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Wittenberg 15. April 1521.
Dr. Luther ist fort. Wir sind wie eine ihres Vaters beraubte Familie.
Diesen Morgen waren die Professoren, die angesehensten Bürger und eine große Schar von Studenten vor dem Thore des Augustinerklosters versammelt, um ihm Lebewohl zu sagen. Gottfried Reichenbach stand nahe dabei, als er in den Wagen stieg, und hörte ihn mit bebender Stimme zu Melanchthon sagen: »Wenn ich nicht wiederkehren, wenn ich von meinen Feinden getötet werden sollte, o mein Bruder, so höre nicht auf zu lehren und fest bei der Wahrheit zu beharren! Arbeite an meiner Statt; denn ich werde jetzt nicht arbeiten können. Wenn nur Du dem Leben erhalten wirst, so thut es nichts, wenn ich auch umkomme.«
Und so fuhr er fort. Wenige Minuten nachher sahen wir, die wir vor der Thüre seiner warteten, ihn vorbeifahren. Er vergaß nicht, Elsen und ihren Kleinen zuzulächeln und unserm blinden Vater ein Wort des Abschieds zuzurufen. Allein es lag eine so ernste Entschlossenheit in seinen Zügen, daß unsere Herzen von Sorge und Angst erfüllt wurden. Als der Vorreiter mit dem kaiserlichen Banner und hierauf Dr. Luthers Wagen um die Ecke unserm Gesicht entschwunden waren, murmelte Großmutter, deren Lehnstuhl wir vor die Thüre gestellt hatten, damit sie ihn im Vorbeifahren sehen könnte, vor sich hin:
»Gerade mit einem solchen Blick gingen sie in meiner Jugend nach dem Schaffot, in den Märtyrertod.«
Ich sah nur wenig, denn meine Augen waren vom Weinen ganz getrübt; und als Großmutter diese Worte sprach, konnte ich's nicht länger aushalten und eilte hinauf in mein Zimmer, wo ich bis jetzt geblieben bin. Mutter und Else und die Andern alle sagen, ich wisse meine Gefühle gar nicht zu beherrschen, und ich fürchte, sie haben Recht. Aber es scheint mir fast, als ob alle, an die mein Herz sich lehnen möchte, mir entzogen würden. So zuerst Eva. Sie verstand mich stets und half mir, mich selbst zu verstehen. Sie lachte nicht über meine Zweifel und Verlegenheiten, als ob es nur Kindereien wären, hielt meine Uebereilungen nicht für üble Laune, und kam meinen ungeschickten Versuchen, recht zu thun, zu Hilfe. So verschieden sie von mir war, –(verschieden wie ein Engel von dem armen, verblendeten Riesen Christophorus in Elsens alter Legende) ließ sie sich doch stets zu mir herab, sah meine Schwierigkeiten von meinem Standpunkte aus, und half mir so darüber hinweg, während die Andern sie von oben herab ansehen und sich verwundern, wie man über solche Kleinigkeiten bekümmert sein könne. Nicht als ob meine liebe Mutter oder Else stolz wären, oder auf irgend jemand herabsehen wollten; aber Else ist so selbstvergessend, ihr ganzes Leben ist so mit dem der andern verwoben, daß sie gar nicht weiß, wie viel eigenwilligere Naturen zu kämpfen haben. Ueberdies gehört sie ja nicht mehr zu unserem engsten Familienkreise. Unsere Mutter ist so sanft, der Gedanke, welchen Kummer das Leben mit all seinen Wechselfällen mir bringen kann, macht ihr bange, wenn schon Kleinigkeiten mich so lebhaft zu erfreuen oder zu betrüben vermögen. Ich weiß gewiß, daß sie oft viel mehr Teilnahme fühlt, als sie mir zu zeigen wagt; aber sie möchte mich gegen die Prüfungen wappnen, welche, wie sie glaubt, ganz gewiß kommen müssen, indem sie mich ermahnt, in Kleinigkeiten weniger heftig und leidenschaftlich zu sein. Aber ich fürchte, ihre Mühe ist vergeblich. Ich glaube, ein Jedes muß auf seine eigene Weise leiden, und wem Gott ein tiefes Gefühl für Freude und Schmerz gegeben hat, der kann diese Tiefe nicht ausfüllen und sagen: »So tief will ich fühlen und nicht weiter.« Die Fluten sind da, –und bald werden sie den schwachen Damm durchbrechen und wieder in ihrem alten Lauf dahinbrausen, und bis dies geschehen, werden sie überfließen. Eva pflegte zu sagen, daß unsere Rüstung mit uns wachsen, unsere Kraft mit den Kämpfen zunehmen müsse; und daß es nur einen Schild gebe, der dies thue, der Schild des Glaubens, eines lebendigen, täglichen Vertrauens auf einen lebendigen, allgegenwärtigen Gott.
Allein Eva verließ uns. Dann starb Nix. Wenn ich jetzt ein Kind über einen Hund trauern sähe, wie ich damals über Nix trauerte, würde ich mich wahrscheinlich eben so sehr verwundern, wie die andern über mich. Allein Nix war nicht nur ein Hund für mich. Er war für mich Eisenach und meine Kindheit; eine ganze Welt der Liebe und Träume war mir mit Nix gestorben.
Für alle Uebrigen war ich ein kleines, ungestümes, vierzehnjähriges Mädchen; aber Nix erkannte in mir seine Gebieterin und Beschützerin, sein Alles. Wochenlang konnte ich mich nicht entschließen, zur Hauptthüre einzugehen, wo er sonst mit seinen klugen Augen auf mich zu warten und mit fröhlichem Gebell mir entgegen zu springen pflegte, sondern schlich leise durch das Gartenpförtchen ins Haus.
Und dann war es auch das erstemal, daß mir der Tod nahe trat, und seine schreckliche Macht war darum nicht vermindert, daß ihr Schatten zuerst für mich auf ein treues Hündlein fiel. Ein dunkles Gefühl überkam mich, daß das Leben, welches mir immer aufwärts durch einen goldenen Nebel zu unbegreiflich herrlichen, sonnigen Höhen zu steigen schien, nicht in diesen Höhen, sondern in einem finstern, unermeßlichen Abgrund ende, und daß, welches auch sein Lauf sein mag, kein Zweifel, keine Unsicherheit über seinen Schluß obwalten könne, sondern gewißlich, augenscheinlich und ohne Ausnahme mit dem Tode enden müsse.
Ich vermochte niemanden zu sagen, was ich fühlte. Wie kann man ein Labyrinth begreifen, ehe man hindurch gegangen ist? Ja, ich wußte nicht einmal, daß es ein Labyrinth war. Ich wußte nur, daß mir alles in trübem Lichte von einem dunkeln Schatten bedeckt schien.
In dieser Zeit geschah es, daß Dr. Luther mit mir von der andern Welt nach dem Tode sprach, welche Gott gewiß viel schöner und herrlicher machen wird, als diese; eine Welt, in welche die Schatten des Todes nie einzudringen vermögen, weil sie im ewigen Sonnenschein liegt, jenseits des Todes, so daß alle Schatten hier herüber fallen. Es war um die Zeit meiner ersten Kommunion, und ich sah Dr. Luther oft und hörte ihn predigen. Ich sprach nicht viel mit ihm, aber er fachte ein Licht in meiner Seele an, das ungeachtet all meiner Schwächen und Untreue doch nie erlöschen wird.
Er lehrte mich, den lieben Vater im Himmel und den freiwilligen, aber unvergleichbaren Dulder, unsern gnadenreichen Erlöser kennen, der sich selbst für unsere Sünden, ja auch für die meinigen dahingegeben hat. Er machte mir begreiflich, daß Gott mich viel besser versteht, als alle Menschen, weil die Liebe immer versteht, was andere fühlen, also auch die größte Liebe am besten versteht, und Gott die Liebe selbst ist.
Zuweilen sprach ich mit Elsen ein wenig über diesen Gegenstand, doch nicht oft. Else und die andern betrachten mich immer noch als ein Kind, weil ich die Jüngste bin, und lange nicht so viel Selbstbeherrschung habe, als ich sollte. Fritz verstand mich am besten, wenigstens konnte ich mich gegen ihn am offensten aussprechen, ich weiß nicht warum? Vielleicht gibt es Herzen, die einen natürlichen Einklang haben, gerade so wie einige Geräte vibrieren, wenn ich eine gewisse Saite auf meiner Laute anschlage, während sonst nichts im ganzen Zimmer davon berührt wird. Es kann auch sein, daß der Kummer solche Tiefen in das Herz gräbt, und einen Kanal in die Tiefen anderer Herzen eröffnet. Und Fritz hat tiefen Kummer gehabt. Worin er bestand, weiß ich nicht genau, und um alle Welt möchte ich nicht neugierig darnach forschen. Wenn es ein geheimes Gemach in seinem Herzen gibt, das er Niemandem erschließen mag, wie sollte ich nicht, wenn ich merkte, daß er mit seinen Gedanken drin verweilt, die Augen abwenden und mich so sachte wegschleichen, damit er nie erfahre, daß ich es aufgefunden?
Doch ich weiß, daß das innerste Heiligthum seines Herzens nicht ein finsterer Raum des Todes ist, sondern ein heiliger Tempel voll Sonnenschein, denn Gott wohnt darin.
Stundenlang haben Fritz und ich von Dr. Luther mit einander gesprochen, und von dem, was wir ihm verdanken. Für Fritz hat er vielleicht noch mehr gethan, als für mich, weil er mehr gelitten hat. Es kommt mir vor, als ob wir, und Tausende in der Wett mit uns, vor einem Altarbilde unseres Heilandes angebetet hätten, das vorgeblich von einem berühmten Meister nach einem himmlischen Vorbilde gemalt sein sollte. Aber alles, was wir davon erkennen, konnten, war das harte, finstere, strenge Gesicht eines Mannes, der auf einem Gerichtsstuhle sitzt, mit Blitzen in der Hand, und mit noch fürchterlicheren Blitzen drohend, aus der Wolke, die seine düstere Stirne beschattet. Und dann hörten wir plötzlich Dr. Luthers klare, muterweckende Stimme hinter uns, die uns zurief: »Freunde, was macht Ihr? Dies ist nicht das rechte Bild, es ist bloß der Deckel, welcher das Meisterwerk verschließt.« Und mit diesen Worten schob er das schreckliche Zerrbild bei Seite, das wir traurig angeschaut hatten, in der vergeblichen Hoffnung, einige Züge von Liebe und Schönheit darauf zu entdecken. Siehe! da wird auf einmal das wahre Bild uns enthüllt, das Bild des wahren Christus, mit dem Ausdrucke auf seinem verklärten Antlitze, den es hatte, als er am Kreuze für seine Mörder betete: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun,« und zu seiner Mutter sprach: »Weib, siehe, das ist dein Sohn;« oder zu der Sünderin, die seine Füße mit ihren Thränen benetzte: »Gehe hin im Frieden.«
Fritz und ich sprachen auch sehr oft von Eva, wenigstens hörte er gerne zu, wenn ich von ihr erzählte, und ich werde nie müde, von unserer Eva zu reden.
Aber dann reiste Fritz wieder ab, und wir haben jetzt seit vielen Wochen nichts mehr von ihm gehört. Die letzten Nachrichten, die wir erhielten, hatte er im Klostergefängnis zu Mainz geschrieben!
Und nun ist Dr. Luther auch fortgegangen in die Veste seiner Feinde, –vielleicht, wie die Großmutter sagt, zum Märtyrertod!
Wer wird uns nun, da er fort ist, die herrliche Offenbarung eines wahren, liebenden, verzeihenden Gottes bewahren, und mit fester Hand die falschen Läden offen halten? Dr. Melanchthon mag es vielleicht für die Gelehrten, die Theologen eben so gut können; allein wer wird uns, dem Volk, der eifrigen Jugend, Weibern und Kindern Dr. Luther ersetzen? Wer wird es uns so deutlich machen, daß Religion nicht ein Studium, nicht eine Profession oder ein Lehrsystem, sondern ein Leben in Gott ist; daß das Gebet nicht in einer geistigen Uebung besteht, um das Herz zu unbestimmten, luftigen Höhen empor zu schwingen, sondern in der einfachen Erhebung unseres Herzens zu Gott, der uns entgegen kömmt, für uns sorgt und unbeschreiblich liebt? Wer wird wie er das » Unser Vater« uns einprägen, das allein das Gebet des Herrn und jedes andere möglich und erhörlich macht? Kein Wunder, daß Mütter ihre Kinder in die Höhe hielten, um seinen Abschiedssegen zu empfangen, und dann weinend nach Hause gingen, während statte Männer sich die Thränen aus den Augen wischten.
Wohl wahr, daß Dr. Bugenhagen, der aus Pommern sich hieher geflüchtet hat, mit Eifer und Inbrunst predigt, daß der Archidiakonus Karlstadt voll Feuer, Dr. Melanchthon voll Geist ist, und daß es hier noch viele gute, weise Männer gibt; aber Dr. Luther war Herz und Seele von allen. Andere mochten weisere Dinge reden, als er, und er mochte Manches sagen, was andere weislich verschwiegen hätten; aber durch Dr. Luther hat Gott Tausenden unseres Landes Sein Herz und Sein Wort geoffenbart, und niemand kann je das für uns sein, was er ist.
Tag. und Nacht beten wir für seine Sicherheit.
Den 15. April.
Christoph ist von Erfurt zurückgekehrt, wo er Dr. Luther predigen hörte.
Er erzählte uns, daß an manchen Orten Dr. Luthers Reise dem Zuge eines geliebten Fürsten durch seine Staaten geglichen habe, eines Fürsten, der im Begriffe steht, für sein Land in den Krieg zu ziehen.
Bauern wünschten ihm Gottes Segen; arme Männer und Weiber umringten ihn und baten, er möchte doch sein kostbares Leben nicht in die Gewalt seiner Feinde geben. Ein alter Priester aus Nürnberg brachte ihm ein Bild des frommen Priesters Savonarola, den der Papst vor nicht ganz vierzig Jahren in Florenz als Ketzer verbrennen ließ. Eine alte Witwe näherte sich ihm und sagte, ihre Eltern hätten ihr gesagt, daß Gott einen Befreier von dem römischen Joche senden werde, und sie dankte Gott, daß sie ihn vor ihrem Tode noch sehen durfte. Von Erfurt ritten ihm sechzig Bürger und Professoren mehrere Meilen weit entgegen und geleiteten ihn in die Stadt. Hier, wo er auf alle irdischen Hoffnungen verzichtet, und als Mönch auf den Straßen um Brot gebettelt hatte, war eine zahllose Menge dankbarer Menschen versammelt, welche ihn als ihren Befreier von Lüge und geistlicher Tyrannei begrüßten.
Christoph hörte ihn in der Kirche des Augustinerklosters predigen, wo er, wie Fritz sagt, so schmerzliche Kämpfe durchgemacht hat. Hier stand er nun als ein Exkommunizierter, mit dem Tode Bedrohter; aber er stand hier auch als ein Sieger durch Christum, über die Tyrannei und List des Satans. Er schien seine eigene Gefahr ganz zu vergessen, in der Freude über die ewige Erlösung, welche er zu verkündigen kam. Mit keinem Worte, sagte Christoph, erwähnte er weder sich selbst, noch den Reichstag, noch die päpstliche Bulle oder den Kaiser, sondern er sprach einzig davon, wie ein Sünder gerettet, ein Gläubiger froh werden kann. »Es gibt zweierlei Werke,« sagte er, »äußere, eigene Werke, diese sind wenig nütze. Der eine baut eine Kirche, der andere macht eine Wallfahrt nach Rom, ein dritter fastet, nimmt die Mönchskutte und geht barfuß: Alle diese Werke sind nichts und werden untergehen. Aber nun will ich Euch das wahre gute Werk nennen: Gott hat einen Mann erwecket, den Herrn Jesum Christum, damit er den Tod unter seine Füße trete, die Sünde zerstöre und die Pforten der Hölle verschließe. Dies ist das Werk der Erlösung. Der Teufel glaubte den Herrn in seiner Gewalt zu haben, als er zwischen zwei Uebelthätern am Kreuze hing, den schmachvollsten Tod erduldend und von Gott und Menschen verlassen und verflucht schien. Allein Gott bewies seine Macht, und vernichtete Tod, Sünde und Hölle: Christus hat den Sieg errungen. Dies ist die große, herrliche Botschaft. Durch Sein Werk, und nicht durch die unsrigen, sind wir erlöst. Freilich spricht der Papst ganz anders. Aber ich versichere Euch, daß selbst die heilige Mutter Gottes nicht durch ihre Reinheit und Unschuld, noch durch ihre unbefleckte Jungfräulichkeit, noch durch die Geburt Jesu, noch durch ihre guten Werke errettet worden ist, sondern allein durch den Glauben an das Werk Gottes.«
Während er so redete, krachte die Gallerie, auf welcher Christoph stand. Schrecken und Angst bemächtigte sich der Menge, und viele wollten hinausstürzen. Da unterbrach sich Dr. Luther einen Augenblick, streckte dann seine Hand aus und rief mit seiner klaren, festen Stimme: »Fürchtet nichts; es ist keine Gefahr. Der Teufel möchte wohl gerne die Predigt des Evangeliums hintertreiben; aber es wird ihm nicht gelingen.« Dann fuhr er in seinem Texte fort: »Vielleicht möchtet ihr sagen: »Du sprichst so viel vom Glauben, lehre uns, wie wir dazu gelangen können.« Ja wahrlich, das will ich Euch zeigen. Unser Herr Jesus Christus hat gesagt: » Friede sei mit euch. Seht meine Hände.« Das ist als ob er gesagt hätte: »O Mensch, ich allein habe Deine Sünde abgethan und Dich erlöst, und nun hast du Frieden,« sagt der Herr.«
Dann schloß er mit den Worten:
»Da Gott uns errettet hat, laßt uns solche Werke vollbringen, an denen Gott Wohlgefallen haben kann. Bist Du reich? so hilf den Armen mit Deinen Gütern. Bist Du arm? so diene den Reichen mit Deiner Arbeit. Wenn Dein Fleiß nur Dir selbst Nutzen bringt, so glaube nur nicht, daß Du Gott damit dienest.«
Christoph verließ Dr. Luther zu Erfurt. Viele, sagt er, wollten Luther überreden, nicht nach Worms zu gehen; einige erinnerten ihn an Johann Huß, der trotz dem kaiserlichen Geleitsbrief verbrannt worden. Ja, an manchen Orten, durch die er kam, war der päpstliche Bannfluch an den Mauern angeschlagen; allein er sprach: »Wenn ich auch umkomme, so wird doch die Wahrheit nicht umkommen.«
Und nichts vermochte ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Seine Predigt hatte Christoph aufs tiefste bewegt. Er sagt, der Text: »Friede sei mit Euch; und als Jesus das sagte, zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite,« tönte auf der ganzen Heimreise durch Wälder und Ebenen in feiner Seele fort. Die feierliche Würde der klaren, lieben Stimme, die wir vielleicht nie mehr hören sollen, schreibt sie in sein Herz, und ich hoffe, die noch viel erhabenere Stimme Dessen, welcher einst am Kreuze den Angstschrei des Todes für uns ausstieß, und den Sieg errang.
Ja, Dr. Luther macht uns begreiflich, daß wir's nicht mit Dingen, sondern mit lebendigen Wesen zu thun haben, –mit dem Teufel, der uns haßt, mit Gott, der uns liebt, mit dem Heiland, der für uns starb. Es sind nicht bloß abstrakte Begriffe von Heiligkeit und Rechtfertigung, von Sünde und Verdammnis, sondern wir sind die Sünder, welche verdammt zu werden verdienen: Christus leidet für uns, und Gott begnadigt und liebt uns. Es geht uns alle persönlich an, Dich und mich. Er führt uns geraden Weges vor Gott hin, nicht vor einen strengen, auf fernem, erhabenem Throne sitzenden, in furchtbarer Majestät mit seinen Blicken uns durchbohrenden, oder in gnädigem Mitleid auf uns herabschauenden Richter, sondern zu einem liebenden Vater, der uns entgegen kommt,, uns sucht, und dem viel, unendlich viel daran gelegen ist, daß wir, ja sogar wir gerettet werden.
Nie, bis zu dem Augenblicke, als Dr. Luther in dem zum Schutze gegen das Unwetter mit Tuchvorhängen versehenen Wagen, den die Stadt für ihn besorgt hatte, vorbeifuhr, und ich Thränen über meiner Mutter Wangen rollen sah, hatte ich geahnt, wie innig sie ihn liebt und verehrt.
Sie hegt für ihn fast dieselbe ängstliche Besorgnis wie für Fritz, und tadelte mich nicht, als sie mich des Nachts weinend vor meinem Bette fand, sondern nahm mich in ihre Arme, strich mir die Haare, und sagte: »Arme Thekla! Gott wird uns beide lehren, keine andern Götter zu haben außer Ihm. Er wird es mit großer Schonung thun; aber weder deine Mutter, noch dein Heiland kann es dich lehren, ohne daß es dich manch bittere Thräne kosten wird!«