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XV.
Elsens Geschichte.

Im August 1516.

Ja, unser Gretchen ist ganz gewiß ein merkwürdiges Kind.

Obgleich sie noch nicht zwei Jahre zählt, kennt sie uns doch alle mit Namen. Alle außer mir beherrscht sie. Ich versage ihr manches, was sie mit Schreien erlangen will; nur nicht, wenn Gottfried zugegen ist, der sie leider keinen Augenblick betrübt sehen kann, weil er, wie er sagt, durch eine grobe Wärterin mürrisch gemacht worden, meint, die ganze Kindererziehung bestehe darin, den Widerspruch zu vermeiden. Selbst Christoph, welcher sonst mit großer Verachtung auf die Kleinen herabsah, läßt sie ganz geduldig auf seiner Schulter reiten. Doch am liebsten sehe ich sie auf dem Schoße meines blinden Vaters sitzen, und sein Gesicht mit zärtlicher, mitleidiger Ehrfurcht streicheln, als ob sie wüßte, daß ihm etwas fehlt. Ich habe sie auch Fritzens Namen gelehrt, wenn ich ihr die Locke von seinen Haaren zeige, welche ich trage, und lasse sie Evas Bild küssen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß diese mir so teuern Wesen verloren oder tot für sie sein sollen. Allein ich fürchte, sie verwechselt Evas Bild und das der heil. Jungfrau, vor dem ich sie lehre sich zu neigen und das Zeichen des Kreuzes zu machen; denn zuweilen will sie das Bild der Mutter Gottes küssen und versucht vor Evas Bild mit ihren kleinen Fingerchen sich zu bekreuzen. Nun, sie wird sie nach und nach schon besser unterscheiden lernen. Und sind denn nicht Eva und Fritz die Heiligen und Schutzpatrone unserer Familie? Ich glaube gewiß, daß der Segen ihrer Gebete auf uns ruht.

Denn wie gesegnet ist nicht unsere Familie seit neuerer Zeit! Das Gesicht unserer guten Mutter ist so heiter und hat seine frühere Ähnlichkeit mit der Gnadenmutter wieder gewonnen. Und ich bin so glücklich, so überströmt von Glück. Und dies macht mich auch frömmer, als ich sonst war.

Ich meine nicht das häusliche Glück allein, sondern jenes beste aller Güter, das ich fand, noch ehe ich wußte, daß Gottfried an mich dachte: die Gewißheit von Gottes Liebe gegen mich, dieser herrlichste Reichtum, ohne welchen all unsere Reichtümer nur Sorgen wären; die in Christo Jesu, unserm Herrn, frei dargebotene Gnade Gottes.

Gottfried ist besser, als ich je gedacht hätte. Vielleicht wird er auch wirklich jedes Jahr besser; jedenfalls wird er mir immer teurer.

Bald wird Ulrich Chrimhilden heimführen. Jetzt macht er noch einen Besuch bei Franz von Sickingen und seinen übrigen Verwandten in den Rheinlanden, um alles für seine Hochzeit vorzubereiten. Voriges Jahr brachten Chrimhilde und Atlantis einige Wochen bei seinen Verwandten in dem alten Schlosse im Thüringer Walde bei Eisenach zu. Nach der Schwestern Beschreibung muß es wohl ein wildes Leben so mitten im Walde auf einer einsamen Felsenburg sein, von der man nur wenige Bauernhütten gewahrt, und wo man sich die schauerlichsten Sagen von wilden Jägern, Elfen und Kobolden, die in der Nachbarschaft hausen sollen, erzählt. Mir dünkt, es müsse dort fast so öde sein, wie in der Wüste, wo Johannes der Täufer von Heuschrecken und wildem Honig lebte; aber Chrimhilde fand es reizend. Sie machte auch Bekanntschaft mit einigen Bauern, die sie für einen Engel zu halten schienen, –eine Meinung, die, wie Atlantis sagt, von Ulrichs altem Onkel und Tante vollständig geteilt wird, –von dem Bräutigam gar nicht zu reden. Anfangs war die alte Tante Hermentrud ein wenig steif und zurückhaltend, nachdem jedoch der Schönbergsche Stammbaum sorgfältig geprüft und richtig erfunden worden, hielt es die alte Dame für erlaubt, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, indes der alte Ritter mit großer Höflichkeit versicherte, er habe sogleich Chrimhildens Stammbaum auf ihrem Antlitze gelesen.

Ulrich sagt auch, ein großer Vorteil seiner einsamen, stark befestigten Burg sei der, daß er jederzeit Dr. Luther, der neuerdings von vielen Priestern heftig angefeindet wird, einen Zufluchtsort darin anbieten könne.

Dr. Luther ist sehr freundlich gegen unser Gretchen, das er getauft hat. Er sagt, kleine Kinder verstehen den lieben Gott oft besser, als die meisten Doktoren der Theologie.

Thekla hat zum erstenmal erfahren, was Kummer heißt. Ihr kleines Findelhündchen Nix ist gestorben. Das arme Geschöpf war einige Tage krank gewesen, endlich lag es mehrere Stunden wie von innerlichen Krämpfen zitternd da, allein sobald es Theklas Stimme hörte, erglänzten seine matten, gläsernen Augen, und es wedelte schwach mit dem kleinen Schweife. Endlich starb es, und Thekla wollte sich gar nicht trösten lassen, sondern saß allein und weinte bittere Thränen. Erst als Christoph im Garten unter dem alten Birnbaum, wo ich sonst im Sommer zu sitzen pflegte, für Nix ein Grab grub, wurde sie ein wenig ruhiger. Sie über ihren Kummer auszulachen, half gar nichts. Wenn man es versuchte, verzog sie ihren Mund zum Weinen und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Atlantis hielt ihr ernstlich vor, daß es für ein zwölfjähriges Mädchen Pflicht sei, solche Kindereien zu lassen, und selbst unsere sanfte, gute Mutter ermahnte sie liebevoll,, und sagte, als Thekla auf Dr. Luthers Frage nach ihrem Liebling mit einem Strom von Thränen geantwortet hatte: »Kind, wenn du so um einen Hund trauerst, was wirst du thun, wenn du einen wirklichen Kummer zu tragen hast?«

Mein Dr. Luther schien Thekla besser zu verstehen, als wir alle. Er sagte, sie sei ein Kind und ihr kindlicher Kummer sei für sie eben so wichtig, als die unsrigen für uns; daß uns vom Himmel herab vielleicht der Stürz eines Reiches eben so unwichtig erscheinen würde, als jetzt der Tod von Theklas kleinem Hündchen; und daß, wenn die Engel, welche vom Himmel auf uns herniederschauen, unsre kleinen Sorgen und Freuden nicht verachten, wir auch den Gram der Kleinen nicht gering achten sollten. Sein Mitgefühl flößte Thekla solches Vertrauen ein, daß sie zu ihm hin schlich, seine Hand faßte und ihn mit ernsthaftem, bedeutungsvollem Blicke fragte: »Wird Nix am jüngsten Tage auch auferstehen? Wird es in der andern Welt auch Hunde geben?«

Die Meisten unter uns erschraken über diesen unehrerbietigen Einfall; allein Dr. Luther schien ihn nicht so anzusehen. Er sagte: »Wir wissen von der zukünftigen Welt noch weniger, als diese Kleine, oder,« auf mein Gretchen deutend, »als dieses Kind von den Reichen dieser Welt. Aber das ist gewiß, die zukünftige Welt wird keine leere, leblose Einöde sein. Seht, wie Gott diese vergängliche Welt so voll und so herrlich gemacht hat! Wie viel schöner noch muß da nicht erst die ewige Heimat werden. Gott wird einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen. Alle giftigen, bösartigen, schädlichen Geschöpfe werden daraus verbannt sein, so wie alles, was unsere Sünde verderbt hat. Alle Geschöpfe darin werden nicht nur harmlos, sondern auch lieblich und froh sein, so daß wir mit ihnen spielen können. Der Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter und ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken, sagt der Prophet Jesaias. Warum sollte es also nicht auch kleine Hündchen auf der neuen Erde geben, mit einem Felle so glänzend wie Gold und Edelsteine?«

Von diesem Augenblicke an gab es für Tekla keinen Gottesgelehrten mehr wie Dr. Luther.

 

Torgau, 10. November 1516.

Die Pest ist in Wittenberg. Wir sind alle hieher geflüchtet, die Universität ist zerstreut, so wie auch viele der Augustinermönche.

Dr. Luther bleibt im Kloster zu Wittenberg. Wir haben die Abschrift eines seiner Briefe an den ehrwürdigen Vater Johann Lang, Prior des Klosters zu Erfurt, gelesen. Er ist vom 26. Oktober und beginnt: Gott schenke Euch Gesundheit! Ich hätte wohl zwei Schreiber nötig; denn ich thue den ganzen Tag nichts als Briefe schreiben, und weiß deshalb nicht, ob ich nicht oft dasselbe wiederhole. Ihr werdet ja sehen.

»Ich bin Lektor des Klosters; Vorleser bei den Mahlzeiten, soll täglich in dem Kirchensprengel predigen; ich bin Studiendirektor, Vikar (d. h. zehnfacher Prior), Inspektor der Fischteiche zu Liskau, Verfechter der Angelegenheit der Herzberg zu Torgau; über Paulus und die Psalmen Vorlesungen haltender Professor, neben dem, was ich eben von meiner unaufhörlichen Korrespondenz gesagt habe.

»Selten reicht mir die Zeit, meine Stundengebete herzusagen, meiner besonderen Versuchungen von der Welt, dem Fleisch und dem Teufel gar nicht zu erwähnen. Seht! dies ist meine Muße!

»Was Bruder Metzel betrifft, so wißt Ihr, glaube ich, schon meine Ansicht. Doch will ich sehen, was sich thun läßt. Wie könnt ihr meinen, ich habe Platz für all eure Sybariten und Sardanapale? Wenn Ihr sie schlecht erzogen habt, so ertragt auch die Verwöhnten mit Geduld. Ich habe genug unnütze Brüder; wenn überhaupt für ein geduldiges Herz einer unnütz sein kann. Ich bin überzeugt, daß die Unnützen nützlicher werden können, als die, welche jetzt am nützlichsten sind. Darum traget sie noch ein Weilchen.

»Ich glaube, ich habe Euch schon über die Brüder geschrieben, die Ihr mir geschickt habt. Einige davon sandte ich auf ihre Bitten zu Magister Spangenburg, um sie aus der verpesteten Luft zu bringen. Für zwei Brüder aus Köln fühlte ich solche Teilnahme und fand sie auch so begabt, daß ich sie behielt, obgleich mit großen Kosten. Es werden gegenwärtig aus unsern geringen Mitteln zweiundzwanzig Priester, zweiundvierzig Jünglinge und an der Universität zweiundvierzig Personen unterhalten. Doch der Herr wird's verseh'n.

»Ihr habt gestern Eure Vorlesungen über die Sprüche Salomonis begonnen. Morgen fange ich die Epistel an die Galater an, obgleich ich fürchte, daß ich wegen der Pest vielleicht nicht werde fortfahren können. Die Pest hat schon zwei oder drei von uns hinweggerafft, doch nicht alle an einem Tage. Der Sohn unseres Nachbars Faber, der gestern noch gesund war, ist jetzt schon tot und ein anderer ist angesteckt. Was soll ich sagen? Sie ist freilich hier und beginnt mit großer Grausamkeit zu wüten, vorzüglich unter der Jugend. Ihr wolltet mich und Magister Bartholomäus überreden, zu Euch zu flüchten. Allein warum sollte ich fliehen? Ich hoffe, die Welt wird nicht zusammenfallen, wenn Bruder Martin fiele. Wenn die Pest sich verbreitet, werde ich die Mönche durch's Land zerstreuen. Was mich anbelangt, so bin ich hieher geschickt worden, und mein Gehorsam als Mönch erlaubt mir nicht, zu entfliehen; denn was er einst befahl, das verlangt er noch jetzt. Nicht als ob ich den Tod nicht fürchtete (ich bin nicht der Apostel Paulus, sondern blos der Ausleger des Apostels); aber ich hoffe, der Herr wird mich von aller Furcht erlösen.

»Lebt wohl und gedenkt unser in dieser Zeit der Heimsuchung Gottes, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit.«

Dieser Brief hat mich und viele andere erquickt. Ja, ich hoffe, daß Gott uns, wenn es unsere Pflicht gewesen wäre, zu bleiben, wie ihm den Mut dazu gegeben hätte. Aber wie der Ausdruck seines Mutes uns stärkt, so nicht minder das Geständnis seiner Furcht; sie schlägt nicht einmal seine Heiterkeit darnieder. Es ist nur die natürliche Bangigkeit vor dem Sterben, die auch ich nicht überwinden kann. Gewiß wird Gott, wenn der Tod naht, auch von mir, wie sicher von ihm, die Furcht vor dem Tode hinwegnehmen.

Diese Zeit erinnert mich wieder lebhaft an die Begebenheiten, als die Pest uns in Eisenach heimsuchte.

Wir haben seitdem mehrere Verluste erlitten, wenn ich Eva und Fritz verloren nennen darf. Aber wie reich bin ich seitdem geworden! Mein Gatte, unser Gretchen und all der äußere Wohlstand! Aller Druck der Armut und der Nahrungssorgen gehoben, und so viele Mittel, um Andern beizustehn! Und doch, bin ich denn nun völlig frei von Sorgen, wie ich es sein sollte? Bin ich nicht zu Zeiten noch mehr damit belastet!

Als ich mich verheiratete und meinem Gottfried jede Verlegenheit mitteilen konnte, und in den Besitz eines Vermögens kam, das mir unerschöpflich schien (gegen unsere vorige Armut), dachte ich, Sorge würde sich mir nie mehr nahen.

Und ist dem nun so? Ist nicht der Besitz selbst zur Sorge geworden? Wenn ich von dem schrecklichen Türkenkrieg höre, von der Aufregung und dem Aufruhr an verschiedenen Orten, und schaue dann auf unser schönes Haus, unsere Gärten und Felder, dann kommt mir der Gedanke, wie schrecklich es wäre, wenn ich oder Gretchen wieder in Armut versenkt würden; und so ist der Reichtum selbst zur Sorge geworden. Dies erinnert mich daran, was mir ein frommer Mann einmal gesagt hat, daß das Wort, welches in der Geschichte Abrahams mit reich übersetzt ist, an andern Stellen der Bibel mit schwer übersetzt sei, so daß man also anstatt: »Abraham verließ Aegypten reich an Herden, Silber und Gold,« lesen könnte, » schwer an Herden, Silber und Gold.«

Ja, wir pilgern nach der heiligen Stadt, wir sind auf der Flucht vor der argen Welt, und nur zu oft hindert der Reichtum unsere Fortschritte.

Ich denke daher, daß es gut für uns ist, in diesem kleinen, unscheinbaren Häuschen zu wohnen, wo wir eine Zuflucht gefunden haben, Gottfried, Gretchen und ich. Die Dienstboten sind an andern Orten untergebracht; und es erleichtert mir das Herz, zu sehen, wie gut wir den Luxus entbehren können, der anfing, uns zum Bedürfnis zu werden. Da fallen mir Dr. Luthers Worte ein: »Der Geizige genießt, was er hat, eben so wenig, als das, was er nicht hat. Er kann sich nicht einmal des Sonnenscheins erfreuen. Er bedenkt nicht, welch' herrliche Gabe das Licht, welch' unbeschreiblich großer Schatz die Sonne ist, die umsonst die ganze Welt erleuchtet.«

Ja, die allgemeinsten Gaben Gottes sind auch die köstlichsten; und seine köstlichen Gaben –wie das Leben selbst –wurzeln nicht in sich selbst. Doch sind sie nicht ohne Wurzel; sie sind festgewurzeltem dem Felsgrund seiner unwandelbaren Liebe. Es thut gut –sogar durch eine so schwere Heimsuchung wie die Pest –an die Unsicherheit aller irdischen Güter erinnert zu werden. »Wenn das Schiff selbst,« sagt Gottfried, »dem Schiffbruch ausgesetzt ist, wer kann dann für die Ladung stehen?« Von nun an will ich zufrieden sein mit der einzigen Versicherung, welche, wie Luther sagt, Gott uns geben will, mit der Versicherung seiner Nähe und Fürsorge: »Ich will dich nicht verlassen noch versäumen.«

 

Wittenberg, im Juni 1517.

Wir sind wieder zu Hause; und Gott sei Dank! unsere beiden Familien sind unvermindert, ausgenommen durch den Tod meiner jüngsten Schwester, die noch ein Säugling war, als wir von Eisenach hieher zogen. Auch die Professoren und Studenten sind zurückgekehrt. Dr. Luther, welcher die ganze Zeit über hier geblieben ist, predigt klarer und gewaltiger als je.

Die Stadt ist in ihrer Meinung über ihn sehr geteilt. Dr. Tetzel, der päpstliche Kommissär für den Ablaßhandel, hat sein rotes Kreuz seit einigen Monaten in Jüterbock und Zervst, unweit Wittenberg, aufgepflanzt und den Verkauf der Ablaßzettel angekündigt.

Scharen von Leuten aus hiesiger Stadt, vermutlich durch die Pest um das Heil ihrer Seelen besorgt gemacht, sind zu Tetzel gegangen und mit den erkauften Ablaßzetteln zurückgekehrt.

Ich habe nie begreifen können, was der Ablaß eigentlich gibt. Christoph erzählt schreckliche Geschichten, wie Dr. Tetzel und seine Freunde das dafür bezahlte Geld in den Wirtshäusern verprassen; und Gottfried sagt: »Der Ablaß ist ein Handel zwischen den Priestern, die das Geld, und den Leuten, welche die Sünde lieben.«

Gestern Morgen sah ich zum erstenmale einen solchen Ablaßzettel. Unsere Nachbarin, die Frau eines Müllers, dessen Gewicht in der Stadt ziemlich verdächtig ist, war in großer Aufregung und Entrüstung, als ich zu ihr kam, um Mehl zu kaufen.

»Seht!« sagte sie, »dieser Dr. Luther will weiser sein als der Papst. Er weigert sich, meinem Manne das heil. Abendmahl zu reichen, wenn er sich nicht bekehre und ihm beichte, obgleich er dieses Zeugnis in der Hand hatte.

Sie gab ihn mir und ich las ihn. Ganz gewiß, so verschieden auch das Urteil der Gottesgelehrten über den Wert des Ablasses sein mag, so ist in Dr. Tetzels Ausdrücken wenigstens keine Zweideutigkeit noch Unsicherheit.

»Ich,« heißt es auf dem Zettel, »spreche dich los von allen Ausschweifungen, Sünden und Verbrechen, die du begangen hast, so groß und schwer sie auch sein mögen. Ich erlasse dir die Schmerzen, die du dafür im Fegfeuer zu erleiden gehabt hättest. Ich gestatte dir wieder die Teilnahme an den Sakramenten. Ich nehme dich aufs neue in den Schoß der Kirche auf. Ich stelle den Zustand der Unschuld und Reinheit wieder in dir her, worin du durch deine Taufe standest; so daß, im Augenblick deines Todes, das Thor, durch welches die Seelen an den Ort der Qual gehen, vor dir verschlossen, und hingegen die Pforten des Paradieses dir geöffnet sein sollen. Und wenn du nicht bald abgerufen wirst, soll diese Gnade unverändert bleiben bis an deinen Tod.

»Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.

Frater Johann Tetzels eigenhändige Unterschrift

»Nun denkt einmal,« sagte die Nachbarin, »wenn der Papst selbst meinem Franz den Eintritt in das Paradies verspricht, will Dr. Luther ihn nicht einmal dem Altar der Kirche sich nahen lassen. Und wenn man noch dazu eine so große Summe dafür bezahlt hat; denn der Mönch muß meinen Mann für viel reicher gehalten haben, als er ist, sonst hätte er von armen, sich abplagenden Leuten, wie wir, kein Gold verlangt.«

»Wenn aber die Engel an den Pforten des Paradieses Luthers Ansicht wären?« wendete ich ein, »wäre es nicht besser, dies hier schon zu erfahren?«

»Das ist unmöglich,« versetzte sie. »Haben wir nicht des heil. Vaters eigenes Wort dafür? Und haben wir nicht einen ganzen Goldgulden dafür bezahlt? Das kann doch nicht vergeblich sein.«

»Werft den nächsten Gulden in Eure Wage, anstatt in Dr. Tetzels Kasten,« sagte lachend ein Student, der ihre lauten, zornigen Worte gehört hatte. »Er wird schwerer wiegen mit Euerm Mehl, als gegen Eure Sünden.«

Ich ließ sie den Streit allein miteinander ausmachen.

Gottfried sagt, es sei wahr, daß Dr. Luther im Beichtstuhl der Stadtkirche viele seiner Beichtkinder ernstlich gewarnt habe, auf diese Ablaßzettel zu bauen, und daß er sich entschieden geweigert habe, irgend Jemanden zum heiligen Abendmahl zuzulassen, der nicht seine Sünden bekannt und versprochen habe, davon abzulassen, mochte er mit Ablaßzettel versehen sein oder nicht.

Voriges Jahr sagte er in seiner Predigt über die zehn Gebote, daß Gott dem Reuigen seine Sünden ganz umsonst aus freier Gnade verzeihen wolle, und daß man die Vergebung mit nichts, und am allerwenigsten mit Geld erkaufen könne.

 

Wittenberg, 18. Juli 1517.

Die ganze Stadt ist heute in Aufregung durch die Predigt, welche Dr. Luther gestern in der Schloßkirche vor dem Kurfürsten gehalten hat.

Es war eine ungeheure Versammlung, aus dem Hofe, den Studenten und Stadtleuten bestehend.

Jedes Kind, der unwissendste Bauer sogar, konnte das Wort des Redners verstehen. Der Kurfürst hatte sich von dem Papste zum Vorteil seiner Kirche besondern Ablaß verschafft; allein Dr. Luther kümmerte sich nicht im Geringsten darum. Er sagte, die heilige Schrift verlange nirgends Geldstrafen oder Bezahlung für unsere Sünden. Gott gibt und vergibt freiwillig und umsonst aus unaussprechlicher Gnade; und legt dem Begnadigten keine andre Pflicht auf, als aufrichtige Buße und wahre Bekehrung des Herzens, den ernsten Entschluß, das Kreuz Christi auf sich zu nehmen, und so viel als möglich Gutes zu thun. Er behauptete auch, es wäre besser, freiwillig Geld zum Bau der Petrikirche in Rom zu geben, als einen Handel mit Ablaß zu treiben; daß es Gott viel wohlgefälliger sei, wenn man den Armen Gutes thue, als wenn man diese Ablaßzettel kaufe, die keinen andern Nutzen haben, als höchstens rein kirchliche Strafen zu erlassen.

Als wir zusammen aus der Kirche gingen, sagte Gottfried:

»Endlich ist der Schlachtruf erschallt! Der Wolf hat Dr. Luthers eigene Herde angefallen, und der Hirte ist wach. Der Schlachtruf ist erschallt, Else, aber die Schlacht hat kaum erst begonnen.«

Als wir unserer Großmutter die Predigt wiederholten, murmelte sie leise:

»Dies klingt mir wie eine alte Geschichte aus meiner Kindheit. Habe ich nicht vor einem halben Jahrhundert ähnliche Worte in Böhmen gehört? Und habe ich nicht gesehen, wie die Lippen, die sie aussprachen, mit Feuer und Schwert zum Schweigen gebracht wurden? Weder Ihr noch Dr. Luther wisset, wohin Ihr geht. Gott sei Dank, daß ich bald zu dem kommen werde, der um solcher kühnen Worte willen den Tod erlitt! Gott sei Dank, daß ich sie noch einmal hören darf, ehe ich sterbe. Ach! ich habe lange an diesen Worten, wie überhaupt an Allem gezweifelt; wie konnte ich auch glauben, daß ein paar geächtete Männer Recht hätten gegen die ganze Kirche. Allein da diese alten Worte nicht können zum Schweigen gebracht werden, sondern immer wieder von den Toten erstehen, so bin ich überzeugt, daß sie Leben und Wahrheit, ja ewiges Leben enthalten müssen. Kinder,« sagte sie zuletzt, »sagt mir, wenn Dr. Luther wieder predigt; ich möchte ihn hören, ehe ich sterbe, damit ich Eurem Großvater sagen könnte, wenn ich ihn wiedersehe, daß die alte Wahrheit nicht ausgestorben ist. Ich glaube, es wird ihm neue Freude geben, selbst vor Gottes Thron.«

 

Wittenberg, im August 1517.

Christoph kam soeben von Jüterbock zurück. Dort sah er einen großen Haufen Reisig, den Dr. Tetzel auf dem Marktplatz hatte anzünden lassen, um, wie er sagte, »die Ketzer darauf zu verbrennen.«

Wir lachten, als er dies erzählte, und über die wütenden Drohungen und Verwünschungen, welche Tetzel von der, seinem eisernen Geldkasten gegenüberstehenden Kanzel gegen Luther ausgestoßen hat. Allein unsere Großmutter sagte: »Das ist kein Scherz, Kinder! Das haben sie gethan und werden es wieder thun!«


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