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XI.
Fortsetzung von Fritzens Chronik.

Augustinerkloster zu Rom.

So heilig diese Stadt sein muß, geweiht durch die Reliquien der heiligsten Toten der Kirche, geweiht durch die Gegenwart ihres lebendigen Oberhauptes, so glaube ich doch kaum, daß die Herzen dieser Italiener so tief von der Religion durchdrungen sind, wie die unserer armen Deutschen in dem kalten Norden.

Doch ich kann mich irren; Gefühle aller Art äußern sich auf so verschiedene Weise bei verschiedenen Charakteren.

Die Kirchen sind freilich gedrängt voll bei allen feierlichen Gelegenheiten und die Feste sind glänzend.

Allein das Volk scheint sie wie Lustbarkeiten und dramatische Unterhaltungen und nicht wie wir in Sachsen als feierliche, heilige Feste zu betrachten. So hörte ich zum Beispiel diesen Morgen zwei Frauen eine Prozession bekritteln, ungefähr in folgenden Worten, so viel das bißchen Italienisch, das ich aufgeschnappt habe, mich verstehen ließ:

»Ach Nina mia! Die Engel sind heute gar nichts; du hättest unsere Lucia voriges Jahr sehen sollen! Jedermann sagte, sie sei himmlisch. Wenn die Priester die Anordnungen nicht besser verstehen, so wird niemand mehr der Ceremonie beiwohnen mögen. Und wie elend war vollends die Musik!«

»Ja die Nonnen des Cistercienserklosters verstehen sich ganz anders darauf, eine Ceremonie anzuordnen. Die haben Ideen! Sahst du ihren Bambino am letzten Christfest? Was für prachtvolle Spitzen! Und die Wiege von Schildpatt, deren sich ein Kaiser nicht zu schämen brauchte! Gerade wie sich's gehört. Und ihre Kleider für die Madonna an Festtagen! von Goldstoff mit Perlen und Diamanten gestickt, ich sage dir von unermeßlichem Werte.«

»Ja,« versetzte die andere mit leiserer Stimme, »ich habe die Geschichte dieser Kleider gehört. Eine gewisse Dame, welche an dem Hofe des letzten heiligen Vaters sehr großen Einfluß hatte, soll den Anzug, in welchem sie bei irgend einer besondern Gelegenheit erschien, den Nonnen geschenkt haben, gerade wie sie ihn getragen hatte.«

»Sie hat also wohl Buße gethan?«

»Das weiß ich nicht. Aber eine solche Buße würde gewiß so viel Ablaß und Messen erkaufen, daß man eine Weile daran genug haben könnte.«

Bruder Martin und ich lieben diese prachtvollen Prozessionen gar nicht. Die Italiener mit ihrem wundervoll klaren Himmel und der reichen Farbenpracht ihres herrlichen Landes verlangen von ihrer Religion mehr äußern Glanz als unsere deutschen Augen anschauen können, ohne geblendet zu werden.

Wir waren etwas bestürzt und verwirrt über die prächtigen Schabracken der Pferde der Kardinäle, und besonders als wir den heiligen Vater auf einem herrlichen Zelter reiten und so den Leib des Herrn tragen sahen. In Deutschland wirft sich der stolzeste weltliche Würdenträger vor dem Allerheiligsten demütig zur Erde. Doch, was habe ich da gesagt? Der Himmel wolle mich behüten, daß ich den Statthalter Christi einen weltlichen Würdenträger nenne! Ist er doch der Stellvertreter und das Orakel Gottes auf der Erde!

Aus diesem Grunde –ohne Zweifel in schmerzlichem Widerspruch mit der einem jeden Christen natürlichen Ehrfurcht vor dem heiligen Sakrament –unterwirft sich der heilige Vater der Notwendigkeit, in der Kirche auf einem Throne zu sitzen und den Leib des Herrn durch eine goldene Röhre aus den Händen eines knieenden Kardinals zu empfangen.

Es muß für ihn sehr schwer sein, das Amt und die Person auseinander zu halten. Ist es doch für uns schon schwer genug. Allein solche Ehre zu empfangen, muß für einen noch nicht vollendeten Menschengeist ganz überwältigend sein.

Gewiß ist dafür des Nachts, wenn der heilige Vater sich in der Einsamkeit vor Gott demütigt, seine Selbsterniedrigung so viel tiefer als die jedes andern Christen.

Ich muß gestehen, es ist für mich eine unaussprechliche Wohlthat, mich des Nachts in meine einsame Zelle zurückzuziehen und da zu Dem zu beten, von welchem Bruder Martin und ich im Schwarzwalde gesprochen haben; zu Dem, für welchen die Anbetung des ganzen Weltalls keine Bürde ist, weil es nicht Ehrenbezeugung vor einem Amte, sondern Anbetung einer Person ist. »Heilig, heilig, heilig, Herr Gott Zebaoth; alle Lande sind Deiner Ehre voll!«

Heiliger, der Du uns geliebt und Deinen Heiligen für eine sündige Welt dahingegeben hast, miserere nobis!

 

Rom, im Juli.

Wir haben alle heiligen Reliquien fleißig besucht und an allen Altären, wo besonderer Ablaß für uns und andere zu gewinnen war, gebetet.

Einmal sagte Bruder Martin zu mir, er möchte fast wünschen, daß seine Eltern (so herzinnig er sie liebt) tot wären, damit er die Vorteile, welche diese heilige Stadt gewährt, benutzen könnte, um ihre Seelen aus dem Fegfeuer zu erlösen.

Er liest Messe, so oft er kann. Aber die italienischen Priester sind oft ungeduldig über ihn, weil er die Gebete so langsam hersagt. Einen von ihnen hörte ich ganz verächtlich sagen, er wolle dreißig Messen halten, bis Bruder Martin mit einer fertig werde. Und mehr als einmal trieben sie ihn mit den Worten: » Passa, Passa!« zur Eile an.

Ich fühle mich bei diesen Ceremonien in meinen Hoffnungen oft schmerzlich getäuscht, und ich glaube, es geht Bruder Martin ebenso wie mir. Ich hatte so viel mehr erwartet, –nicht mehr Pracht, die ist im Ueberfluß zu finden; aber wenn die Ceremonie beginnt, bei welcher eigentlich die Musik, der Aufzug der Reiter, die in prachtvolle Gewänder gehüllten Priester, die kostbaren Behältnisse nur Nebendinge und Vorbereitungen sind, –so scheint sie selbst oft so ärmlich und unbedeutend. Der Kern in dieser glänzenden Schale erscheint dem Auge der Vernunft nichts als ein Häufchen elenden vermoderten Staubes.

Der Vernunft! Ja, das hatte ich vergessen! Es ist eine Herrlichkeit des Glaubens, die nur der Glaube festhalten kann.

Heute betrachteten wir die Veronica, den heil. Abdruck, welchen das Gesicht unseres Erlösers auf dem Tuche zurückließ, das St. Veronica ihm reichte, um seine durch die Bürde des Kreuzes erhitzte Stirne abzuwischen. Schon lange hatten wir auf diesen Anblick uns gestellt, denn siebentausendjähriger Ablaß ist dadurch zu erwerben.

Als aber der Augenblick kam, konnten Bruder Martin und ich nichts sehen, als ein weißes über ein schwarzes Brett gehängtes Tuch, vor welches man noch ein anderes weißes Tuch hielt. Nach ein paar Minuten wurde dies letztere wieder hinweggezogen und der wichtige Moment war vorüber, der Anblick dieses heiligen Dinges, von dem das Schicksal von sieben Jahrtausenden abhängt. Eine Zeit lang sprachen wir nicht davon. Ich fürchtete, daß ich es nicht recht angesehen hatte, allein als ich sah, daß auch Bruder Martin niedergeschlagen war, teilte ich ihm meine Bedenklichkeit mit und erfuhr, daß auch er nichts gesehen hatte als ein weißes Tuch.

Noch mehr irre wurden wir an den Schädeln des heil. Petrus und des heil. Paulus, welche ganz wie aus Holz geschnitzt aussahen. Allem wir hatten im Gedränge nicht recht nahe herankommen können, und sicher sucht Satan die Augen, selbst der Gläubigen, zu verblenden.

Eine Reliquie, die mich aber besonders in Erstaunen setzte, war der Strick, womit Judas sich erhängt hatte! Das konnte wohl kaum eine heilige Reliquie genannt werden. Wer wohl auch diese aufbewahrt haben mag, indessen andere, so viel kostbarere Dinge verloren gingen? Schwerlich die Apostel, sondern eher die Schriftgelehrten aus Bosheit.

Den Römern, habe ich bemerkt, liegt wenig an dem, was für uns Kern und Mark dieser Feierlichkeiten ist: an der Ausstellung der heil. Reliquien. Sie scheinen mehr damit beschäftigt, die Pracht, die in diesem Jahre in einer Kirche aufgewendet wurde, mit früheren Jahren oder anderen Kirchen zu vergleichen.

Allein ich glaube, wir dürfen nicht an unsern eigenen Gefühlen und Gedanken den Segen abmessen wollen, den solche Feste uns gebracht haben, sondern einfach auf das Zeugnis der Kirche uns verlassen.

Sonst möchte ich fast versucht sein, mir einzubilden, daß die Ueberreste des heidnischen Roms wohlthuender auf mein Gemüt gewirkt haben, als der Anblick der heiligen Knochen und der heiligen Asche der Apostel und Märtyrer. Wenn ich über Haufen von Schutt und Trümmern dahinschreite, unter welchen der Glanz der alten Kaiserstadt tief in der Erde begraben liegt; oder wenn ich durch die zerfallenen Bogen des riesenhaften Kolosseums wandere, wo die Märtyrer mit wilden Tieren gekämpft haben, steigen große Gedanken in meinem Geiste auf und ich fühle, wie erhaben die Wahrheit ist und wie nichtig die Reiche dieser Welt sind.

Ich sehe da ein Reich, so fest wie dieses Colosseum in Trümmer zerfallen, ebenso gestaltlos wie der Staub aus den Straßen, vor dem Worte jenes vormals so verachteten Juden aus Tarsus, von schwacher Gestalt 2 Korinther 10, 10., der hier enthauptet wurde. Oder in dem alten Pantheon, wenn der christliche Gesang ertönt zwischen den Gestalten der alten, überwundenen Götter, welche auf die Wände gemalt sind, und wenn dann das Licht herabströmt, nicht durch gemalte Fenster in den Mauern, sondern von dem glühenden Himmel herab, dann klingt jeder Ton des Gottesdienstes wie ein Triumphgesang und erfüllt mein Herz mit Freude und Dank.

Doch die seligsten Stunden verlebte ich in der Kirche meines Schutzheiligen, St. Sebastian, die außerhalb der Stadtmauer über den Catacomben erbaut ist.

Zahllose Märtyrer, sagt man, ruhen friedlich in den altertümlichen Gräbern. Seit Jahrhunderten sind sie nicht geöffnet worden, allein man glaubt, daß diese unterirdischen Gänge sich weit unter der alten Stadt hin erstrecken. In dieser finstern Tiefe suchte die Kirche einst eine Zuflucht vor der Verfolgung; hier bestattete sie ihre Märtyrer und hier über ihren Gräbern sang sie Triumphlieder und feierte das Abendmahl Dessen, für den sie ihr Leben geopfert hatten. In dieser Kirche habe ich manche Stunde zugebracht. Ich wünschte nicht in die geheiligten Gewölbe hinabzusteigen und diese Gräber zu durchsuchen, welche die Trompete des jüngsten Gerichts früh genug öffnen wird. Ich denke gerne an die heiligen Toten, welche da unten so still und ungestört ruhen, an ihre Seelen im Himmel, an den Sieg, welchen ihr Glaube in der Stadt, die sie getötet hat, davon trägt.

Gewiß hatten auch sie ihre Zweifel und Bedenken, und wunderten sich über den Triumph der Bösen und seufzten: »Wie lange, o Herr, wie so lange?«

Und doch kann ich mich des Wunsches nicht erwehren, ich möchte unter ihnen geboren und gestorben sein und nicht in einer Zeit leben, wo Satan nicht in seiner natürlichen Scheußlichkeit, sondern als ein Engel des Lichtes uns erscheint.

Denn wer möchte von der Gottlosigkeit sprechen, welche in dem christlichen Rom herrscht; von der schamlosen Sünde, der Gewaltthätigkeit, dem Stolze, dem Verspotten des Heiligsten!

In dem Colosseum, im Pantheon, in der Kirche des heiligen Sebastian fühle ich, daß ich ein Atom bin, aber ein Atom in einer wirklich von Gott regierten Welt, wo die Wahrheit am mächtigsten ist; unbedeutend in mir selbst, wie das kleine Moos, das an diesen alten Steinen hängt; aber doch ein kleines Moos an einem mächtigen Felsen, der nicht erschüttert werden kann, an dem Felsen der göttlichen Vorsehung und Liebe. In der geschäftigen Stadt fühle ich mich hin- und hergestoßen wie auf einer See, welche ihr eigener, wilder Wille ohne Zweck und Ziel aufregt und in Wut bringt. Unter den Ruinen verkehre ich mit unsern erhabenen und heiligen Abgeschiedenen, welche mit Gott leben. Bei dem Vorzeigen der heiligen Reliquien wird mein Herz zu dem vergänglichen Staube herabgezogen, den kleinliche Menschen der Jetztzeit mit elendem Tande geschmückt haben.

Kehre ich dann in mein Kloster zurück, so mache ich mir bittere Vorwürfe über meine Tadelsucht, meinen Stolz und Unglauben, und halte mir vor, daß die Segnungen dieser Ceremonien und Reliquien nur dem Glauben faßlich sind, und weder nach den Gefühlen noch selbst nach den moralischen Wirkungen beurteilt werden dürfen.

Die Kirche und der heilige Vater erklären feierlich, daß Vergebung und unberechenbarer Segen für uns selbst und andere zu gewinnen sind, durch das Hersagen einer gewissen Zahl von Paternostern und Ave Maria's vor bestimmten Altären, und durch das Anschauen der Veronica und anderer Reliquien. Ich habe die Werke vollbracht und muß an ihre Wirksamkeit glauben, wenn ich des Segens nicht verlustig gehen will.

Allein Bruder Martin und ich sind oft ganz entmutigt durch die Gottlosigkeit, die wir hier sehen und hören müssen. Vor einigen Tagen war Martin Luther bei einem Feste mit verschiedenen Prälaten und andern hohen Geistlichen zusammen, unter denen es Mode schien, über die heiligsten Dinge zu scherzen.

Einige von ihnen gestanden, daß sie diesen Artikel des Glaubens, andere, daß sie jenen nicht annehmen könnten, und das alles mit lachendem Munde, als ob es sie sehr wenig bekümmere. Einer der Prälaten erzählte, daß sie zuweilen bei der Messe die Worte: » panis es et panis manebis« (Brot bist du und wirst Brot bleiben) anstatt der Einweihungsworte sprächen, und sich dann belustigten, zu berichten, wie das Volk nicht den wirklichen Leib des Herrn, sondern ein gewöhnliches Stückchen Brot anbete.

Wir haben von Römern selbst erklären hören, daß, wenn es eine Hölle gäbe, so müsse Rom darüber gebaut sein. Sie haben einen Vers:

»Vivere qui sancte vultis, discedite Roma
Omnia hie esse licent, non licet esse probum.«

Zu deutsch:

»Weicht aus Rom, die ihr wollt heilig leben;
Ehrlichkeit nur wird hier nicht vergeben.«

O Rom! An Heiligkeit ein Jerusalem, an Gottlosigkeit ein anderes Babylon; wie herbe ist der Streit, der sich in dem Herzen erhebt, das so heilige Orte und heilige Charaktere getrennt sieht. Wie niederschmetternd sind die Zweifel, die immer und immer wieder sich unseres Geistes bemächtigen, ob Heiligkeit und Wahrheit nicht bloße Namen und Schattenbilder seien, wenn wir Teufelswerke in der Hauptstadt des Gottesreiches herrschen sehen!

 

Rom, im August.

Mechanisch fahren wir fort, den vorgeschriebenen Kreis frommer Andachtsübungen durchzumachen, glaubend gegen unsere eigene Erfahrung, hoffend gegen alle Hoffnung!

Heute erstiegen Bruder Martin und ich die Santa Scala, die heilige Treppe, welche einst, wie man sagt, zu dem Hause des Pilatus gehört hat. Ich war vor ihm auf den Knieen die heiligen Stufen hinangerutscht und stand oben, seiner wartend, indes er langsam auf seinen Knieen eine der harten steinernen Stufen, die von den Knieen der vielen Büßenden und Pilgrimme ganz ausgehöhlt sind, nach der andern hinaufkroch. Ein Ablaß für tausend Jahre, Ablaß jeglicher Buße ist der Lohn dieses frommen Werkes. –Geduldig kroch er die halbe Treppe hinan, als er zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen plötzlich aufstand, seine Augen gen Himmel aufschlug und dann im nächsten Moment sich umwandte und langsam hinabstieg.

Als wir wieder zusammentrafen, schien er in tiefe Gedanken versunken; aber später erklärte er mir den Grund seines plötzlichen Entschlusses, diese Unternehmung aufzugeben.

Während er sich so mühsam hinaufarbeitete, war es ihm, als ob eine himmlische Stimme ihm jene alten, wohlbekannten Worte, die so oft sein Kriegsgeschrei bei manchem siegreichen Kampfe gewesen sind, zuflüsterte: » Der Gerechte wird seines Glaubens leben

Er schien wie aus einem schweren Traume erwacht und zu sich selbst gekommen zu sein. Er wagte keinen Schritt weiter zu rutschen, sondern, sich von seinen Knieen erhebend, stand er aufrecht, wie ein seiner Bande und Ketten entledigter Mann, und mit dem festen Schritt eines freien Menschen schritt er die Stufen hinab und ging nach Hause zurück.

 

August 1511.

Ein Mord ist diese Nacht verübt worden. Ein von vielen Stichen durchbohrter Leichnam ist nahe bei unserm Klostergitter gefunden worden. Allein niemand scheint sich viel darum zu bekümmern. Solche Verbrechen kommen häufig vor, und man scheint blos begierig, zu erfahren, was wohl die Ursache des Streites gewesen sein möge, der diese That herbeiführte.

»Ein Prälat ist dabei beteiligt,« flüstern die Mönche, »ein Verwandter des vorigen Papstes. Die Sache wird daher nicht zur Untersuchung kommen.«

Diese Verbrechen aus Leidenschaft scheinen mir übrigens noch viel eher zu entschuldigen, als jener Leichtsinn, jene Spötterei, die alle Klassen durchdringt.

In solchen Thaten der Rachsucht sieht man das Verderbnis der menschlichen Natur; aber man erkennt in diesem Verderben noch etwas von ihrer ehemaligen Würde. Aber in diesem scherzenden, höhnischen Geiste, der die Heiligkeit des Gottesdienstes, die Tugend der Frauen, Wahrheit und Ehre bei den Männern bespöttelt, scheinen alle Spuren von dem Bilde Gottes vertilgt und in den Staub getreten.

Oft flüchte ich mich vor solchen Gedanken in die Campagna und fühle eine Erholung in ihren Ruinen, ihren einsamen Wüsten, ihren Spuren materiellen Verderbens.

Es sind nicht die Ruinen der Königreiche, noch der kaiserlichen Paläste, welche meinen Geist niederschlagen. Herrlich erhebt sich dagegen die Unsterblichkeit des menschlichen Geschlechts, sowie der einzelnen Seelen. In der Campagna sieht man die Ruinen des kaiserlichen Roms; aber in Rom erblickt man das Verderben unseres Geschlechtes und des menschlichen Herzens. Und womit soll man sich trösten, wenn selbst die Gegenwart dessen, den die ganze Christenheit verehrt, solchem Verderben nicht steuern kann?

Ohne die Erinnerung an die liebe Heimat in Eisenach, bei welcher ich aber nicht zu lang verweilen darf, scheint es mir zuweilen, daß mein Herz allen Glauben an Unschuld und Wahrheit aufgeben würde.

 

Rom, im August.

Bruder Martin beschäftigt sich in der Zwischenzeit, welche ihm die Angelegenheit seines Ordens, die sich langsam durch die verwickelten Gänge der römischen Gerichtshöfe durchwindet, übrig läßt, mit dem Studium der hebräischen Sprache unter der Anleitung des Rabbiners Elias Levita.

Auch ich nehme Unterricht bei dem Rabbi und habe überdies den großen Vorteil genossen, Vorlesungen des byzantinisch-griechischen Professors Argyropylos zu hören.

Durch diese beiden Männer haben sich mir gleichsam zwei neue Welten in den weiten Fernen der Zeit und des Raumes eröffnet.

Der Rabbi, von jenem Volke abstammend, das zum Sprichwort und zum Gegenstand der Verachtung geworden ist, rühmt sich zu meiner großen Verwunderung seiner Nation und seines Stammbaumes mit einem Stolze, welcher auf das Altertum unserer edelsten Geschlechter wie auf eben erst der Erde entsprossene Pilze herabsieht. Ich hatte keine Idee davon, daß unter dem Elend und knechtischen Wesen der Juden solch stolze Gefühle zu finden seien. Und doch, sollte ich mich darüber verwundern? Noch ehe Rom gebaut wurde, war Jerusalem eine heilige Königsstadt, und jetzt, da das römische Reich und Volk schon seit Jahrhunderten untergegangen sind, existiert die jüdische Nation noch immer, um Zeuge ihres Falles zu sein. –

Ich ging eines Tages an die Thüre der Synagoge in dem Ghetto. Da waren keine Reliquienkästen, keine Altäre, keine sichtbaren Zeichen heiliger Gegenstände, ausgenommen die Rolle des Gesetzes, welche ehrfurchtsvoll aus einem verborgenen Schranke genommen und laut vorgelesen wurde. Allein diese Stimme, welche durch Wiederholung der vor Jahrhunderten von den Propheten im heiligen Lande gesprochenen Worte die Gegenwart des Allerhöchsten darstellt, hat etwas außerordentlich Erhabenes.

»Warum habt ihr denn keinen Altar?« fragte ich einst den Rabbi.

»Unser Altar darf nur da aufgerichtet werden, wo unser Tempel steht,« war die Antwort. »Unser Tempel kann blos in der Stadt und auf dem Berge Gottes gebaut werden. Allein,« fuhr er in leisem, bitterm Tone fort, »wenn unser Altar und Tempel sich einst wieder erheben werden, so wird es nicht geschehen, um dem gemalten Bilde einer hebräischen Jungfrau Weihrauch darzubringen.«

Ich habe seitdem oft an diese Worte gedacht. –Allein sind sie keine Gotteslästerung? Ich muß sie zu vergessen suchen. –

Aber diese Griechen! Sie sind Christen und gehören doch nicht zu unserer Glaubensgemeinschaft. Durch Argyropylos erfuhr ich erst, daß im Osten eine Kirche existiert, so alt und so ausgebreitet, wie die des westlichen Europas, welche die Heilige Dreieinigkeit und das Credo anerkennt, aber dem heiligen Vater, dem Papste, keinen Gehorsam leistet.

Wie ist die Welt doch so viel größer und älter, als Else und ich sie uns einst in Eisenach vorstellten. Sollte nicht vielleicht das Reich Gottes auch viel weiter sein, als manche in Rom denken mögen?

Monumenten, welche aus einer vorchristlichen Zeit herstammen, und Menschen gegenüber, welche die Sprache Mosis und, unbedeutende Veränderungen abgerechnet, die Sprache Homers reden, scheint mir unser Deutschland noch in seiner Kindheit zu sein. Wolle Gott, daß ihm ein ruhmvolles Jünglings- und Mannesalter bevorstehe, wenn jene altersschwachen Völker längst dahin sind!

Doch behüte mich der Himmel, Rom altersschwach zu nennen, auf dessen Stirne nicht eine vergängliche Krone irdischer Herrschaft, sondern die heilige Priesterbinde des Reiches Gottes ruht!

 

September.

Die Mission, welche Bruder Martin hieher geführt hat, ist nächstens vollendet. Bald –vielleicht schon in ein paar Tagen –werden wir Rom verlassen und nach Deutschland zurückkehren.

Und was haben wir durch diese Pilgerfahrt gewonnen?

Einen unberechenbaren Vorrat von Ablaßzetteln und Erkenntnis, geöffnete Augen, um Gutes und Böses zu unterscheiden. Veredelnde Erkenntnis! Blicke in reiche Welten des menschlichen Lebens und Denkens, welche uns demütigen, indem sie den Geist erheben und erweitern. Bittere Erkenntnis, getäuschte Hoffnungen, vernichtetes Streben! Wir haben erfahren, daß das Herz der Christenheit eine moralische Pestbeule ist, daß geistliche Vorrechte und sittliche Kraft in gar keiner Verbindung zu einander stehen, da gerade hier, wo die ersteren in der höchsten Vollkommenheit zu finden sind, die letztere auf der niedrigsten Stufe der Entwürdigung steht.

Wir haben einsehen gelernt, daß es keinen Platz auf Erden gibt, wohin das Herz als zu einer Freistätte flüchten könnte, wenn wir unter einer Freistätte nicht blos einen Zufluchtsort vor der Strafe für die Sünden, sondern einen Ort verstehen, wo man heilig werden kann.

In einem gewissen Sinne freilich verdient Rom eine Freistätte genannt zu werden; denn es scheint, als ob die Verbrecher der halben Welt hier eine Zuflucht gefunden hätten.

Wenn ich in Zukunft an Rom denke, als an eine Stadt der Lebendigen, so werde ich an Mord, Verrat, Geiz, einen Geist der Spottsucht, der eigentlich nur der Schaum über einem Abgrunde der Verzweiflung ist, an eine Verspottung aller Tugend denken, die auf den Zweifel an aller Wahrheit gegründet ist.

Nur als eine Stadt der Toten werde ich künftig Rom für einen heiligen Ort ansehen. Es hat in der That die Gräber der Propheten, und zwar prächtig gebaut.

In jenen Katakomben tief unter den Straßen der Stadt, wo die heiligen Toten ruhen, wo die Händler mit heiligen Knochen nicht hinkommen, um ihre Ruhe zu stören, dort kann die Phantasie, gleich jenen heiligen Geistern, Ruhe finden.

Geistlich scheint Rom nur unter seinen Toten zu leben; unter den Lebenden ist alles nur sittliches Verderben und Tod. –

Gott und die Heiligen seien mir gnädig, wenn es eine Sünde ist, dies zu sagen.

Muß nicht der Abschaum notwendig oben auf schwimmen?

Machen nicht Thaten oder rohe Gewalt und spöttische Worte mehr Lärm in der Welt als Gebete? Wer weiß, wie viele demütige Herzen hier in den zahlreichen Klöstern im Stillen einen Gott wohlgefälligen Weihrauch darbringen und eine ewige Lampe der Andacht vor dem Angesichte Gottes brennend erhalten?

Wer kann wissen, wie viele tiefere und bessere Gedanken unter dieser Hülle von Leichtsinn verborgen sein mögen? Nur fühle ich oft, daß ich, wenn mich Gott nicht durch sein Wort, das Bruder Martin mir dort im Schwarzwalde verkündigte, zu einem Gläubigen gemacht hätte, in Rom nur zu leicht ein Ungläubiger geworden wäre. Und es ist ganz gewiß wahr, daß, wer ein Christ sein will, in Rom sowohl wie anderswo, ja noch mehr als anderswo, gegen den Strom ankämpfen und im Glauben und nicht im Schauen wandeln muß.

Trotz alledem haben wir unsere Pilgerfahrt vollbracht. Gewissenhaft haben wir alle Altäre besucht und so viele Paternoster und Ave Maria an den vorzüglichsten Reliquien hergesagt.

Daraus muß uns großer Segen erwachsen.

Aber Segen welcher Art! Segen für unsere Sittlichkeit? Wie könnte das möglich sein? Wann werde ich aus meinem Gedächtnisse die unreinen Worte und Werke verwischen können, die ich in Rom gehört und gesehen habe? –Geistliche Segnungen? Schwerlich, wenn wir darunter ein frommes Gemüt, Gottseligkeit und innige Gemeinschaft mit Gott verstehen. Wo ist es mir je so schwer gefallen zu beten? Wo kamen mir je solche überwältigende Zweifel? Wo wurde mir je der Gedanke an Gott und den Himmel so trübe wie in Rom?

Also muß der Segen, den wir erlangt haben, ein kirchlicher sein, den die Kirche verheißt und austeilt. Aber worin besteht er? In der Sündenvergebung? Steht denn nicht geschrieben, daß Gott dieselbe umsonst allen denen schenkt, die an seinen Sohn glauben? In dem Frieden? Aber ist dieser nicht das Vermächtnis des Heilandes für alle, die ihn lieben?

Was ist es denn? Ablaß. Ablaß wovon? Von den zeitlichen Folgen der Sünde? Offenbar nicht von diesen. Rettet denn der Ablaß die Menschen vor Krankheit, Kummer und Tod? Oder vielleicht von den ewigen Strafen der Sünde? Allein hat denn nicht das Lamm Gottes, das für uns am Kreuze starb, unsere Sünden getragen und getilgt? Was bleibt denn nun übrig, wovon wir durch den Ablaß befreit werden können? Bußübungen und Fegefeuer. Was verstehe ich darunter? Haben Bußübungen an und für sich keine heilende Wirkung, daß wir von der Sünde befreit werden können, ob wir dieselben vollbringen oder nicht? Hat das Fegefeuer keine reinigende Macht, daß wir ebensowohl durch Gebete, die an gewissen Altären gesprochen werden, gereinigt werden können, wie durch Jahrhunderte in der Flammenqual?

Alle diese Fragen steigen von Zeit zu Zeit in mir auf, und ich finde keine Lösung dafür. Wenn ich sie meinem Beichtiger mitteile, sagt er:

»Dies sind Versuchungen des Teufels. Du mußt nicht darauf hören. Das sind eitle vermessene Fragen. Auf Erden sind keine Schlüssel zu finden, um diese Thüren zu öffnen.«

Gibt es wohl Schlüssel auf Erden, um diese Thüren wieder zu schließen, wenn sie einmal geöffnet worden sind?

»Ihr Deutschen,« sagen andere italienische Priester, »nehmt alles so verzweifelt ernsthaft. Die Schuld mag wohl an euern langen Wintern und an der Schwere der Luft in euerm nördlichen Klima liegen, die ohne Zweifel niederdrückend sein muß.«

Heilige Maria! Werden diese Italiener, denen das Leben eine so leichte Sache ist, nicht einst auch den Tod und das Gericht und die Ewigkeit verzweifelt ernsthaft nehmen müssen, obgleich es dort keine langen Winter und kein nördliches Klima geben wird, das sie niederschlagen könnte?

Wir kehren endlich nach Deutschland zurück. Seltsam haben sich meine Begriffe von der Welt erweitert, seit wir hieher kamen. Wir sind bevollmächtigte Pilgrime; wir haben alle vorgeschriebenen Pflichten erfüllt, alle Vorrechte uns zu Nutzen gemacht. Und doch ist es nicht der Schmerz, die heilige Stadt zu verlassen, was unsere Herzen bei dem Abschied von Rom mit der tiefsten Trauer erfüllt.

Wenn ich meine Erinnerungen von Rom mit denen meiner Heimat in Eisenach vergleiche, so fühle ich mich versucht, Deutschland, und nicht Rom, für den heiligen Ort zu halten und zu glauben, daß unsere Pilgerfahrt erst jetzt beginnt, da wir unser Angesicht nach Norden wenden.


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