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XXXIX.
Agnesens Geschichte.

Eisleben 1542.

Tante Else sagt, niemand in der ganzen Welt habe mehr Ursache Gott zu danken, als Heinz und ich, und ich weiß wohl, daß sie Recht hat.

Erstens haben wir den besten Vater und die beste Mutter in der Welt, so daß wir, wenn sie von unserer frühesten Kindheit an von dem Vater im Himmel sprachen, nur daran zu denken brauchten, was die Eltern auf Erden für uns sind, und daß all ihre Liebe und Güte zusammengenommen zeigt, was Gott ist, und wenn das nur denkbar wäre, noch viel mehr.

Wir brauchten uns nur noch etwas hinzuzudenken zu dem, was sie sind, aber gar nichts davon hinwegzunehmen, um zu wissen, was Gott ist. Wir könnten nur zu uns selbst sagen, gerade wie unsere Eltern, so mild im Urteil über andere, so liebend, so wahr ist Gott, nur ist Seine Liebe noch größer und weiser als die unseres Vaters, noch teilnehmender und zärtlicher als die unserer Mutter, was man sich freilich schwer vorstellen kann. Nur in einem ist er ihnen nicht gleich. Seine Macht ist unbegrenzt. Er kann alles für uns thun und uns alles geben, was er für gut findet. Mit solchen Eltern auf Erden, einem solchen Vater im Himmel, und mit Heinz, wie kann ich je Gott genug danken?

Und unsere Mutter ist noch so jung! Der liebe Vater sagte neulich: »Ihr Haar hat noch gar keinen grauen Schein, andern ist so golden wie Agnesens.« Und ihr Gesicht ist so blühend und freundlich, ihre Stimme so klar und voll, wenn sie ihre Lieblingslieder singt oder spricht. Tante Else sagt, man fühle eine eigentümliche Ruhe, wenn man sie nur ansehe, und sie habe stets eine so angenehme Stimme gehabt, halb wie Kirchenmusik, halb wie das Girren der Turteltaube. Tante Else sagt auch, sie habe schon als Kind dieselbe Weise gehabt wie jetzt, zu sehen, was man denkt, einem in das Herz zu kommen, so daß man fühlt, daß das Gute darin verstanden, das Böse aber entdeckt ist und sich wegschleichen muß.

Unser lieber Vater freilich sieht nicht mehr so jung aus; aber ich mag es gern, wenn Männer aussehen, als wenn sie im Kriege gewesen, als wenn ihre Herzen wohl gepflügt und eingesäet wären. Seine grauen Haare, seine Furchen in der Stirne –die zwei senkrechten, wenn er nachdenkt –der festgeschlossene Mund, die hohlen Wangen scheinen mir in ihrer Art eben so schön als meiner Mutter glatte, ruhige Stirn und der süße Ausdruck ihres Mundes, wie der Anbruch eines Lächelns, als ob das Gesetz der Freundlichkeit jede Linie geformt hätte.

Dann zweitens (vielleicht hätte ich dies auch zuerst nennen sollen) haben wir den »Katechismus«. Tante Else sagt, wir haben keine Idee, Heinz und ich, welch einen Schatz wir daran haben. Freilich, so lange wir ihn lernen mußten, hielten wir ihn nicht für einen so großen Schatz. Aber ich fange jetzt an ihn zu verstehen, besonders seit ich in Wittenberg bei Tante Else gewesen bin, welche mir von den Zweifeln und der Verwirrung erzählte, die ihre Kindheit und Jugend getrübt haben.

Gleich von Anfang an Gott als den Vater kennen gelernt zu haben, der »täglich für uns sorgt,« –der uns reichlich alles gibt, was wir genießen, und das alles aus reiner, väterlicher, göttlicher Liebe und Güte; und den Herrn Jesum Christum, als den Erlöser von allen Sünden, vom Tod und der Gewalt des Teufels; der mich erlöst hat, damit ich Sein eigen sei, –nicht mit Gold oder Silber, sondern mit Seinem heiligen und teuren Blut; und den heiligen Geist, der bei uns bleibt, uns durch das Evangelium beruft und erleuchtet; –alles dies so früh gelernt zu haben, sagt sie, sei der größte Segen, der einem Menschen zu teil werden könne. Dr. Luther selbst versichert, die junge Generation habe keinen Begriff, welch eine Wohlthat es sei, kein finsteres Mißtrauen gegen den guten Gott eingesogen zu haben und mühsam aus dem Herzen reißen zu müssen.

Es war mir, als ob ich Geschichten aus den finstern Zeiten früherer Jahrhunderte lauschte, wenn ich Tante Else von den Tagen ihrer Kindheit in Eisenach erzählen hörte, als Dr. Luther noch ein Knabe war und vor dem Hause unserer guten Großtante Ursula Cotta für Brod zu singen pflegte; als die Mönche und Nonnen, welche hinter den hohen, düstern Klostermauern wohnten, in ihren dunkeln Gewändern mit ernsten Mienen durch die Straßen wandelten, und Tante Else bei dem Gedanken an den Himmel zu zittern begann, weil sie glaubte, er werde wie ein Klostergarten und die Heiligen alle wie Tante Agnes aussehen.

Wie war es möglich, unsere liebe Großtante Agnes so. zu fürchten; –sie, die Gespielin unserer Kindheit, die uns so verzog, wie Mutter sagt, weil sie alles that, was wir wünschten, die sich von uns herumziehen, zu einem Löwen oder Türken machen ließ, wie es uns beliebte, so daß wir uns einbildeten, es mache ihr selbst Vergnügen.

Wie lebhaft erinnere ich mich noch, welche Bangigkeit Heinz und mich überfiel, als man uns ermahnte, recht leise zu gehen und zu sprechen, weil sie krank war; und dann als man uns täglich ein paar Minuten an ihr Bett brachte, wo wir mit unsern Bilderbüchern ganz stille sitzen sollten, weil sie keinen Lärm ertragen konnte. Zuletzt wurden wir ganz feierlich hineingeführt; aber sie konnte uns nicht mehr ansehen, sondern lag ganz still und bleich auf ihrem Bette. Wir streuten Blumen um sie her, und es war uns, wie in der Kirche, zu feierlich zu Mute, um zu weinen, bis endlich die Zeit kam, wo wir unser Abendgebet verrichteten und Mutter uns sagte, Tante Agnes bedürfe unserer Gebete nicht mehr, sondern Gott habe sie im Himmel ganz gut und glücklich gemacht. Heinz sagte, er wollte, daß Gott uns alle zu sich nähme und uns mit ihr gut und glücklich machte. Als wir aber in unsern kleinen Bettchen allein blieben, weinte ich mich selbst in Schlaf. Es war mir ein so trauriger Gedanke, daß Tante Agnes unser nicht mehr bedurfte, und daß wir für sie, die so liebreich und gütig gegen uns gewesen war, nichts mehr thun konnten! Auch fürchtete ich, wir wären nicht liebevoll genug gegen sie gewesen, wir hätten sie oft gequält, mit uns zu spielen, und mehr Lärm gemacht als nötig, darum hätte sie Gott hinweggenommen. Heinz konnte das nicht verstehen. Er war überzeugt, daß Gott zu gütig dazu war; obgleich er auch weinte, schlief er doch sehr bald ein. Es war mir eine große Beruhigung, als meine Mutter zu uns herein kam, was sie immer zu thun pflegte, ehe sie sich zur Ruhe legte, und ich meinen Schmerz an ihrer Brust ausweinen und sagen konnte:

»Wird uns Tante Agnes denn gar nicht mehr nötig haben?«

»Doch, mein Herzenskind!« sagte meine Mutter. »Sie verlangt jetzt nach uns. Sie wartet im Himmel auf uns alle.«

»Also ist sie nicht weggenommen worden, weil wir sie plagten und so viel Lärm machten? Wir haben sie so herzlich lieb gehabt. Und können wir jetzt nichts mehr für sie thun?«

Nun erzählte mir unsere Mutter, Tante Agnes habe hienieden viel gelitten, aber unser himmlischer Vater habe sie heimgeholt; und obgleich wir jetzt nichts mehr für sie thun könnten, brauchten wir doch ihren Namen in unserm Abendgebete nicht auszulassen, da wir immer sprechen könnten:

»Wir danken Dir, lieber. Gott, daß Du unsere gute Tante Agnes heimgeholt hast.«

Dadurch wurden in jener Nacht zwei Wahrheiten mir ins Herz geschrieben, nämlich die, daß es eine Heimat im Himmel gibt, wo Tante Agnes uns erwartet und uns noch ebenso zärtlich liebt wie immer, und daß wir gegen Jedermann so liebevoll und gefällig als möglich sein müssen, und keinen Menschen auch nur auf einen Augenblick betrüben sollen, weil eine Zeit kommen kann, wo er unsere Freundlichkeit nicht mehr braucht.

Es ist für mich, die immer an Tante Agnes denkt, wie sie im Himmel auf uns wartet mit dem zärtlichen, bedeutungsvollen Blicke, womit sie Heinz und mich betrachtete, wenn wir an ihrem Bette saßen, schwer zu begreifen, wie Tante Else sich eine so ganz andere Vorstellung von ihr machen konnte, als sie noch eine Nonne war.

Allein Tante Else meint, ohne Zweifel hätten Heinz und ich mit unserm Quälen, unserm Lärm und unserer Liebe viel zu ihrer Heiligung beigetragen. Ja, Tante Elsens Kinderzeit scheint mir so ferne von uns, wie die Tage der heiligen Elisabeth von Ungarn, die auf der Wartburg lebte, Tante Else fern erschienen. Was hat nicht der Bergmannssohn, den der alte Johann Reineck hier in Eisleben sich noch wohl erinnert, auf seinen Schultern den Berg hinauf nach der Schule getragen zu haben, für uns alle gethan? So vollständig scheinen jene düstern alten Zeiten vorüber. Nicht ein Kloster ist mehr in ganz Sachsen zu finden; die Geistlichen sind alle verheiratet, Schulen in jeder Stadt gegründet, wo, wie Dr. Luther sagt, Knaben und Mädchen mehr vom Christentum lernen, als vor dreißig Jahren die Mönche und Nonnen in allen ihren Klöstern.

Freilich ist die Jugend noch lange nicht so gut und fromm, wie sie sein sollte. Das wissen und fühlen Heinz und ich nur zu wohl und auch unser lieber Vater predigt des Sonntags gar oft darüber. Unsere Mutter sagt zuweilen, sie befürchte, daß wir, die jüngere Generation, schwächlich, selbstsüchtig und weichlich werden könnten, ganz anders als unsere Väter, welche jeden fußbreit Wahrheit zu erkämpfen und gegen Welt, Fleisch und Teufel zu behaupten hatten.

Da antwortet ihr Vater mit ernstem Lächeln, sie brauche dies nicht zu fürchten. Diese drei Feinde seien noch nicht geschlagen und würden der jüngeren Generation noch viel zu thun geben. Außerdem regiert der Papst noch immer in Rom, und der Kaiser bedroht uns eben mit einem Heere, um jetzt nichts zu sagen von den Türken und Anabaptisten, von denen Dr. Luther so oft redet.

Vor zwei Jahren kannte ich die Welt, und ich fürchte sehr, auch mich selbst, noch sehr wenig. Allein in meinem fünfzehnten Jahre machte ich ganz allein einen Besuch bei Tante Chrimhilde und Tante Else, wo ich Vieles lernte, was mich zuerst nicht wenig beunruhigte, was mich aber jetzt, da es gelernt ist, nur um so glücklicher macht, wie dies ja immer mit den Unterweisungen Gottes der Fall ist. Vorher hatte ich meine Heimat nie verlassen, und Heinz, der fort gewesen war und als Knabe natürlich mehr unter fremde Menschen kam, sagte oft, ich verstehe nicht mehr vom wirklichen Leben als ein neugebornes Kind. Aber ich wußte nicht, was er damit meinte.

Ich vermute, daß ich, ohne es zu wissen, mir eingebildet hatte, meine Eltern müßten für alle Menschen, so wie für uns, der Mittelpunkt der Welt sein; ich war dankbar für mein Los in diesem Leben, weil ich fest überzeugt war, daß Niemand es so gut habe wie ich, und meinte, Jedermann müsse derselben Ansicht sein. Da war ich nun nicht wenig überrascht und betrübt, als ich fand, daß andere Menschen mich für arm und bemitleidenswert hielten.

Wir verließen das liebe Pfarrhaus im Walde schon vor vielen Jahren, als Heinz und ich noch Kinder waren. Es lebt nur noch in unserer Erinnerung als eine Art von Eden oder Zauberland. Die dunkeln Fichten und brausenden Bergströme, die grünen Lichtungen, die wilden Blumen und zwitschernden Vögel sind die Heimat aller unserer Träume geblieben, obgleich wir eigentlich überzeugt sind, daß unsere neue Heimat zu Eisleben in ihrer Art ebenso vortrefflich ist. Haben wir denn nicht hinter unserm Hause einen Garten mit mehreren Apfelbäumen und einen großen Weiher und im Hofe einen leeren Schuppen für die Regentage, den besten Schuppen, den es nur geben kann, um Märchen drin zu erzählen oder Experimente zu machen, oder Ueberraschungen von niedlicher Tischlerarbeit mit Heinzens Werkzeugen zu verfertigen? Und ist nicht unser Thal auch mit grünen, waldigen Hügeln umringt? Sieht man nicht des Nachts in den Wäldern den seltsamen Glanz der Hochöfen, gegen welche die Meiler der Köhler im Thüringerwalde nur Spielzeuge sind? Und gibt es überdies nicht schauerliche Höhlen und Gruben, aus welchen von Zeit zu Zeit schmutzige Bergleute heraussteigen, die seltsame, schauerliche Lieder singen, während sie von der Arbeit heimkehren? Ist nicht Eisleben Dr. Luthers Geburtsort? Haben wir nicht eine höhere lateinische Schule hier, welche Dr. Luther gegründet hat, und worin mein lieber Vater den lateinischen Unterricht erteilt? Und hören wir ihn nicht jeden Sonntag predigen?

Mir schien es stets und scheint es noch immer, daß es keinen edlern Beruf geben kann als den meines Vaters, welcher Sonntags den großen Leuten den Weg zum Himmel weist, in der Woche ihre Kinder unterrichtet und sie lehrt, gut und fromm zu werden. Es war ein harter Schlag für mich, als ich erfuhr, daß nicht Jedermann dieser Meinung ist:

Nicht als ob man nicht immer außerordentlich gütig gegen mich gewesen wäre; aber es ging folgendermaßen zu.

Eines Tages kamen Besuche auf Onkel Ulrichs Schloß. Sie lobten mein goldenes Haar, das, wie Heinz sagt, dieselbe Farbe hat, wie das der Prinzessin in den Feenmärchen. Auf Tante Chrimhildens Wunsch, halb geschmeichelt, halb eingeschüchtert, ging ich hinaus, um mit meinen Vettern im Walde zu spielen. Während ich an einem heimlichen Plätzchen saß und Kränze aus Vergißmeinnichten wand, die meine Vettern unten am Bache pflückten, gingen die Damen an mir vorüber. Da hörte ich eine von ihnen sagen:

»Ja, sie ist für eine kleine Schulmeisterstochter sehr anständig und wohlerzogen.«

»Ich kann mir gar nicht denken,« sagte die andere, »woher ein Bürgermädchen –denn die Cottas sind alle bürgerlich, nicht wahr? –solche weiße Händchen und feine Züge geerbt hat.«

»Und arm müssen sie überdies sein,« war die Antwort. »Man sollte meinen, sie brauche gar keine harte Arbeit zu verrichten, wie dies doch ohne Zweifel der Fall ist.«

»Wer war denn ihr Großvater?«

»Nur ein Buchdrucker in Wittenberg.«

–Nur ein Schulmeister! und nur ein Buchdrucker! –

Mein ganzes Herz empörte sich gegen diese verächtlichen Worte. Das also meinten die Leute mit ihren Schmeicheleien? War das die Achtung, welche man in der Welt meinem Vater zollte, ihm, dem edelsten der Männer, welcher fähig war, Kurfürst oder Kaiser zu sein? Ein Gefühl der Bitterkeit überkam mich, das ich für Liebe und gekränkte Gerechtigkeit hielt. Aber Liebe ist wohl schwerlich so bitter oder Gerechtigkeit so heftig.

Ich vergoß keine Thräne, ließ mir auch nicht das geringste anmerken, sondern fuhr fort mit Kränzewinden und verschwor die gottlose hohle Welt. Hatte dies nicht schon längst bei meiner Taufe meine Patin für mich gelobt? Nun erfuhr ich, wie mir dünkte, was dies zu bedeuten hat.

Bei Tante Elsen sollte ich eine andere Erfahrung machen. Wir alle sollten in unserm besten Staate zu einem Jahrmärkte gehen. Die Mieder meiner Basen waren reich mit Edelsteinen verziert, und obschon sie als Bürgermädchen keinen Sammt tragen durften, wie meine Basen auf dem Schlosse, so hatten sie doch Jacken und Röcke von den schwersten seidenen Stoffen, welche Onkel Reichenbach aus Italien und dem Orient mitgebracht hatte.

Mein wollenes Kleid schien freilich sehr einfach und ärmlich dagegen; aber ich machte mir nicht das geringste daraus; meine liebe Mutter und ich hatten es miteinander genäht, sie hatte einige kostbare alte Ueberreste hervorgesucht, um mir eine Taffetjacke daraus zu machen, die wir beide, da sie das prachtvollste war, was ich je getragen, mit großem Wohlgefallen betrachteten. Auch erschien sie mir jetzt nicht minder schön. Meiner Mutter Hand hatte sie berührt, als ich sie am Abend vor meiner Reise anprobierte, und Tante Else hatte gesagt, sie sehe ganz meiner Mutter gleich. Allein meinen Basen und Vettern gefiel sie nicht, das war augenscheinlich, besonders Fritzen und den altern Knaben. Sie sagten jedoch nichts; aber am Morgen vor dem Feste lag ein wunderschönes neues Kleid, ganz dem meiner Cousinen ähnlich, neben meinem Bette, als ich erwachte.

Ich zog es erst mit einer Art von Vergnügen an; aber als ich mich im Spiegel erblickte –es war recht unvernünftig –konnte ich es nicht ertragen. Es schien mir wie ein Vorwurf gegen meine Mutter, mein einfaches stilles Leben und meine ärmliche Heimat zu Eisleben, und so setzte ich mich hin und weinte bitterlich, bis ein leises Pochen an der Thüre mich aufschreckte und Tante Else hereinkam, die mein Gesicht und das schöne neue Kleid zu meiner nicht geringen Beschämung mit Thränen benetzt fand.

»Gefällt es dir nicht, liebes Kind? Fritz hat den Einfall gehabt. Ich fürchtete, es möchte dir nicht angenehm sein.«

»Meine Mutter hielt das alte für gut genug,« sagte ich mit bebender Stimme. »Zu Hause war es gut genug. Es wäre wohl das beste, wenn ich wieder heimginge.«

Tante Else hatte sorgfältig die Thränen von dem schönen Kleide abgewischt; aber bei diesen Worten fing sie selbst an zu weinen und sagte, gerade so würde sie in ihrer Jugend auch gefühlt haben; ich sollte das neue Kleid nur dies eine Mal zum Feste tragen und dann nicht mehr, wenn ich es nicht gerne wollte; ich hätte ganz Recht, zu denken, daß nichts halb so gut sein könne, wie meine Mutter und alles, was sie thut.

So weinten wir mit einander und wurden getröstet, und ich trug das grüne Taffetkleid auf dem Jahrmarkt.

Allein als ich wieder nach Eisleben zurückkehrte, schämte ich mich noch mehr über mich selbst als über das Taffetkleid und die schmeichlerischen Damen auf dem Schlosse. Die liebe, köstliche alte Heimat, ich mochte mir vorhalten, was ich wollte, erschien mir eng und ärmlich, und die Einrichtung alt und' abgenutzt. Und doch konnte ich überall frische Spuren der Aufmerksamkeit und des liebevollen Willkommens entdecken, –der Fußboden war mit frischen Binsen bestreut und eine neue Decke, von den lieben Händen meiner Mutter verfertigt, über mein Bettchen gebreitet. –

Sie merkte bald, daß mir etwas fehlte, und es währte nicht lange, so wußte sie alles, indem ich ihr meine bitteren Lebenserfahrungen mitteilte.

»Dein Vater nur ein Schulmeister,« sagte sie, »und du mit einem neuen Taffetkleide beschenkt! Sind dies alle deine Beschwerden, mein Agneschen?«

»Alle, Mutter!« rief ich aus, »und nur!«

»Ist dein Vater etwas anderes als ein Schulmeister, Agnes?« fragte sie.

»Ich schäme mich dessen keinen Augenblick, Mutter,« versetzte ich; »du wirst das nicht von mir glauben. Ich halte es für eine weit edlere Beschäftigung, Kinder zu unterrichten, als Füchse zu jagen und Ballen von seidenen und wollenen Stoffen zu verkaufen. Aber die Welt däucht mir ungeheuer hohl und verkehrt, und ich mag nichts mehr davon sehen. Mutter, findest du, daß ich unvernünftig war?«

»Ich glaube, liebes Kind, daß du einen Kampf mit Welt, Fleisch und Teufel gehabt hast, und daß es gar keine verächtlichen Feinde sind. Und ich fürchte, du hast sie nicht dahinten gelassen.«

»Aber ist nicht unsers Vaters Beruf edler als alle andern, und unsre Heimat die reizendste in der Welt?« entgegnete ich. »Und ist nicht Eisleben in seiner Art so schön wie der Thüringerwald und so gelehrt wie Wittenberg?«

»Ein jeder Beruf kann edel sein,« versetzte sie; und derjenige, den Gott uns anweist, ist für uns der edelste. Eisleben ist meiner Meinung nach nicht so schön wie die bewaldeten Hügel bei Gersdorf; noch ist Luthers Geburtsort so wichtig wie sein Wohnort, wo er predigt und lehrt und der Einfluß seines frommen Lebens rings umher fühlbar ist. Andere Familien mögen eben so gut sein wie die deinige, wein liebes Kind, aber keine kann besser für dich sein.«

Daraus lernte ich, daß jeder Beruf edel wird, wenn Gott ihn uns überträgt; daß alles deshalb gut ist, weil Gott es uns schenkt, und daß die wahre Zufriedenheit nicht darin besteht, daß wir uns einbilden, wir hätten alles am besten, sondern daß wir glauben, was wir haben, sei für uns das Beste, und Gott dafür danken.

So lernte ich die Welt kennen. Und so lernte ich auch den Katechismus besser verstehen, besonders das Vaterunser und den zweiten Glaubensartikel, welcher von Ihm handelt, der für unsere Sünden gelitten und mit Seinem heiligen und teuren Blute uns erlöst hat.

Eben bin ich von meinem zweiten Besuche in Wittenberg zurückgekehrt, der viel angenehmer war, als der erste, ja außerordentlich angenehm.

Meine größte Freude während meines dortigen Aufenthalts war Dr. Luther zu sehen und zu hören. Seine kleine Tochter Magdalena, welche drei Jahre jünger war als ich, ist vor kurzem gestorben; allein das machte, schien mir, Dr. Luther nur um so liebreicher gegen die jungen Mädchen, »die arme Jungfernschaft,« wie er uns zu nennen pflegt.

In seinen Predigten kam er mir vor wie ein Vater, der mit seinen Kindern redet. Tante Else sagt, er wiederhole oft bei sich selbst den Katechismus zu seiner Freude und Stärkung –der berühmte Doktor Martin Luther!

Ich hatte so viel von ihm gehört und ihn stets als den Menschen betrachtet, der Gott am nächsten ist, an Würde weit über alle Kurfürsten und Kaiser erhaben. Und nun war es meine größte Wonne, ihn in seinem Hause zu sehen, in dem düstern getäfelten Zimmer, mit der Aussicht auf den Garten, wie er so an dem großen Tische im Erker saß und von Zeit zu Zeit von seiner Schreiberei aufschaute, um uns liebreich zuzulächeln, während Frau Luther auf einem Schemel neben ihm nähte und sein jüngstes Kind, die kleine Margaretha, ruhig zu seinen Füßen spielte und sich mit einem Blicke ihres Vaters, den er ihr hin und wieder zuwarf, begnügte.

Ich wollte, ich hätte Magdalena Luther gekannt. Sie muß ein so gutes, liebevolles Kind gewesen sein. Doch das wird im Himmel geschehen.

Meine Verehrung für Dr. Luther ist, däucht mir, ganz anderer Art als die meiner Eltern. Sie kannten ihn während des Kampfes. Wir kennen ihn blos als Sieger, gleichsam mit der Palme in der Hand.

Meine allerbeste Freundin aber in Wittenberg ist Tante Thekla. Niemand möchte ich lieber gleichen als ihr. Sie versteht einen, wie meine Mutter, ohne Worte. Wahrscheinlich weil sie so viel gelitten hat. Tante Else hat mir von dem schrecklichen Verluste erzählt, den sie in ihrer Jugend erfahren hat.

Ach meine lieben Eltern haben Schweres durchgemacht; aber ihr Kummer erreichte sein Ende schon in diesem Leben, während Tante Theklas Schmerz erst in jener Welt aufhören wird. Doch ist es, als ob sie alle, jedes in seiner Weise, eine eigentümliche Weihe dadurch erlangt hätten. Die lieben Eltern, die liebe Tante und auch Dr. Luther erinnern mich an die Menschen, welche die Gabe besitzen sollen, verborgene Quellen zu entdecken, damit die andern Leute wissen, wo sie die Brunnen graben sollen. Kann der Kummer allein die Gabe erteilen, die verborgenen Quellen des Herzens aufzufinden? Dann ist es wohl der Mühe wert zu leiden. Nur einen Kummer oder zwei vermöchte ich, glaube ich, nicht zu ertragen!

Doch unser Heiland hat, wie die Mutter sagt, alle Gaben in Seiner Hand; und »die beste aller Gaben,« (womit die gröbsten Werkzeuge die feinste Arbeit ausführen können) ist » Liebe!« Und diese Gabe kann ein jedes von uns haben ohne Maß.


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