin heute Abend ein Edelmann geworden; denn die Schweizer halten mich für den Ritter Ulrich von Hutten.«
Dann lachte er über den Scherz und sagte: »Diese halten mich für Hutten, Ihr haltet mich für Luther. Nächstens werde ich Markolf, der Bauer, sein sollen.«
Hierauf ergriff er ein volles Bierglas und sagte nach üblicher Weise: »Schweizer, laßt uns auf unser aller Wohlergehen trinken!«
Als ich jedoch den Becher aus seiner Hand annehmen wollte, besann er sich und forderte statt dessen ein Glas Wein und sagte: »Ihr seid nicht an das Bier gewöhnt. Trinket lieber Wein.«
Nun stand er auf, warf sich den Mantel über seine Schulter und nahm Abschied. Er bot uns die Hand und sagte: »Wenn Ihr nach Wittenberg kommet, so grüßet Dr. Hieronymus Schurf von mir.«
Wir sagten: »Das wollten wir sehr gern thun, wenn wir nur wüßten, wie wir ihn nennen sollten, wenn wir seinen. Gruß bestellten?«
Er sagte: »Sagt nur, der, welcher kommen wird, läßt Euch grüßen. Das wird er dann schon verstehen.«
Hiemit verabschiedeten wir uns und begaben uns zur Ruhe.
Nachher kehrten die Kaufleute wieder in die Stube zurück, bestellten noch mehr zu trinken und sprachen noch viel mit dem Wirt über seinen seltsamen Gast.
Der Wirt gestand, daß er ihn für Dr. Luther halte, wovon sie auch bald überzeugt waren, und nun that es ihnen leid, daß sie so ungeziemend vor ihm gesprochen hatten, und sie beschlossen, am nächsten Morgen recht früh aufzustehen, ehe er wegritt, und ihn zu bitten, ihnen nicht böse zu sein oder übel von ihnen zu denken, da sie nicht gewußt, wer er sei.
Ihr Wunsch ward erfüllt, denn sie fanden ihn am nächsten Morgen im Stall.
Martin Luther aber sagte: »Ihr habt gestern Abend beim Nachtessen geäußert; ihr wollet gern zehn Gulden darum geben, dem Luther zu beichten. Wenn Ihr ihm nun einmal beichtet, so werdet Ihr erfahren, ob ich Martin Luther bin oder nicht.«
Deutlicher erklärte er nicht, daß er es sei, und bald darauf bestieg er sein Pferd und ritt Wittenberg zu.
Am selben Tage kamen wir nach Naumburg, und als uns hierauf der Weg durch ein Dorf (ich glaube, es heißt Naßhausen) führte, das am Fuße des Berges Orlamunde liegt, fanden wir den Strom, der daran vorbeifließt, durch die Regengüsse des vorigen Tages sehr stark angeschwollen und die Brücke zum Teil fortgerissen, so daß man nicht hinübergehen konnte. Wir übernachteten daher in diesem Dorfe und fanden in dem Wirtshause auch die zwei Kaufleute wieder, welche um Luthers willen darauf bestanden, uns frei zu halten.
An dem darauffolgenden Sonnabend, gerade vor dem ersten Sonntage in der Fastenzeit, überbrachten wir Dr. Hieronymus Schurf unsere Empfehlungsbriefe. Als wir in's Zimmer geführt wurden, wen fanden wir da anders als –den Reiter Martin von Jena und bei ihm Philipp Melanchthon, Justus Jonas, Niklaus Amsdorf und Dr. Augustin Schurf, die ihm eben erzählten, was sich während seiner Abwesenheit in Wittenberg zugetragen. Er grüßte uns freundlich und sagte lachend mit dem Finger deutend: »Dies ist Philipp Melanchthon, von dem ich mit Euch gesprochen habe.««
Ich habe diese Erzählung abgeschrieben, um mich zu üben, weil ich eine bessere Gesellschafterin für meinen Konrad werden, möchte, und dann auch, weil ich denke, daß wir in spätem Jahren alles schätzen werden, was uns zeigt, wie Martin Luther alle Herzen gewann, und wie er als ein Exkommunizierter und Geächteter nach Wittenberg zurückkehrend und trotz aller Sorgen für die evangelische Lehre noch Lust und Muße hatte zu kleinen. Liebesdiensten und Worten aufrichtigen Rates.
Welch ein Segen ist es doch für mich, die sogar auf deutsch nichts von der Theologia Germanica versteht und nie hätte lateinisch lernen können wie Eva, daß des gelehrten Dr. Luthers Predigten so einfach und klar sind. Chrimhilde und ich verstanden sie immer, und obgleich wir mit andern nicht viel reden konnten, pflegten wir beide doch des Nachts in unserer Schlafstube mit einander darüber zu sprechen und uns zu freuen, wie einfach die Religion erscheint, wenn er sie auslegt: Nichts weiter als an unsern Herrn Jesum Christum, der für unsere Sünden gestorben ist, zu glauben, Ihn zu lieben und alles zu thun, was wir können, um die, mit welchen wir in Berührung kommen, glücklicher und besser zu machen. Welch ein Glück für ungelehrte, wenig begabte Leute wie Chrimhilde und ich, in einer Zeit geboren zu sein, wo gelehrt wird, daß tue Religion nur Glaube und Liebe ist, anstatt all der verwickelten Regeln und hohen übernatürlichen Tugenden, welche man sonst Religion zu nennen pflegt.
Doch sagt man, Glauben, Liebe und Demut seien viel schwerer als alle die vorigen Bußübungen und guten Werke.
Dies kann aber wohl nur bei Solchen der Fall sein, die nicht so vieles von Dr. Luther gehört haben wie wir, was ihnen Liebe zu Gott einflößen muß, oder für solche, die mehr Ursache haben, stolz zu sein, als Chrimhilde und ich, und es daher schwerer finden, wenig von sich zu halten.