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Wittenberg, im August 1524.
Die traurige Zeit des allmäligen Dahinschwindens ist vorüber, und unsere gute Großmutter ist gestern verschieden. Welch heilige Liebe und Zärtlichkeit verbreitet sich über jede Erinnerung, während ich zum letzten Mal in das teure Angesicht schaue, das von meiner Kindheit an mir zugelächelt hat, und die Hände küsse, die mir so viele Liebesdienste erwiesen haben, welche ich ihr nie mehr vergelten kann. Wie rührend ist mir jeder Zug ihrer rücksichtsvollen Güte und Selbstverleugnung, welche Liebe leuchtet mir entgegen aus der ängstlichen Besorgnis, die sie früher zuweilen ein wenig ungeduldig machte, besonders gegen meinen Vater.
Kann das Leben je wieder werden, wie es vorher gewesen? Werden wir je vergessen können, kleine Schwächen wie die ihrigen liebevoll zu ertragen, oder mit freudigem Dank, der all unsere Sorgen erhellen müßte, die Liebe zu schätzen, welche einst auch so verstummen wird, wie sie?
Ihr Tod hat uns alle gealtert und in eine andere Generation versetzt. Sie lebte von der Mitte der alten Welt in den vollen Morgen der neuen hinein, und ein ganzes Jahrhundert der Vergangenheit scheint mit ihr dahingeschwunden. Seitdem sie die böhmischen Gesandten sprach und Fritz und Eva verbunden sah, wünschte sie nicht länger zu leben. Sie hatte, wie sie sagte, zwei neue Morgenzeiten auf der Erde anbrechen sehen und sehnte sich nach dem Anbruch des himmlischen Tages.
Gestern Morgen noch eine der Unsern und heute schon unter der Menge der himmlischen Heerscharen! Gestern noch kannten wir jeden ihrer Gedanken, jede Kleinigkeit, die sie betraf, und jetzt ist sie in eine Sphäre versetzt, von der wir weniger wissen als von dem täglichen Leben des ältesten der Patriarchen. Denn Dr. Luther sagt, der Säugling an der Mutterbrust weiß mehr von dem Leben, das vor ihm liegt, als wir von dem Leben nach dem Tode. Allein er sagt auch: Da Gott Himmel und Erde schon so schön gemacht hat, um wie viel schöner noch muß die unvergängliche Welt sein.
Ich kann mir alles schön und herrlich vorstellen nach der Auferstehung; aber jetzt? Wo ist jetzt der uns teure abgeschiedene Geist?
Dr. Luther sagt: »Ein Christ sollte sprechen, ich weiß, daß ich von hinnen scheiden muß; aber wenn meine Seele sich vom Leibe trennt, so erhalten die Fürsten und Könige Gottes, nämlich die lieben Engel, Befehl, mich abzuholen und sicher heimzuführen. Die heilige Schrift lehrt nichts vom Fegefeuer, sondern sagt uns, daß die Seelen der Gerechten in süßem Frieden ruhen. Wie sie leben, wo sie bleiben, wissen wir freilich nicht; aber wir sind ganz gewiß versichert, daß kein Schmerz noch Kummer sie drückt, daß sie vielmehr in der Gnade Gottes ruhen. Wie sie in diesem Leben unter dem Schutze Gottes und der heiligen Engel sanft einzuschlafen pflegen, ohne Furcht vor Gefahr, auch wenn die Teufel um uns herumschleichen, so ruhen sie nach dem Tode in Gottes Arm.
» Abzuscheiden und mit Christo zu sein ist viel besser.«
» Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.«
» Außer dem Leibe wallen, und daheim sein bei dem Herrn.«
Es hängt alles davon ab, was die Worte » mit mir« für uns und unsere lieben Abgeschiedenen find. O unser Heiland und der ihrige! je besser wir also Dich kennen, desto mehr wissen wir auch von ihnen. Mit Dir kann die Wartezeit bis zur Auferstehung kein kaltes, trauriges Vorzimmer des Palastes sein. Wo Du bist, ist Licht, Liebe und Heimat.
So köstlich übrigens Dr. Luthers Worte in solcher Zeit auch sind, so ist uns das Wort Gottes, das er uns entziffert hat, noch weit herrlicher.
Meine Mutter jedoch findet großen Trost in Luthers Worten: »Unser Herr und Heiland schenke uns drüben ein fröhliches Wiedersehen! Denn wir glauben zuversichtlich, daß wir nach einer kleinen Weile einander bei Christo wieder finden werden. Der Abschied von diesem Leben, um mit Christo zu sein, ist weniger in Gottes Augen, als wenn ich Euch verlasse, um nach Mansfeld zu gehen, oder wenn Ihr Abschied von mir nehmet, um von Wittenberg nach Mansfeld zu reisen. Dies ist ganz gewißlich wahr. Eine kurze Stunde Schlaf und alles wird verändert sein.«
Wittenberg, im September 1524.
Wir haben im Laufe des verflossenen Monats oft Ursache gehabt, Gott zu danken, daß die geliebte Großmutter zur Ruhe eingegangen ist. Die Zeiten sind jetzt sehr stürmisch. Dr. Luther ist deswegen in großer Sorge. Gerüchte von großer Aufregung unter den Bauern haben sich hier verbreitet. Fritz hat uns aus dem Thüringer Walde darüber geschrieben. Unser guter Kurfürst sagte neulich daß die Bauern viele Unbilden von den Rittern erfahren hätten, und von Fritz erfuhren wir, welche ungegründete Hoffnungen besserer Tage sie auf Dr. Luthers Beistand gebaut hätten. Sie meinten, die Zeit der Befreiung sei gekommen, und es ist bitter für sie, zu sehen, daß das Evangelium Kraft gibt, Unrecht zu dulden, aber nicht plötzliche Befreiung von dem Uebel selbst. Ueberdies sind die Fanatiker unter sie getreten. Die Zwickauer Propheten und Thomas Münzer (den Dr. Luthers Rückkehr von der Wartburg voriges Jahr in Wittenberg zum Schweigen brachte) haben ihnen alles versprochen, was sie von Dr. Luther erwartet hatten. Abermals behaupteten diese Menschen, Gott sende erleuchtete Männer auf die Erde, um eine neue Ordnung der Dinge einzuführen, um die Heiligen nicht mehr zu lehren, wie sie sich beugen und geduldig leiden, sondern wie sie streiten, sich an ihren Feinden rächen und herrschen sollen.
Oktober 1524.
Ach! der Aufstand unter den Bauern ist jetzt zum völligen Ausbruch gekommen und sie durchziehen in Scharen von Zehntausenden das Land! Im Schwarzwalde begann die Empörung, verbreitete sich in raschem Wachstums durch das ganze Land und reißt nun durch die Gewalt und die Bewegung der Menge alles mit sich fort. Eine Stadt nach der andern unterwirft sich und gibt ihnen Einlaß und beschwört die zwölf Artikel, welche, wie man sagt, an und für sich nicht so übel sind, wenn sie nur nicht durch solche Mittel erzwungen würden. Eine Burg nach der ändern wird erstürmt und fällt in ihre Hände. Ulrich schreibt uns in äußerster Entrüstung, daß sie adelige Männer und Frauen grausam zu Tode gemartert und Klöster geplündert haben. Fritz, auf der andern Seite, bittet uns, nicht zu vergessen, welche lange Reihe von Unbilden, die unter dem Vorwande des Rechts ausgeübt wurden, diese That wilder, gesetzloser Rache herbeigeführt haben.
Dr. Luther, welcher vermöge seiner Abstammung und seiner lebhaften und edlen Entrüstung über jede Ungerechtigkeit den innigsten Anteil an dem Lose der Bauern nimmt, mit dem Ernste eines Propheten die Adeligen wegen ihrer Bedrückung und Tyrannei straft, verlangt nichtsdestoweniger, daß die Empörung mit Waffengewalt unterdrückt werde. Er hält dies für notwendig, schon um den wohlmeinenden und ehrlichen Teil der Bauern von der Tyrannei der Aufrührer zu befreien, die sie bei Gefahr ihres Lebens zwingen, sich unter die Fahne des Aufruhrs zu stellen. Mit blutendem Herzen empfiehlt er die strengsten Maßregeln als die besten und liebevollsten. Mehr als einmal ist es ihm und den andern Wittenberger Doktoren gelungen, mit wenigen ernsten Worten große Scharen von Aufrührern zu besänftigen und zu zerstreuen. Aber dies sind höchst traurige Zeiten für ihn. Die Bauern, welche er aufs innigste bemitleidet und eben deshalb verurteilt, schreien, er habe sie verraten, und bedrohen sein Leben. Die Prälaten und Fürsten, die noch der alten Religion angehören, behaupten, all diese Unordnungen und Verwüstungen seien die natürlichen Folgen seiner falschen Lehren. Aber er geht festen Schrittes zwischen ihnen durch und richtet an alle aufrichtige Worte der Warnung und Ermahnung. Je mehr aber Kunde von wilder Plünderung, von verübten Grausamkeiten und Mordthaten zu uns kommt, desto fester wird seine Ueberzeugung, daß Strenge zugleich Gnade ist. Und jetzt muß er, dessen Reise durch Deutschland vor noch nicht drei Jahren einem Triumphzuge glich, bei seinen Versuchen, Frieden zu stiften, heimlich von Ort zu Ort reiten, stets in Gefahr, von dem Volke, wenn es ihn erkennt, getötet zu werden.
Ich beklage diese Bauern im tiefsten Grunde meines Herzens. Sie sind nicht jene Pharisäer, welche »nicht blind« waren, sondern nur zu wohl wußten, was sie verwarfen. Sie gehören zu der »Menge«, zu dem Volke, welches, wie ehedem, mit Freuden auf die Summe der Wahrheit und Liebe hörte und für welches Er noch sterbend bat: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun.«
Im April 1525.
Die Flut hat sich gewendet. Das Reichsheer unter Truchseß steht im Felde. Philipp von Hessen ist nach Sachsen gekommen, nachdem er seine Staaten beruhigt hatte, um auch hier den Aufruhr zu unterdrücken. Es heißt, unser guter, milder Kurfürst, der so ungern das Schwert zog, sei am Sterben. Welche Veränderungen sind nicht draußen in der Welt vorgegangen!
Mittlerweile stehen auch in unserer kleinen Wittenberger Welt wichtige Veränderungen bevor. Wahrscheinlich wird Dr. Luther, nachdem er die acht andern Nonnen untergebracht und sich bemüht hat, auch für Katharina von Bora ein Unterkommen zu finden, diese selbst heiraten. Vor einigen Monaten suchte er sie zu überreden, dem Pastor Glatz von Orlamund ihre Hand zu reichen; aber sie schlug es aus. Und jetzt wird wohl das einsame Augustinerkloster zur Wohnstätte einer Familie werden, und sie wird es daselbst wohnlich machen.
Gottfried und ich freuen uns herzlich darüber. In dieser Welt voll Unruhe und Tumult bedarf das warme weiche Herz eine Stelle, wo es sich ausruhen kann, ein Herz, von dem es verstanden wird und das ihm treu bleibt, wenn, was schon manchem begegnet ist, alle andern ihm entfremdet werden. Und wir hoffen, daß Katharina von Bora ihm das sein wird.
Zurückhaltend und mit einer natürlichen Würde begabt, welche der Gattin dessen wohl ansteht, den Gott in so mancherlei Weise zu einem Berater und Leiter der Herzen berufen hat, wird ihr starker Geist sie davor bewahren, zu einem bloßen Widerschein seines kräftigen Charakters herabzusinken, und ihre Heiterkeit, ihr ächt weiblicher Takt wird, wir hoffen es zuversichtlich, ihm eine Stütze sein in mancher Stunde der Niedergeschlagenheit, wie sie jeder, der eine irdische Krone trägt, welcher Art sie auch sein mag, erfahren muß.
Dezember 1525.
Ein Jahr voller Wechsel ist seinem Ende nahe. Der Bauernaufstand ist unterdrückt. Bei Frankenhausen wurde der letzte entscheidende Sieg gewonnen und Thomas Münzer erschlagen, worauf sein undiszipliniertes Heer in wilder Verwirrung auseinander floh. Die Empörung ist freilich erdrückt; aber, sagt Gottfried, wie Menschen ihre Feinde, die sie in ihre Gewalt bekommen, zermalmen, so übertrifft die Strafe das Verbrechen und häuft den Groll zu künftiger Empörung und Rache für spätere Geschlechter.
Der weise, gute Kurfürst Friedrich starb gerade vor dem Siege. Es ist ihm zu gönnen, daß er die furchtbare Vergeltung, welche geübt wurde, die Reihen von Galgen, die an den Landstraßen errichtet wurden, die Marter, womit Marter bezahlt, der grausame Hohn, womit Beleidigungen gerächt wurden, nicht mehr sehen mußte. Das arme bethörte Volk, besonders die Bauern, beweinten den guten Kurfürsten und riefen: »Ach Gott, sei uns gnädig! Wir haben unsern Vater verloren!« Er pflegte auf dem Felde so freundlich mit ihren Kindern zu sprechen und war immer bereit, jeder Klage über erlittenes Unrecht ein williges Ohr zu leihen. Er starb demütig als ein Christ, und wurde königlich als ein Fürst begraben.
Kurz vor seinem Tode besuchte ihn sein Kaplan. Der Kurfürst reichte ihm die Hand und sagte: »Ihr thut wohl, zu kommen. Es ist Pflicht, die Kranken zu besuchen.«
Weder Geschwister noch andere nahe Verwandte waren zugegen, als er starb. Das Land bedurfte der Dienste aller tapfern Männern in jenen stürmischen Tagen. Gleichwohl war er nicht verlassen. Seine treuen Diener waren für den kinderlosen, einsamen Dulder wie seine eigene Familie.
»O, liebe Kinder,« sagte er, »ich leide heftige Schmerzen!«
Hierauf erwiderte Joachim Sack, ein Schlesier:
»Gnädigster Herr, wenn Gott will, so werdet Ihr bald besser werden.«
Kurz nachher sagte der sterbende Fürst:
»Liebe Kinder, ich bin sehr krank.«
Und Sack antwortete:
»Gnädigster Herr, der allmächtige Gott sendet Euch dieses Leiden aus lauter väterlicher Liebe und zu Eurem Besten.«
Dann wiederholte der Fürst leise auf lateinisch die Worte Hiobs: »Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt.«
Abermals sprach er:
»Liebe Kinder, ich bin sehr krank.«
Und der treue Joachim tröstete ihn abermals:
»Unser gnadenreicher Herr, der allmächtige Gott, sendet Euer Durchlaucht all dieses Leiden aus großer, unbeschreiblicher Liebe.«
Der Fürst faltete die Hände und sagte:
»Das feste Vertrauen setze ich auf meinen guten Gott!«
Dann fuhr er fort:
»Hilf mir, hilf, o mein Gott!«
Nachdem er das heilige Abendmahl unter beiderlei Gestalt empfangen hatte, versammelte er alle seine Diener um sich und sprach:
»Liebe Kinder! ich bitte Euch, vergebt mir um Gottes Willen, was ich Euch mit Wort oder That zu Leide gethan habe, und bittet auch andere, mir zu vergeben. Wir Fürsten thun oft den armen Leuten Unrechts was nicht sein sollte.«
Als er so sprach, zerflossen alle, die es hörten, in Thränen.
Als er es bemerkte, sagte er:
»Liebe Kinder! Weinet nicht um mich. Es wird nicht mehr lange mit mir währen. Aber denket an mich und betet zu Gott für mich.«
Spalatin hatte einige Verse aus der Bibel für ihn abgeschrieben, die er mit Hülfe seiner Brille selbst überlas. Er hatte viel auf Luther gehalten, obgleich er ihn nie gesehen. Er schickte nach ihm, doch vergebens. Luther war nach dem Harz gereist, um womöglich die aufrührerischen Bauern zur Ruhe zu bewegen. Diese Zusammenkunft ist für jene Welt aufgespart, wo aller irdische Unterschied vergessen ist, aber des kleinsten Liebesdienstes gedacht wird.
»So verschied er als ein Kind des Friedens,« wie jemand sagte, »und ruht in Frieden durch das Verdienst des eingebornen Sohnes Gottes, auf welchen er, wie er in seinem Testament bekannte, all seine Hoffnung setzte.«
Es war ein feierlicher Tag für Wittenberg, als er in der Schloßkirche, die er einst so reich mit Reliquien ausgestattet hatte, beigesetzt wurde. Sein Leichnam ist jetzt für uns die heiligste Reliquie, welche dieses Gotteshaus enthält.
Ritter und Bürger gingen dem Sarge bis zum Stadtthore entgegen. Acht Edelleute trugen die Bahre und ein langer Zug von Leidtragenden folgte durch die stillen Straßen. Viele sangen am Grabe die alten lateinischen Lieder: » In media vitæ« (»Mitten wir im Leben sind,«) und » Si bona suscipimus,« und auch das deutsche Lied: »Aus tiefer Not schrei, ich zu Dir,« und »In Fried und Freud fahr ich dahin.«
Das Geld, wofür man ehemals Seelenmessen hätte lesen lassen, wurde unter die Armen verteilt. Dr. Luther predigte über die Verheißung: »Die, welche in Jesu entschlafen sind, wird er mit sich führen,« woraus man deutlich sehen kann, daß es überflüssig ist, für die, welche im Herrn entschlafen sind, zu beten.
Gretchen fragte mich am Abend, was das Lied sagen wolle:
»In Fried und Freud fahr ich dahin.«
Ich sagte ihr, die Seele des Kurfürsten sei so dahingegangen.
Sie bemerkte hierauf:
»Die Prozession war aber so düster und traurig, daß die Worte gar nicht dazu paßten.«
»Diese Prozession begab sich nach dem Grabe,« erwiderte Thekla, welche gerade bei uns war. »Aber eine andere Prozession, die wir nicht sehen konnten, war dem Himmel zugewendet. Die heiligen Engel, in glänzenden weißen Kleidern,, trugen den seligen Geist in den Himmel und sangen unterwegs solche freudige Lieder, während wir hier unten um ihn weinten.«
»Ach, Tante Thekla! Ich möchte gerne die Prozession der lieben Engelein sehen,« rief Gretchen; »Mutter sagt, der gute Kurfürst habe keine Kinder gehabt, die ihn liebten, und auf seinem Totenbette habe ihm niemand einen herzlicheren Namen gegeben als: »Euer Kurfürstliche Durchlaucht.« Allein jenseits des Grabes wird er nicht mehr einsam sein, nicht wahr? Die heiligen Engel werden ihn mit liebevollem Namen rufen, glaubst du das wohl?«
»Der Herr Jesus wird es ganz gewiß; denn er ruft jedes seiner Schafe bei seinem Namen,« versetzte ich.
Dies tröstete Gretchen über den Kurfürsten.
Nicht lange nach diesem Tage der Trauer kam ein Freudentag für unser Haus, sowie für den ganzen Freundeskreis in Wittenberg.
Den 23. Juni wurde Luther in unserem Hause ganz still mit Katharina von Bora getraut.
Wenige Tage darauf wurde das Hochzeitsfest gefeiert, als Luther seine Braut in das Augustinerkloster einführte, das ihm der gute Kurfürst Johann Friedrich zu seiner Vermählung nebst »zwölf jährlichen Gebräuden Bier« geschenkt hat. Der wackere alte Johann Luther und seine Frau und Luthers fromme Mutter kamen von Mansfeld zu diesem Feste, und es war ein Freudentag für uns alle.
Jetzt sind es sechs Monate, daß »die Verbindung und Gemeinschaft zwischen Gatte und Gattin« das alte Kloster zu einer Heimat geweiht hat, und daß diese Heimat durch das Gebet des Glaubens und die Nähe Dessen, den der Glaube schaut, zu einem Heiligtum des Friedens und der Liebe geworden ist.
Köstliche Worte hat Dr. Luther über die Ehe gesagt. Gott hat durch die ganze Schöpfung uns das Bild der Ehe dargestellt. Jedes Wesen sucht seine Vollkommenheit durch die Vermischung mit einem andern. Himmel und Erde selbst stellen sie uns dar; denn umfängt nicht der Himmel die grüne Erde als seine Braut? »Köstlich, herrlich,« sagte er, ist das Wort des heiligen Geistes: »Das Herz des Gatten verläßt sich auf sie.«
Er sagt auch, er schätze den Ehestand so hoch, daß er vor seiner Verbindung mit Katharina beschlossen habe, wenn er plötzlich auf das Totenbett geworfen werden sollte, so wollte er sich vorher trauen lassen und der Jungfrau zwei silberne Becher als sein Hochzeitgeschenk und letztes Vermächtnis geben. Und neulich sagte er einem Freunde, der im Begriffe stand, sich zu verheiraten: »Lieber Freund, mache es wie ich, als ich um meine Käthe werben wollte. Ich betete zu unserm Herrgott von Grund meines Herzens. Ein gutes Weib ist eine Gefährtin fürs Leben und ihres Gatten Stütze und Freude; und wenn fromme Gatten sich aufrichtig lieben, hat der Teufel wenig Gewalt über sie.
»Alle Leute,« sagte er, »glauben und verstehen, daß Ehe Ehe, eine Hand eine Hand und der Reichtum Reichtum ist; aber zu glauben, daß Gott die Ehe eingesetzt und befohlen, daß Gott die Hand geschaffen und den Reichtum geschenkt hat, damit alles als Sein Werk zu Seiner Ehre gebraucht werde, das glaubt man nicht allgemein. Und ein gutes Weib,« sagte er, »muß man lieben und ehren, erstlich weil es eine Gabe und Geschenk Gottes ist; zweitens weil Gott das Weib mit großen und herrlichen Eigenschaften begabt hat, welche, wenn es bescheideneren und gläubig ist, Ihre kleinen Schwächen, und Fehler weit überwiegen.«
Wittenberg, Dezember 1526.
Abermals ein Jahr beinahe zu Ende –ein Jahr, abwechselnd voll Stürme und Sonnenschein! Der Schmerz, den. wir für unsere Thekla fürchteten, ist leider nur zu sicher hereingebrochen. Bertrand de Crequi ist tot! Er starb einsam im. Gefängnisse um des Glaubens willen, aber mit dem Frieden Gottes im Herzen. Ein Fremdling aus Flandern brachte ihr einige Worte des Abschieds von seiner Hand und sah ihn nachher tot, so daß sie nicht daran zweifeln kann. Sie geht umher wie eine Träumende, besorgt die täglichen Verrichtungen wie gewöhnlich, allein die Seele ist nicht dabei. Wir sind bange, wie das enden soll. Gott stehe ihr bei! Sie ist jetzt über die Weihnachtszeit zu Fritz und Eva gereist.
Traurige Spaltungen sind unter den evangelischen Christen entstanden. Dr. Luther ist sehr ungehalten über einige Lehren Karlstadts und der Schweizer-Brüder in Bezug auf die heiligen Sakramente, und er sagt, sie wollen weiser sein als das geschriebene Wort Gottes. Wir sind sehr betrübt darüber, besonders weil unsere Atlantis an einen Schweizer verheiratet ist und Dr. Luther diese nicht als Brüder anerkennen will. Unsre arme Atlantis ist darüber sehr bekümmert und schreibt, sie sei ganz gewiß, daß ihr Gatte das heilige Abendmahl nicht gering schätze, und daß sie in Wahrheit die Gegenwart ihres Heilandes bei demselben inne werde. Aber Dr. Luther ist sehr streng in dieser Beziehung. Er fürchtet, daß Unordnungen und falsche Ansichten daraus entspringen werden, wie diejenigen, welche zu den Gräuelthaten des Bauernkrieges führten. Er ist selbst sehr betrübt darüber und sagt oft, die Zeiten seien so schlimm, daß wohl das Ende der Welt herannahen müsse.
Unter all diesen Wirren freuen wir uns, die wir ihn lieben, daß er in der Augustei eine traute Heimat hat, wo »Herr Käthe«, wie er sagt, und sein kleiner Sohn, Hänschen, regieren und die lieben, heiligen Engel über der Wiege des Kindes Wache halten.
Es war ein Fest für ganz Wittenberg, als der kleine Hans Luther geboren wurde.
Luthers Haus ist gleichsam das heilige Vaterhaus von Wittenberg, ja vom ganzen Lande. Da empfängt er an den langen Winterabenden in der gemütlichen Wohnstube mit dem großen Erkerfenster seine Freunde; da werden oft heitere oder fromme Lieder vierstimmig zu der Laute oder Harfe gesungen, worüber, wie Dr. Luther versichert, der König David sich wundern und freuen würde, wenn er aus seinem Grabe heraus käme, da es zu seiner Zeit unmöglich schon so schöne Musik gegeben habe.
»Der Teufel,« sagt er, »flieht vor der Musik, besonders vor der heiligen, weil er ein trauriger Geist ist und Freude und Fröhlichkeit nicht ertragen kann.«
Im Sommer sitzt Luther unter dem Birnbaum in seinem Garten, während Käthe an seiner Seite mit Handarbeit beschäftigt ist; oder er pflanzt Blumen und gräbt einen Springbrunnen. Oft redet er mit ihr und seinen Freunden davon, welch wundervolle Schönheit Gott den geringsten Blümchen verliehen hat, und zeigt uns ein Bild der Auferstehung an jeder zarten Knospe, die im Frühling aus den dürren, braunen Aesten hervorsproßt.
Wir erkennen immer mehr, welch ein gutes Weib Gott ihm in Katharina von Bora geschenkt hat. Sie ist so heitern Sinnes, besitzt einen festen, unternehmenden Charakter und liebt ihn so treu und innig. Sie hat die ganze Verwaltung ihrer Finanzen übernommen, was eine höchst notwendige Einrichtung war, wenn Luthers Haus nicht zu Grunde gehen sollte; denn er würde alles, selbst seine Kleider und Hausgeräte hergeben, wenn er jemand in Not sieht, und er will weder seine Bücher noch seine Lehrstunden bezahlen lassen.
Sie ist nicht nur eine aufmerksame Zuhörerin, sondern auch eine angenehme Gesellschafterin für ihn; auch das mag er sehr gern, so sehr er auch über ihre Beredsamkeit spottet, welche »in ihrer Art selbst die des Cicero übertrifft;« und obgleich er scherzhaft zu erzählen pflegt, wie seine Frau im Anfang ihrer Ehe, wenn sie neben ihm saß und nicht wußte, wovon sie sprechen sollte, und gleichwohl »ein Gespräch führen wollte,« zu ihm gesagt habe: »Herr Doktor, ist nicht der Großkanzler von Preußen ein Bruder des Markgrafen?« indem sie hoffte, daß solch hohe Reden nicht zu geringfügig für ihn wären. Freilich sagt er, wenn er ein gehorsames Weib suchen wollte, müßte er eines aus Stein aushauen. Allein wir sind alle der Meinung, daß es nicht leicht eine glücklichere Familie gibt als Dr. Luthers, und wenn Katharina je einmal ihren Gatten zu niedergeschlagen findet, daß sie ihn nicht zu erheitern vermag, so schleicht sie heimlich fort und holt Justus Jonas oder einen andern seiner Freunde, um ihn zu erheitern. Oft mahnt sie ihn auch an die Briefe, welche er zu schreiben hat; und er sieht es gerne, wenn sie dann bei ihm sitzt, ein hinlänglicher Beweis, daß sie auch schweigen kann, wenn es nötig ist, wie sehr er auch scherzen mag über ihre »langen Predigten, die sie gewiß nicht gehalten hätte, wenn sie wie andere Prediger mit dem Vaterunser angefangen hätte!«
»Der christliche Ehestand,« sagte Dr. Luther, »ist ein demütiges und heiliges Leben,« und es ist ein großes Glück für die Reformation in Deutschland, daß ihr Mittelpunkt nicht ein Thron, noch eine Einsiedelei, sondern eine einfache christliche Familie ist.
Pfarrhaus zu Gersdorf, im Juni 1527.
Ich bin auf Besuch bei Eva, während Fritz im Auftrage Dr. Luthers mit Dr. Philipp Melanchthon und andern Gelehrten eine Rundreise durch Sachsen macht, um den Zustand der Schulen genau zu untersuchen.
Die Verbesserung des Schulunterrichts liegt Dr. Luther sehr am Herzen, und er möchte sorgen, daß ein Teil von den Einkünften der eingezogenen Klöster zu diesem Zwecke bestimmt würde, ehe die Fürsten und Adeligen sich in der Stille alles zugeeignet haben.
Es erinnert mich an meine Jugend, hier allein bei Eva zu sein. Doch was sage ich? Wir sind ja nicht allein; denn das Schreckbild meiner Jugend, Tante Agnes, ist unter einem Dache mit mir, ist Fritzens Hausgenossin! Als während des schrecklichen Bauernkrieges die Klöster geplündert und die Nonnen verjagt wurden, müßte auch sie Nimptschen verlassen und nahm, nachdem sie einige Wochen bei unserer Mutter in Wittenberg zugebracht hatte, ihre Zuflucht zu Fritz und Eva.
Allein Evas Zwillingskinder, Heinz und Agnes, werden mit dem Namen der Tante Agnes ein ganz anderes Bild verbinden als das strenge, leblose Gesicht und die hohle Stimme, welche ich in meinen Träumen von einem frommen Leben mir vorzustellen pflegte und die mir Furcht vor dem Himmel einflößten, weil ich glaubte, daß die Bewohner desselben Tante Agnesen gleichen müßten.
Vielleicht erscheint die hohe, gefurchte Stirn sanfter, von den grauen Haaren umgeben; aber ganz gewiß hatten ihre grauen Augen nicht diesen freundlichen Blick, noch die Stimme den liebevollen Klang. Sollte es vielleicht ein Widerschein von den klaren Augen der Kleinen sein, die sie so herzlich liebt, oder ein Echo ihrer fröhlichen Stimmen? Nein, ich weiß, es ist noch etwas weit besseres. Eva hat es mir gesagt. Es ist das Lächeln und die Musik eines Herzens, das der Glaube an den Heiland kindlich gemacht hat. Es ist der Frieden des Pharisäers, dem gleich dem Zöllner Heil widerfahren ist, weil er sich demütig an des Zöllners Platz gestellt hat. –
Gleichwohl muß ich gestehen, daß Evas Kindererziehung durch Tante Agnesens Gegenwart nicht eben sehr gewinnt. Es fällt ihr ungemein schwer, in Evas Kindern die Spuren der Erbsünde zu erkennen, während ich im Gegenteil, ganz verwundert bin, daß ein so vorzügliches Wesen wie Eva Kinder hat wie die anderer Leute, selbst wie die meinigen. Hätte man nicht glauben sollen, daß ihre Kinder halbe Engel sein müßten, die von Natur zu allem Guten geneigt, nie Unrecht thun würden, außer aus Versehen und in sehr sanfter, gemäßigter Weise? Dagegen höre ich sehr häufig eigensinniges Geschrei in Evas Kinderstube erschallen, besonders zur Zeit des Waschens und Ankleidens, ungefähr wie bei mir; und ich glaube nicht, daß unser Fritz je entschiedenere Neigung zur Wildheit oder zum Eigensinne gezeigt hat, als Evas rosiger kleiner Heinz.
Eines Morgens, nachdem ich einen ziemlich langen Streit zwischen Heinz und seiner Mutter über ein der kleinen Agnes zugefügtes Unrecht mit angehört hatte, äußerte ich gegen Tante Agnes:
»Wenn Eva ihrem Berufe treu geblieben wäre, hätte sie das Ideal ihrer Theologia Germanica erreichen und eine heilige Elisabeth oder gar noch etwas Höheres werden können!«
Tante Agnes blickte verwundert auf.
»Willst du damit sagen, daß sie jetzt nicht etwas weit besseres ist? Meinst du, den ganzen Tag frommen Betrachtungen nachhängen, sei ein christlicheres Werk, als diese Kleinen für Gott zu erziehen und ihnen in den ersten Kämpfen mit dem Teufel beizustehen?«
»Das wohl nicht, Tante Agnes,« erwiderte ich; »aber du weißt, das Innere des Klosters ist mir auch völlig fremd.«
»Aber ich kenne es,« sagte Tante Agnes mit Nachdruck, »und auch das Innere eines Nonnenherzens. Und ich weiß, welch ein elendes Ding wir daraus machen, wenn wir seine Erziehung aus der Hand unseres himmlischen Vaters in die eigene zu nehmen versuchen. Glaubst du,« fuhr sie fort, »Eva habe in den langen Nächten, die sie an dem Bette ihres kranken Kindes durchwachte, nicht mehr gelernt als in tausend sich selbst auferlegten Wachen vor irgend einem Heiligenbilde? Und wenn sie heute Abend mit Heinz niederknieen und mit ihm beten wird: »Bitte, lieber Gott, vergib dem kleinen Heinz, daß er heute ein wilder, unartiger Knabe war,« ihn dann in sein Bettchen legt und, während sie bei ihm bleibt, bis er eingeschlafen ist, Gott bittet, ihn zu segnen und das kleine eigensinnige Herz zu lenken und für sich selbst um Vergebung fleht, meinst du nicht, daß sie mehr lernt, was Vergebung der Sünden und »Unser Vater« bedeutet, als wenn sie ein Jahr lang in der Theologia Deutsch studierte?«
Ich lächelte und sagte: »Liebe Tante Agnes, wenn Fritz. Evas Lob singen hören will, so darf er nur die Aeußerung gegen dich machen, ob es nicht ein höherer Beruf für sie gewesen wäre, eine Nonne zu bleiben.«
»Ach, Kind!« rief Tante Agnes, und ein Anflug der früheren Strenge mischte sich in die neue Weichheit ihrer Stimme; »wenn du von diesen Lippen und in diesem Hause gelernt hättest was ich, so könntest du es nicht ertragen, auch nur im Scherz eine Silbe des Tadels über sie zu hören.«
Gewiß, Tante Agnes kann dieses liebe Haus nicht mehr ehren als ich. Für jeden Bauern, der etwas zu klagen oder zu bitten hat, offen, ist es eben so befreundet mit dem Schlosse; und es ist mit beiden verbunden, nicht aus einem Vorrechte des Standes, sondern weil Bauern und Adelige als Männer und Frauen, als Brüder und Schwestern in Christo, hier gleich willkommen sind.
Dann und wann machen wir einen Besuch auf dem Schlosse, wo unsere Schwester Chrimhilde thront. Allein ich habe stets einen bürgerlichen Geschmack gehabt; darum gefällt es mir weit besser im Pfarrhause als in der Burg. Ueberdies bin ich ein wenig bange vor Dame Hermentrud, besonders wenn ich meine zwei Knaben bei mir habe, die sich in ihrem Betragen leicht eine bürgerliche Freiheit erlauben. Die Einrichtung des Schlosses ist eine Generation hinter der unserigen in Wittenberg zurück, und ich kann den Jungen die Majestät der Gersdorf'schen Ahnenreihe gar nicht begreiflich machen, noch die notwendige Ueberlegenheit der Menschen, welche einsam in festen Felsenburgen wohnen, über solche, die in Straßen leben. Ich sehe mich daher genötigt, an das Wort der Bibel: »Ein graues Haupt sollst du ehren,« zu erinnern, um ihnen den gehörigen Respekt vor Dame Hermentrud einzuschärfen.
Fritzchen wollte wissen, wodurch sich die Ahnen der Gersdorf berühmt gemacht hätten. »War es durch ihre Gelehrsamkeit?« fragte er.
Ich glaube es nicht; da erst die jüngere Generation lesen gelernt hat und der alte Ritter im Verdacht steht, er habe triftige Gründe, sich lieber von Ulrich vorlesen zu lassen, als selbst ein Buch in die Hand zu nehmen.
»Vielleicht durch Mut?«
»Gewiß, die Gersdorf sind immer tapfer gewesen.«
»Mit wem haben sie denn gekämpft?«
»Zur Zeit der Kreuzzüge wohl mit den Ungläubigen.«
»Und seither?«
Ich weiß es nicht gewiß; allein wenn ich einen Blick auf das zerstörte Schloß von Bernstein und die benachbarte Anhöhe werfe, fürchte ich, daß sie meist gegen ihre Nachbarn gekämpft haben.
Nach vielen solchen Kreuz- und Querfragen blieb es zuletzt ausgemacht, daß das Hauptverdienst der Gersdorf'schen Familie darin bestand, seit vielen hundert Jahren Gersdorf geheißen und in Gersdorf gewohnt zu haben.
Dann verlangte Fritz zu wissen, wodurch seine Vettern, die jüngsten Gersdorfe, sich einmal auszeichnen sollten? Diese Frage brachte mich wieder in Verlegenheit, wie es Chrimhilden selbst oft genug ergeht. Sie dürfen um keinen Preis Kaufleute werden, und da neuerdings in der evangelischen Kirche die großen Abteien aufgehoben und die Bistümer säkularisiert werden sollen, so wird es sich schwerlich mit der Würde der Gersdorf vertragen, daß sie Geistliche werden. Der älteste bekommt das Schloß. Einer von ihnen kann die Rechte studieren. Allein für die andern scheint keine Laufbahn offen, als das müßige und abhängige Leben von Pagen und Knappen an dem Hofe eines der kleineren Fürsten.
Wenn die Vergangenheit das Erbteil der Ritter ausmacht, so scheint mir dagegen die Zukunft den fleißigen Bürgerfamilien zu gehören. Wie dankbar bin ich für das Geschick, welches unseren Knaben in den großen Reichsstädten eine ehrenvolle Laufbahn eröffnet. Das Leben des niederen Adels scheint keinen Raum zur Ausdehnung darzubieten. Indes die Patrizierfamilien der Städte mit dem breiten Strome der Zeit segeln, die Künste begünstigen, die Wissenschaften fördern und selbst an allen Ideen und Fortschritten des Zeitalters Teil nehmen, sitzen diese Ritterfamilien einsam auf ihren düstern Schlössern, wo sie eine Hand voll armer Bauern regieren und in einen engen Kreis gefesselt sind, während der mächtige Strom der Zeit an ihnen vorüberrauscht.
Gottfried sagt, engherzige und mißbrauchte Privilegien bringen diejenigen, welche sich eigensinnig daran anklammern, am Ende ins Verderben. Der Hochmut, welcher damit beginnt, andere auszuschließen, endet gemeiniglich damit, daß er selbst eingeschlossen wird. Die herrschaftliche Burg wird zum engen Gefängnisse.
Alle diese Gedanken flogen mir durch den Sinn, als ich den mit Binsen bestreuten Boden der Halle verließ, wo Dame Hermentrud mich und meine Knaben mit vornehmer Herablassung empfangen hatte. Es war mir im Laufe der Unterredung nicht entgangen, daß sie Chrimhilden heimlich darauf aufmerksam machte, wie wenig Aehnlichkeit die Vettern mit einander hätten, und daß »es ganz merkwürdig sei, welch ein Unterschied zwischen den Gersdorf'schen und den Cotta'schen Kindern bestehe.«
Doch entdeckte ich erst die bittere Wurzel gekränkten Stolzes, aus der meine tiefsinnigen socialen Beobachtungen entsprangen, als ich in Evas einfache Häuslichkeit zurückgekehrt war. Ich hatte mich für die Vergangenheit der Schönberg-Gersdorf mit der Zukunft der Cotta-Reichenbach gerächt. Ja, Fritzens und Evas bescheidene Heimat ist edler als Chrimhildens und reicher als die unsrige; gerade um so viel reicher und edler, als sie demütiger und christlicher ist!
Ich lernte aber meine Fehler auf folgende Weise einsehen. »Dame Hermentrud ist sehr stolz,« sagte ich zu Eva, als ich aus dem Schlosse zurückkehrte und mich neben sie in die Vorhalle setzte, wo sie mit Nähen beschäftigt war; »und ich kann wahrlich nicht einsehen, welchen Grund sie dazu hat.«
Eva antwortete nicht, nur ein halb spöttisches Lächeln, spielte um ihren Mund, was mich für den Augenblick ein wenig ärgerte.
»Willst du behaupten, daß sie nicht stolz sei, Eva?« fuhr ich streitmäßig fort.
»Ich will gar nicht behaupten, daß irgend jemand nicht stolz sei,« sagte Eva.
»Wolltest du denn zu verstehen geben, daß sie Grund habe, auf etwas stolz zu sein.«
»Nun doch auf alle Geister der Gersdorf,« versetzte Eva; »und das hohe, von den Ahnen geerbte Vorrecht, Sammt und Perlen zu tragen, was wir beide uns nicht herausnehmen dürfen.«
»Sicherlich,« bemerkte ich, »ist das Vorrecht, Bilder von Lukas Kranach und Albrecht Dürer zu besitzen, weit mehr wert als jenes.«
»Das mag sein,« versetzte Eva ernst. »Reichtum ist vielleicht ein eben so fester Grund, um den Stolz darauf zu bauen, als der Adel. Diejenigen, welche keines von beiden besitzen, wie Fritz und ich, können am unparteiischsten darüber urteilen.«
Ich lachte und fühlte mein Herz erleichtert. Eva hatte es gewagt, den bösen Geist, der mich quälte, bei seinem wahren Namen zu nennen; und wie jeder andere Gnome oder Kobold verschwand er in demselben Augenblicke.
Gott sei Dank, daß unsere Eva wieder Base Eva und nicht mehr Schwester Ave ist, daß ihr aufrichtiges Herz unser Gewissen erleuchtet, indem es einfach sein Licht scheinen läßt und nicht mehr unter dem Heiligenschein irgend eines entfernten Klosters versteckt ist.
Im Juli 1527.
Fritz ist wieder zu Hause. Seine Rückkehr war ein Fest, nicht nur für seine Familie, sondern für das ganze Dorf. Die Kinder eilten vor die Thüren, um einen freundlichen Blick von ihm zu erhalten; die Mütter hielten mit ihrer Arbeit inne, um ihn zu begrüßen. Der Tag nach seiner Ankunft war ein Sonntag. Wie gewöhnlich versammelten sich die Kinder Morgens um fünf Uhr in der Kirche; unter ihnen befanden sich meine und Chrimhildens Knaben und Evas Zwillinge, Heinz und Agnes, rotwangige, fröhliche Kinder des Waldes. Alle aber sahen so artig und sanft aus, als ob sie Kinder aus Eden wären, während sie eins nach dem andern über die Dorfwiese trippelten und ihre kleinen, hellen Gestalten bald im Sonnenschein, bald im Schatten der großen Buche, welche vor der Kirche steht, sichtbar wurden.
Die kleine Schar stellte sich in der Kirche rings um den Altar, Fritz stand auf den Stufen desselben und lehrte sie. Zuerst wurde von den ältern Knaben ein lateinisches, dann von allen zusammen ein deutsches Lied gesungen. Hierauf ließ sie Fritz Luthers Katechismus hersagen. Wie lieblich war es, die hellen Kinderstimmen auf seine tiefe, männliche Stimme antworten zu hören; wie draußen das Lispeln der zahllosen, von einem milden Sommerlüftchen bewegten Blätter oder an einem stillen Sommerabend das Plätschern zahlloser kleiner Wasserfälle, die der Waldbach in der Nähe des Dorfes bildet.
»Mein liebes Kind, was bist du?« fragte er.
Und ein Dutzend zarter, aber heller Kinderstimmen antworteten:
»Ich bin ein Christ.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich getauft bin und an meinen lieben Herrn Jesum Christum glaube.«
»Was braucht ein Christ zu wissen, um selig zu werden?«
Antwort: »Den Katechismus.«
Nachher, als von dem christlichen Glauben die Rede war, wiederholten die süßen Stimmen das Credo in deutscher Sprache.
»Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater.«
Und Fritz fragte sanft: »Was bedeutet das?«
Antwort: »Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat, samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält. Dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof und alle Güter bescheret, mich mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet, vor allem Uebel behütet und bewahret: und das alles aus lauter väterlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit; das alles ich Ihm zu danken und zu loben, und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr.«
Ferner: »Ich glaube an Jesum Christum, den eingebornen Sohn Gottes, unsern Herrn, der empfangen ist vom Heiligen Geiste, geboren aus Maria der Jungfrau; der gelitten hat unter Pontio Pilato, gekreuzigt, gestorben und begraben; niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten; aufgefahren gen Himmel; da sitzet er zur Rechten Gottes, seines allmächtigen Vaters; von dannen er wieder kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.«
»Was ist das?«
»Ich glaube, daß Jesus Christus wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, der mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben und gewonnen, von allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tod, lebet und regieret in Ewigkeit; das ist gewißlich wahr.«
»Ich glaube an den heiligen Geist, eine heilige, christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Leibes und ein ewiges Leben.«
»Was ist das?«
»Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berufet, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesu Christo erhält im rechten einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergiebet, und am jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird, und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird; das ist gewißlich wahr.«
Dann wieder über das Gebet des Herrn fingen die Kinderstimmen an:
»Unser Vater, der du bist in dem Himmel.«
»Was ist das?«
»Gott will uns damit locken, daß wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder, auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.«
Und am Schlusse:
»Was bedeutet das Amen?«
»Daß ich soll gewiß sein, solche Bitten seien dem Vater im Himmel angenehm und erhöret. Denn er selbst hat uns geboten, also zu beten, und verheißen, daß er uns wolle erhören. »Amen, Amen,« das heißt: ja, ja, es soll also geschehen.«
Und als er fragte:
»Wer empfahet denn solch Sakrament würdiglich?
Kam die Antwort:
»Fasten und leiblich sich bereiten, ist wohl eine feine äußerliche Zucht; aber der ist recht würdig und wohl geschickt, der den Glauben hat an diese Worte: für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden. Wer aber diesen Worten nicht glaubt oder zweifelt, der ist unwürdig und ungeschickt, denn das Wort für euch erfordert eitel gläubige Herzen.«
Indem ich so diesen Worten des Lebens lauschte, begriff ich warum Dr. Luther sie so oft sich selbst oder vielmehr »Gott« hersagt, als ein kräftiges Mittel gegen die feurigen Pfeile des Bösewichts.
So verhallten die lieblichen Kinderstimmen in der Stille des Morgens, die Schatten der Säulen fielen auf die grünen Grabhügel oder die hölzernen Kreuze, unter welchen die Toten des Dorfes ruhen, und die Buche warf ihren langen Schatten auf die Dorfwiese, als wir nach Hause gingen.
Vor elf Uhr fing die Turmglocke an zu läuten, und die Bauern kamen aus den verschiedenen Lichtungen des Waldes herbeigeströmt. Wir beobachteten die zahlreichen Gruppen, die in ihren bunten Festkleidern nach einander aus dem dunkeln Schatten des Waldes heraustraten. Darunter waren wahrscheinlich manche Glieder der Familie Luthers, die in dieser Gegend wohnen. Später kamen aus jedem Hause des Dorfes die Leute in großer Zahl herbei und bald war die kleine Kirche ganz gefüllt. Auf der einen Seite saßen die Männer, auf der andern die Frauen; die Greise hatten ihre Plätze zunächst der Kanzel. Fritz hatte Evas Spruch zu seinem Texte gewählt: »Also hat Gott die Welt geliebt.« Einfach und Beispiele wählend, die sie verstehen konnten, sprach er zu seinen Zuhörern von der unendlichen Liebe Gottes, was es ihn gekostet habe, uns zu erlösen, und welche Liebe, welches Vertrauen, welchen Gehorsam nur ihm dafür schuldig seien. Luthers Rat gemäß predigte er nicht zu lang, sondern blieb bei seinem Gegenstand und »nannte schwarz schwarz und weiß weiß,« so daß die Leute auf dem Heimwege noch sagen konnten, wovon die Predigt handelte. Denn ich habe Dr. Luther sagen hören: »Man muß zu dem Volke nicht von hohen, gelehrten Dingen reden, noch in geheimnisvollen, zweideutigen Worten. In die Kirche kommen Kinder, Mägde, alte Männer und Weiber, welche von hohen theologischen Fragen nichts lernen können. Denn wenn sie auch sagen: »er hat sehr schön gepredigt,« und man fragt sie: »Worüber hat er gesprochen?« so antworten sie: »Ich weiß nicht!« Laßt uns bedenken, wie einfach der Herr Jesus gepredigt, wie er seine Beispiele vom Weinberge, von der Herde, von den Bäumen entlehnte, überhaupt von Dingen, die das Volk verstehen und fühlen konnte.«
Fritzens Predigt goß einen tiefen Frieden in mein Herz aus. Er sprach nicht blos von Rechtfertigung und Versöhnung, sondern von Gott, der uns erlöst und gerechtfertigt hat. Niemand kann uns einen wichtigern Dienst erweisen, als uns daran zu erinnern, was Gott für uns gethan hat und wie treu und zärtlich er für uns sorgt.
Am Nachmittag wurden die Kinder wieder auf eine kleine Weile in der Schulstube versammelt und über die Predigt befragt. Bei Sonnenuntergang kamen wir wieder alle zu einem kurzen Gottesdienst in der Kirche zusammen, wo wir deutsche Abendlieder sangen; dann sprach der Pastor den Segen, hernach zerstreute sich die kleine Gemeinde und alle kehrten nach Hause zurück.
Dieser Tag mit seinem hellen Sonnenschein und der Freude, welche Fritzens Rückkehr über sein Haus verbreitete, schien mir fast wie ein Tag im Paradiese.
Gott sei Dank immer und immer wieder für unsern Dr. Luther und besonders für die zwei großen Wohlthaten, die er uns durch ihn neu geschenkt hat –erstens, daß er den Quell des göttlichen Wortes von den eisigen Fesseln der toten Sprachen befreit hat, ihn durch alle Lande strömen und überall den traurigen Winter in einen holden Frühling umschaffen läßt; und dann, daß er die Heiligkeit der Ehe und des häuslichen Lebens, das damit zusammenhängt, verteidigt, die Grabsteine der Klosterpforten entsiegelt und die dort begrabene Frömmigkeit hinausgesandt hat, um der Welt durch tausend demütige, fromme Familien wie diese zum Segen zu werden.