Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Schwarzwalde, Mai 1521.
Die erste Woche meines Wanderlebens ist vorüber. Heute führte mich mein Weg durch die einsamen Gegenden des Schwarzwaldes, die ich vor elf Jahren mit Martin Luther auf unsrer Pilgerreise nach Rom durchzog. Damals trugen wir beide noch die Mönchskutte, waren beide treue Unterthanen des Papstes und würden seinen Fluch als den tiefsten Grad der Entehrung angesehen haben. Allein in der nämlichen Zeit trug Martin Luther in seinem Herzen den Keim alles dessen, was gegenwärtig alle Herzen von Pommern bis nach Spanien bewegt. Er war schon ein Erlöster Jesu Christi und wußte es auch. Schon war die Heilige Schrift für ihn die einzige Quelle der Wahrheit. Durch den Glauben an Denjenigen, der gestorben ist, der Gerechte für die Ungerechten, hatte er freie Vergebung seiner Sünden erlangt. Das Gebet war für ihn die zutrauliche Bitte eines versöhnten Kindes an das Herz des Vaters, und das demütige Wandeln an Seiner Seite. Er kannte Christum schon als den Beichtvater und Priester, den. heil. Geist als den besonderen Lehrer durch Sein eigenes Wort.
Freilich schleppte er noch die Fesseln der veralteten Ceremonien nach, aber nur wie die braunen Scheiden noch immer manche der schwellenden Blattknospen umhüllen, während ich andere an diesem Maimorgen knistern und aufbrechen hörte, als ich durch den stillen, grünen Wald streifte. Für den Vorübergehenden scheint der Moment der Befreiung stets eine große, plötzliche Anstrengung; allein diejenigen, welche das allmälige Anschwellen der gefangenen Knospen betrachtet haben, wissen, daß die letzte Ausdehnung des Lebens, welche die schuppige Hülle durchbricht, nur ein Moment in dem unbemerkbaren, aber ununterbrochenen Wachstums ist, von dem selbst der anscheinende Tod im Winter ein Stadium ausmacht.
Doch es ist lieblich in der Frühlingszeit; und während ich rüstig vorwärts schritt, sang mein Herz mit den Vögeln und Knospen. »Auch für mich ist die Leichendecke des Winters gestorben, –für mich und das ganze Land!«
Und dann stimmte ich laut das alte Osterlied an, welches Eva so sehr liebte:
Pone luctum, Magdalena!
Et serena lacrymas;
Non est jam Simonis cœna,
Non cur fletum exprimas;
Causæ mille sunt Isetandi
Causæ mille exultandi:
Alleluia resonet!
Sume risum, Magdalena!
Frons nitescat lucida:
Demigravit omnis pœna,
Lux coruscat fulgida;
Christus mundum liberavit,
Et de morte triumphavit:
Alleluia resonet!
Gaude, plaude, Magdalena!
Tumba Christus exiit;
Tristes est peracta scena,
Victor mortis rediit;
Quem deflebas morientem,
Nunc arride resurgentem:
Alleluia resonet!
Tolle vultum, Magdalena!
Redivivum obstupe:
Vide frons quam sit amœna,
Quinque plagas aspice;
Fulgent sicut margaritæ
Ornamenta novæ vitæ:
Alleluia resonet!
Vive, vive, Magdalena!
Tua lux reversa est,
Guadiis turgescit vena,
Mortis vis abstersa est:
Mæsti procul sint dolores,
Læte redeant amores:
Alleluia resonet!
Zu deutsch:
Magdalena! Traure nimmer,
Trockne deiner Thränen Quell!
Simons Mahl ist aus, ein Schimmer
Reicher Freude strahlt dir hell,
Grund zu jauchzen hast du ja:
Stimme an: Hallelujah!
Magdalena! Lächle wieder!
Heiter strahle dein Gesicht!
Sünd' und Strafe schlug darnieder
Christus, der das Grab durchbricht.
Jesus hat die Welt befreit:
Hallelujah singe heut!
Magdalena! Komm zu schauen
Froh den Auferstand'nen hier!
Weg ist nun des Todes Grauen,
Siegreich stehet er vor dir.
Der Beweinte, er ist da:
Juble laut: Hallelujah!
Magdalena! Heb die Blicke
Staunend auf zu deinem Herrn,
Daß kein Zweifel dich bedrücke,
Die fünf Wunden zeigt er gern.
Perlen gleichet ihre Zier:
Hallelujah singen wir.
Magdalena! Sieh dein Leben
Und dein Licht zurückgekehrt!
Weg sind Tod und Schmerz und Beben,
Ewig nun die Freude währt;
Ewig bleibt dein Freund dir nah,
Jauchze froh: Hallelujah!
Ja, selbst in den alten, düstern Zeiten haben ohne Zweifel manche Herzen in stillen Familien und in verborgenen Klosterzellen diese geheimen Freuden kennen gelernt. Jetzt aber scheint die Welt sie zu erfahren. Der Winter hat seine Rotkehlchen mit ihrem einsamen Gezwitscher; aber jetzt ist der Frühling da, und Flur und Hain widerhallt von dem Chorgesang der Vögel, –und Gott sei Dank, daß ich wach bin, um ihm zu lauschen!
Aber diese Stimme, welche zuerst die Musik in meinem Herzen wach rief, gerade in diesen Wäldern, –und seitdem durch Gottes Gnade in zahllosen Herzen hier im Lande und in vielen andern –weshalb ist sie verstummt? Ist es die Stille des Grabes oder nur ein befreundetes Asyl, das sie verbirgt? In jedem Falle, das ist gewiß, wird sie gegen Gott nicht verstummt sein.
Kaum hatte ich mein Osterlied geendet, so fiel mir auf, wie die Bäume weniger dicht standen, als ob hier vor nicht langer Zeit gelichtet worden wäre; und ich befand mich am Eingang eines Thales, nahe bei einem kleinen Dörflein, dessen Kirchturm über die hölzernen Hütten emporragte. Herden von Schafen und Ziegen weideten an dem Ufer des kleinen Flüßchens, welches sich durch das Thal schlängelte.
Mit dem stillen Seufzer zu Gott, daß einige Herzen in diesem friedlichen Dörfchen die frohe Botschaft des ewigen Friedens durch die Schriften, die ich trug, freudig aufnehmen möchten, betrat ich den Ort. Der Priester, ein alter, freundlicher Mann, kam soeben aus dem Pfarrhause und grüßte mich höflich.
Ich bot ihm meine Waren zur Durchsicht an.
»Es wird wohl schwerlich etwas für mich dabei sein,« sagte er lächelnd. »Ich bin zu alt für Balladen und solche Geschichten, wie diejenigen, welche Ihr wahrscheinlich führt.«
Als er aber Dr. Luthers Namen auf dem Titelblatt eines Buches fand, das ich ihm zeigte, nahm sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck an, und er sagte mit ernster Stimme: »Wißt Ihr, was Ihr da bei Euch habt?«
»Ja wohl,« versetzte ich. »Ich trage die meisten dieser Bücher ebensowohl im Herzen als auf meinen Schultern.«
»Kennt Ihr aber auch die Gefahr, der Ihr Euch aussetzt?« fuhr der alte Mann fort. »Wir haben gehört, daß Dr. Luther vom Papste exkommuniziert und vom Kaiser mit dem Reichsbann belegt worden ist, und vor einigen Wochen erzählte uns ein reisender Kaufmann wie Ihr, daß man seinen aus hundert Wunden blutenden Leichnam gefunden habe.«
»Vor drei Tagen konnte dies noch nicht geschehen sein,« erwiderte ich; »denn seine besten Freunde zu Worms wußten nichts davon.«
»Gelobt sei Gott!« rief er aus; »denn wir hier im Dorfe sind diesem guten Manne großen Dank schuldig. Und,« setzte er schüchtern hinzu, »wenn er wirklich sollte in Ketzerei verfallen sein, so wäre es zu wünschen, daß er Zeit hätte sich zu bekehren.«
Ich verkaufte viele Bücher in diesem Dorfe, und ließ noch mehrere bei dem guten Priester, der mich äußerst gastfreundlich bewirtete und dann unter Thränen, Segenswünschen, Warnungen und Gebeten von mir Abschied nahm.
Paris, im Juli 1521.
Ich habe die französische Grenze überschritten, und bin nun schon seit mehreren Tagen in dieser großen, lebhaften, gelehrten Weltstadt.
In Deutschland fand ich mit meinen Büchern meistens freundliche Aufnahme und nur wenig Widerspruch. Ja, in einigen Fällen, wo die Ortsobrigkeit es für ihre Pflicht hielt, öffentlich dagegen zu protestieren, unterstützte sie sogar heimlich die Verbreitung derselben. An andern Orten war die Begierde, meine Bücher zu kaufen und irgend etwas von Luther zu hören, so groß, daß ich mich bald von einer Menge Menschen umringt sah, welche, nachdem sie erfahren hatten, daß ich selbst nicht wußte, wie es gegenwärtig mit ihm stehe, und wo er sei, mit Aufmerksamkeit zuhörten, wenn ich ihnen von seinem Erscheinen vor dem Kaiser zu Worms erzählte, während ein Gemurmel des Beifalls, und oft Thränen und Schluchzen die lebhafte Teilnahme bewiesen, welche sie für ihn fühlten. In den Städten wurden viel mehr Exemplare seines »Briefes an den deutschen Adel« verlangt, als ich vorrätig hatte.
Was mich aber am meisten rührte, war die Liebe und beinahe abgöttische Verehrung, womit in den entferntesten Gauen die unterdrückten, fleißigen Bauern an ihm hingen.
In einem Dorfe führte mich ein würdiger alter Bauer in eine innere Stube, wo hinter einem Vorhang ein Bild Luthers, mit einem Heiligenschein umgeben, an der Wand hing.
»Seht!« sagte er, »der Burggraf dort oben« (und dabei zeigte er nach dem festen Schlosse, das auf einem nahen Felsen lag) »hat mir und den Meinigen viel Leides gethan. Zwei meiner Söhne sind in seinen ungerechten Fehden umgekommen, seine Jäger verwüsten nach ihrem Belieben meine Felder; wenn ich aber einen Hirsch schieße, so läßt er mich in das Burgverließ werfen, wie es schon manchen von den Meinigen ergangen ist. Aber bald wird es mit ihrer Herrschaft zu Ende sein. Ich sah diesen Mann in Worms. Ich hörte ihn, kühn wie ein Löwe, Kaiser, Fürsten und Prälaten die Wahrheit sagen. Gott hat uns einen Befreier gesandt, und es wird endlich ein gerechtes Reich kommen, wo jedem sein Recht widerfahren wird.«
»Freund,« antwortete ich schmerzlich bewegt, »der Befreier ist schon vor fünfzehnhundert Jahren gekommen! aber das Reich der Gerechtigkeit ist noch nicht auf Erden zu finden. Der Befreier wurde gekreuzigt, und seine Anhänger haben seitdem geduldet und nicht geherrscht.«
»Gott ist geduldig,« sagte er, »und wir sind, Gott weiß es, auch lange geduldig gewesen; aber ich hoffe, die Zeit ist endlich gekommen.«
»Aber,« entgegnete ich sanft, »die Erlösung, welche Dr. Luther verkündigt, ist Befreiung von einer schlimmern Sklaverei als der des Adels; es ist eine Freiheit, die kein Tyrann, kein Kerker uns rauben kann, –die Freiheit der Kinder Gottes;« –und nun hörte er andächtig an, was ich ihm von der Rechtfertigung durch den Glauben an den Versöhnungstod des Heilandes sagte. Allein zuletzt bemerkte er:
»Das ist freilich eine gute Botschaft. Allein ich hoffe doch, Dr. Luther wird manches Unrecht, das uns zugefügt wird, rächen. Man sagt, daß er auch ein Bauernsohn sei.«
Wenn ich Dr. Luther wäre und wüßte, wie die sehnlichen Blicke der Bedrückten und Traurigen an mir hangen, würde ich versucht sein zu beten:
»O Herr, laß mich doch sterben, ehe diese mühseligen und beladenen Herzen erfahren, wie wenig ich ihnen helfen kann!«
Denn es geschieht in der That viel Böses unter der Sonne; aber die Botschaft, welche Dr. Luther bringt, hat auch wahrlich eine Heilung für jede Krankheit, Hülfe für jedes erlittene Unrecht, Ruhe von jeder Bürde; allein ich fürchte, eine Hülfe ganz anderer Art als die, welche nur zu viele erwarten.
Es ist auch höchst sonderbar, welch abenteuerliche Erzählungen über Dr. Luthers Verschwinden in diesen wenigen Wochen aufgekommen sind, und sich nach allen Richtungen hin verbreitet haben.
Einige sagen, er sei heimlich ermordet und sein von Wunden entstellter Leichnam gefunden worden; andere, man habe ihn blutend durch den Wald nach irgend einem schrecklichen Kerker geschleppt; während wieder andere kühn behaupten, er werde wieder kommen an der Spitze einer Schar von Befreiern und das Land der Länge und Breite nach durchziehen, um jede Ungerechtigkeit abzuschaffen, jeden Uebelthäter zu bestrafen.
Wenn aber schon wenige Wochen einen solchen Nebel über Thatsachen verbreiten können, wie würde es ohne eine schriftliche Urkunde schon nach einem Jahrhundert mit dem Christentum gestanden haben? Oder was würde ohne göttliche Eingebung aus dieser Urkunde selbst geworden sein?
An manchen Orten herrschte große Aufregung. So kam ich im Elsaß zu einer geheimen Versammlung der Bauern, welche sich mit den fürchterlichsten Eiden verbunden hatten, einen Vernichtungskrieg gegen die Edelleute zu führen.
Mehr als einmal wurde ich in der Nähe eines Schlosses von einem Trupp Reiter angehalten, meine Ware durchsucht, um zu sehen, ob ich zu den Kaufleuten einer benachbarten Stadt gehöre, mit welcher der Ritter der nächsten Burg in Fehde lag, und bei einer dieser Gelegenheiten wäre es mir wahrscheinlich übel ergangen, wenn nicht eine Schar kaiserlicher Landsknechte noch zu rechter Zeit erschienen wäre, um mich und meine Begleiter zu befreien.
Doch erregte Luthers Name überall gleiches Interesse. Die Bauern glaubten, er werde sie von der Tyrannei der Adeligen erlösen, und viele Ritter sahen in ihm den Verfechter deutscher Freiheit gegen ein fremdes Joch. Mehr als ein armer Dorfpfarrer begrüßte ihn als den Befreier von dem Geize der großen Abteien oder Prälaten. So fand ich mit meinen Büchern in Bauernhaus und Hütte, in Schloß und Pfarrhaus manch herzliches Willkommen. Ich konnte nichts weiter thun, als meine Bücher verkaufen und allen, die es hören wollten, sagen, daß das Joch, welches Luthers Worte zu brechen bestimmt sind, das Joch des Teufels ist, des Königs aller Unterdrücker; und daß die Freiheit, die er verkündigt, die Befreiung ist von der Sünde und Selbstsucht.
Was jedoch mein Herz am meisten erfreute, war, wenn Manches auf Krankenbetten, in Hütten oder in Schlössern oder Klöstern zu mir sagte:
»Gott sei Dank! wir tragen diese Worte schon in unsern Herzen. Sie haben uns den Weg zu Gott gezeigt, sie haben uns Frieden und Freiheit bereits gebracht.«
Oder wenn andere sprachen:
»Ich muß dieses Buch haben. Dieser und jener, den ich kenne, ist ein anderer Mensch geworden, seitdem er Dr. Luthers Worte gelesen hat.«
Wenn ich aber in unserem Lande kaum diese Teilnahme für Dr. Luther erwartet hatte, so war ich noch weit mehr erstaunt, zu sehen, daß sein Ruf selbst bis nach Paris und noch weiter hinaus gedrungen ist.
Den Abend, ehe ich diese Stadt erreichte, war ich, ermüdet von der langen Wanderung in Staub und Hitze, unter der Weinlaube im Garten einer Dorfschenke eingeschlafen, während mein Kasten halb offen neben mir stand. Als ich erwachte, saß ein ernst und würdevoll aussehender Mann, in dem ich an der Pracht seines Anzugs und seiner Waffen den Adeligen, und an dem geschlitzten Wamms und Mantel einen Spanier erkannte, neben mir, ganz in das Lesen eines meiner Bücher vertieft. Ich blieb zuerst 'ganz unbeweglich, um ihn im Stillen zu beobachten. Er las in einem lateinischen Exemplar von Dr. Luthers Auslegung der Epistel an die Galater.
Nach einigen Minuten machte ich eine Bewegung und grüßte ihn ehrfurchtsvoll.
»Ist dies Buch zu kaufen?« fragte er.
Ich bejahte es und nannte den Preis.
Sogleich legte er die doppelte Summe hin und sagte:
»Gebt einem, der es nicht zu kaufen vermag, ein Exemplar davon.«
Ich erlaubte mir die Frage, ob er diese Schrift schon früher gelesen habe?
»Ja,« versetzte er. »Frobenius, ein Schweizer Buchdrucker, sandte einige Exemplare davon nach Kastilien. Und ich hatte sie schon früher in Venedig gesehen. Jetzt ist sie in Kastilien sowohl als in Venedig verboten. Allein ich habe immer gewünscht, ein eigenes Exemplar zu besitzen, um selbst darüber urteilen zu können. Kennt Ihr Dr. Luther?« fragte er im Weggehen.
»Seit vielen Jahren schon kenne und verehre ich ihn,« antwortete ich.
»Man sagt, sein Leben sei tadellos, nicht wahr?« fragte er weiter.
»Selbst seine erbittertsten Feinde müssen dies zugestehen,« sagte ich.
»Er sprach wie ein mutiger Mann vor dem Reichstage,« begann der Fremde weiter; »ernst und ruhig wie ein aufrichtiger Mensch redet, der bereit ist, auf seinem Worte zu beharren. Kein kastilischer Edelmann hätte würdevoller sprechen können, als dieser Bauernsohn. Freilich die italienischen Priester waren anderer Ansicht; aber die Beredsamkeit, welche von der Kanzel herab Mädchen bis zu Thränen rührt, schickt sich nicht vor einer Versammlung von Männern. Dieser kleine Mönch hat seine Beredsamkeit in einer höheren Schule gelernt. Wenn Ihr je Dr. Luther wieder sehen solltet,« fügte er hinzu, »so sagt ihm, daß selbst einige Spanier an dem kaiserlichen Hof ihm Gutes wünschen.«
Und hier in Paris finde ich eine kleine Gesellschaft frommer und gelehrter Männer, wie Lefevre, Farel und Briçonnet, Bischof von Meaux, eifrig beschäftigt, die Schriften von Luther und Melanchthon zu übersetzen und zu verbreiten. Die Wahrheit, welche darin enthalten ist, nämlich die Rechtfertigung durch den Glauben an den Gekreuzigten, welche zu einem gottgeweihten Leben führt, halten sie, wie sie versichern, schon vorher aus dem Worte Gottes selbst gelernt. Allein so eifersüchtig auch die Franzosen ihre Ueberlegenheit über alle andern Nationen behaupten, so verächtlich sie auf uns ungebildete Deutsche herabsehen, so begrüßen doch die französischen Priester unsern Luther als ihren Lehrer und Bruder, und sind eben so begierig, die kleinsten Umstände seines Lebens zu hören, wie unsere Landsleute in jeder Stadt, jedem Dörfchen in Deutschland.
Man hat mir auch erzählt, daß die leibliche Schwester des Königs, die schöne und gelehrte Herzogin Margaretha von Valois, Luthers Werke liest und sehr hoch schätzt.
Ja ich denke manchmal, wenn Dr. Luther seinen Plan, den er vor einigen Jahren gefaßt, ausgeführt und sich nach Paris begeben hätte, würde er hier einen schönen Wirkungskreis gefunden haben. Das Volk hier drückt sich so offen aus; es fühlt und begreift so rasch, und sein scharfer, beißender Witz entlarvt weit schneller einen Betrug, als der nüchterne, langsame Verstand unserer Nordländer.
Basel.
Ehe ich Ebernburg verließ, hatte der Ritter Ulrich von Hutten, der sich lebhaft für mein Unternehmen interessierte, mir noch besonders empfohlen, Erasmus aufzusuchen, wenn ich je in die Schweiz kommen sollte, und mir eigenhändig einige Exemplare von Erasmus' Predigten »Lob der Narrheit« unter meine Bücher gepackt.
Ich bin diesem wackern Ritter von Herzen zugethan. Nie werde ich den herrlichen Brief vergessen, den er an Luther schrieb, vor dessen Erscheinen auf dem Reichstage: »Der Herr erhöre Dich zur Zeit der Not; der Gott Jakobs behüte Dich! O mein teurer Luther, mein verehrter Vater, fürchte nichts, sei stark; kämpfe mutig für Christum! Auch ich will tapfer kämpfen. Wollte Gott, ich könnte sehen, wie sich die Stirnen runzeln ... Der Herr behüte Dich.«
Ja, die beschämten Feinde die Stirne runzeln zu sehen, würde für den ungestümen Krieger freilich ein großer Triumph gewesen sein; allein er durfte damals nicht am Hofe erscheinen. Luthers mutige und würdevolle Verteidigung erfüllte ihn mit enthusiastischer Bewunderung. Er erklärte den Doktor für einen bessern Soldaten, als der tapferste unter den Rittern. Als wir hörten, daß Luther plötzlich verschwunden sei, wollte er mit einer Schar kühner Gesellen das Land nach ihm durchsuchen. Huttens Absichten waren edel und uneigennützig. Er war frei von kleinlichem, niederem Ehrgeize. Mit Feder und Schwert hatte er gegen Bedrückung und Heuchelei gestritten. Er haßte den römischen Hof vorzüglich als ein fremdes Joch, und die verderbte Geistlichkeit als einen rechtswidrigen Eingriff im Innern. Sein Ideal von der Ritterschaft war erhaben, und er glaubte zuversichtlich, daß dieser Stand, durch Wissenschaft erleuchtet, durch einen freien und erhabenen Glauben begeistert, im Stande wäre, Deutschland und die Christenheit zu befreien. Persönliche Gefahr und selbstsüchtige Zwecke verachtet er.
Und doch denke ich nicht, daß er bei all seiner Furchtlosigkeit und erhabenen Streben hoffte, selbst der Held seiner idealen Ritterschaft zu werden. Er besaß zu wenig von der Selbstbeherrschung, die den wahren Ritter zieren soll. In seinen Träumen von einer Christenheit, aus welcher Trug und Geiz verbannt sein, wo die edelsten und besten Männer regieren sollten, dachte er, daß Franz von Sickingen, der gute und tapfere Herr von Ebernburg, mit seiner frommen Gemahlin Hedwig das Panier ergreifen müßte, um welches sich Ulrich und alle, die es redlich meinten, scharen wollten. Luther, Erasmus und Sickingen, diese Vorbilder der drei Stände, der Geistlichkeit, der Gelehrsamkeit und der Ritterschaft könnten seiner Ansicht nach die Erneuerung der Welt vollbringen.
Erasmus hatte das Werk begonnen, indem er in dem Heiligtum der Wissenschaft das Licht enthüllte; Luther hatte es fortgesetzt, indem er dieses Licht unter dem Volke verbreitete: und die Ritter sollten es vollenden durch gewaltsame Zerstörung der Mächte der Finsternis. Kampf ist für Erasmus ein Greuel, für Luther eine traurige Notwendigkeit, für Hutten eine wahre Freude.
Ich erwarte jedoch von Erasmus nicht eben große Teilnahme für mein Werk. Es schien mir, als ob Hutten, welcher seinen klaren, lichtvollen Geist bewunderte, ihm in seiner Einbildung sein eigenes warmes, edles Herz zugeschrieben habe. Jedenfalls nahm ich mir vor, ihn in Basel aufzusuchen.
Der Zufall ersparte mir diese Mühe.
Als ich mit meinem beinahe leeren Kasten die Stadt betrat, wo ich ihn aus der Druckerei des Frobenius wieder neu zu füllen gedachte, ritt ein ältlicher Herr mit etwas gebogenem Rücken in einem Doktorsrock und pelzverbrämten Hute an mir vorüber. Seine kleinen durchdringenden, schwarzen Augen hefteten sich forschend auf mich und meine Last; dann lenkte er sein Pferd wieder um und sagte mit sanftem höflichem Tone: »Wir haben beide denselben Beruf, mein Freund. Ich mache Bücher und Ihr verkauft sie. Was habt Ihr in Eurem Kasten?«
Ich nahm drei der noch übrigen Bände heraus. Der eine war »Luthers Auslegung des Briefes an die Galater«, der andere seine »Abhandlung über das »Vater unser« und der dritte sein »Brief an den deutschen Adel«.
Die Stirne des Reiters verfinsterte sich ein wenig und er sah mich mißtrauisch an.
»Leute, welche in Zeiten der Empörung das Volk mit Munition versehen, thun es selten auf ihre eigene Gefahr. Junger Mann, Ihr habt da einen gefährlichen Auftrag übernommen, und würdet wohl thun, die Kosten zu überschlagen.«
»Ich habe die Kosten berechnet, Herr!« erwiderte ich; »und trotze freiwillig der Gefahr.«
»Nun wohl,« versetzte er; »einige sind fürs Schlachtfeld, andere für das Märtyrertum und wieder andere für keins von beiden geboren. Ein jeder bleibe seinem Berufe. Nequissimam pacem justissimo bello antifero. (Den nichtswürdigsten Frieden ziehe ich dem gerechtesten Kriege vor.) Aber die, welche das Meer über das Marschland hereinlassen, wissen nicht, wie weit es sich verbreiten wird.«
Dieses von den holländischen Dünen hergenommene Beispiel brachte mich auf den Gedanken, wer der Reiter sein könnte: und der feine, sinnliche, aber etwas satyrische Mund, die scharfen Züge, die bleiche Gesichtsfarbe und die schwarzen durchdringenden Augen, die ich schon so oft im Bilde gesehen, ließen mir keinen Zweifel mehr, mit wem ich sprach, Allein ich ließ mir meine Entdeckung nicht anmerken.
» Dr. Luther hat nichtsdestoweniger manches Gute geschrieben,« sagte er. »Wenn er bei solchen frommen Schriften geblieben wäre wie diese,« auf das Vaterunser zeigend, »hätte er unter seinen Zeitgenossen in aller Ruhe viel Gutes stiften können; aber Geheimnisse wie die hier verhandelten dem Auge des gemeinen Mannes zu enthüllen, ist Wahnsinn!« und damit schlug er hastig das Buch über den Galaterbrief zu. Dann den Brief an den Adel ansehend, warf er ihn mir in die Hand und sagte hastig:
»Diese Flugschrift ist schon an sich Empörung.«
»Was habt Ihr sonst noch für Bücher?« fragte er nach einer Pause.
Ich nahm mein letztes Exemplar von dem »Lob der Narrheit« heraus.
»Habt Ihr viele Exemplare hievon verkauft?« fragte er mit anscheinender Gleichgiltigkeit.
»Alle bis auf dieses,« versetzte ich.
»Und was sagten die Leute darüber?«
»Je nach dem Käufer,« antwortete ich. »Einige sagen, der Verfasser sei der klügste und witzigste Mensch unserer Zeit, und wenn alle wüßten innezuhalten wie er, würde die Welt nach und nach zu einem Paradiese werden, anstatt daß jetzt das Unterste zu oberst gekehrt werde. Andere behaupten im Gegenteil, der Schriftsteller sei ein Feigling, der nicht den Mut habe, die Wahrheit, die er erkannt, auch offen zu bekennen. Und wieder andere erklären, das Buch sei schlimmer als irgend eines von Dr. Luther, und dieser Erasmus sei die Quelle alles Unheils in der Welt; denn wenn er nicht den Riegel weggeschoben hätte, würde Dr. Luther nicht zur Thüre hineingegangen sein.
»Und was denkt denn Ihr?« fragte er.
»Herr,« sagte ich, »ich bin nur ein armer Krämer; aber ich denke, daß ein großer Abstand ist zwischen Pilatus, der den Herrn der Herrlichkeit, den er für unschuldig erkannt hatte und dessen Göttlichkeit er ahnte, den Feinden überlieferte, und dem heiligen Petrus, der seinen geliebten Meister verleugnete. Der Herr, welcher dem Petrus verzieh, weiß sie zu unterscheiden; er kennt seinen furchtsamen Jünger und den feigen Freund seiner Feinde, wenn es auch für die Augen der Menschen vielleicht unmöglich ist. Doch möchte ich lieber Luther auf dem Reichstage zu Worms sein, geächtet, und mit dem Bannflüche belastet, als einer von den beiden.«
»Das sind kühne Worte,« sprach er, »einen exkommunizierten Ketzer dem Könige der Apostel vorzuziehen!«
Ein Schatten flog über sein Gesicht, und nach einem höflichen Lebewohl ritt er weiter.
Nach einer Weile jedoch ritt er langsamer und winkte mir, näher zu kommen.
»Habt Ihr Freunde in Basel?« fragte er freundlich.
»Nein,« antwortete ich; »aber ich habe Briefe an den Buchdrucker Frobenius, und man hat mir aufgetragen, Erasmus aufzusuchen.«
»Wer hat Euch dies zu thun empfohlen?« fragte er.
»Der edle Ritter Ulrich von Hutten,« war meine Antwort.
»Der König aller unruhigen Geister,« murmelte er unwillig. »Erasmus von Rotterdam und dieser Feuerbrand haben wahrlich wenig miteinander gemein.«
»Ritter Ulrich hat die größte Verehrung für Erasmus,« sagte ich; »und meint, daß seine Gelehrsamkeit, vereint mit dem Schwerte einiger edlen Ritter und Luthers Predigten die Christenheit zurechte bringen könnten.«
»Ulrich von Hutten sollte zuerst seinen eigenen Wandel in Ordnung bringen,« war des Fremden Antwort. »Doch laßt uns den Streit über die Christenheit und all diese großartigen Pläne, welche doch über unsere Sphäre hinausgehen, aufgeben. Lassen wir die Ritter die Ritterschaft, die Kardinäle das Papsttum, und den Kaiser das Reich zurecht setzen. Lassen wir dem Krämer seinen Kasten, und Erasmus seine Studien besorgen. Vielleicht wird es sich noch einst herausstellen, daß seine Satyren über die Thorheiten der Klöster, und vorzüglich seine frühere Uebersetzung des Neuen Testaments, zu dem guten Werke beigetragen haben. Sein Motto ist: »Zünde das Licht an, so wird die Finsternis von selbst verschwinden.«
»Wenn Erasmus nur an dem Erfolg, den er mit erringen half, teilnehmen wollte!« sagte ich.
»An was teilnehmen?« rief er schnell. »An Luthers Exkommunikation oder Huttens wilden Entwürfen? Glaubt Ihr, daß er die groben heftigen Schmähworte eines sächsischen Mönches, oder die wilden Pläne eines abenteuerlichen Ritters billigen werde? Nein, nein! Der heilige Paulus schrieb höflich, erwiderte nicht Scheltwort mit Scheltwort; Erasmus wird warten, bis er einen Reformator findet wie der Apostel, ehe er sich der Reformation anschließt. Aber Freund,« setzte er hinzu, »ich leugne nicht, daß Luther ein frommer Mann ist und es wohl meint. Wenn Ihr Lust habt, Euren gefährlichen Handel aufzugeben und zu studieren, so kommt zu mir, und ich will Euch so viel ich kann, mit Geld und gutem Rate unterstützen. Denn ich weiß, was es ist, arm zu sein, und mir däucht, Ihr seid zu etwas besserem als zum Krämer bestimmt. Und,« fügte er, sein Pferd zum Stehen bringend, hinzu, »wenn Ihr den Erasmus wieder einen Feigling oder Verräter schelten hört, so sagt nur, daß Gott in seinem Reiche mehr Platz habe, als viele Lehrer in ihren Schulen, und daß es für Leute, welche die Dinge von verschiedenen Seiten sehen, nicht so leicht ist, sich für eine zu entscheiden. Und glaubt nur, daß die Einsamkeit derer, welche zu viel sehen, oder zu wenig wagen um eine Partei zu ergreifen, oft herbere Schmerzen bereitet, als das Blutgerüste der Märtyrer.«
»Allein,« schloß er endlich mit leiser Stimme, »hütet Euch, die Namen Erasmus und Hutten wieder mit einander zu verbinden. Ich versichere Euch, es kann nichts unähnlicheres geben. Ulrich von Hutten ist ein höchst unüberlegter, gefährlicher Mensch.«
»Ich werde gewiß Erasmus nie vergessen,« sagte ich mit einer tiefen Verbeugung, als ich die dargebotene Hand schüttelte. Und hierauf ritt der Doktor von dannen.
Ja, die Sorgen der Unentschiedenen sind ohne Zweifel noch bitterer, als die der Mutigen; ebenso wie Gift bitterer ist als Arznei und die von einem Feinde geschlagene Wunde schmerzlicher als die des Arztes. Allein es ist auch wahr, daß, je klarer die Einsicht ist in die Schwierigkeit und Gefahr, desto mehr Mut dazu gehört, ihnen zu begegnen. Der Weg des ungebildeten, einfachen Mannes, der auf der einen Seite nur das Recht, auf der andern nur das Unrecht sieht, ist natürlich weit klarer, als der Pfad dessen, welcher viel Schlimmes bei der guten Sache und etwas Wahrheit auf dem Grunde jedes Irrtums erkennt und sich entschließt, für das Recht, so gemischt es auch ist, zu dulden, und dies im Vereine mit Menschen, deren Wesen ihn abstößt, nur weil er glaubt, daß. es die Sache des Rechts, die Sache Gottes ist: In Luthers Schule mag freilich kein Raum für Erasmus und in der des Erasmus keiner für Luther sein; aber Gott kann Raum und Barmherzigkeit für beide haben.
In Basel füllte ich aus der Druckerei des Frobenius meinen Kasten wieder und erhielt von ihm ermutigende Kunde von der Ausbreitung der evangelischen Wahrheit in Italien und Spanien, vorzüglich durch Luthers Schriften. An Erasmus wandte ich mich nicht weiter.
Bei Zürich, im Juli.
Mein Herz ist voll Auferstehungslieder. In der ganzen Welt scheint es jetzt Ostern zu werden. Als ich diesen Morgen Zürich verließ, und von einem der Berge auf den herrlichen, silberklaren See herab und durch Reihen grüner, waldbedeckter Hügel hinausschaute auf die majestätische Kette der fernen in Purpur und Gold glänzenden, schneegekrönten Alpen, welche die Schweiz umgeben, und an die vielen Herzen dachte, welche seit einigen Jahren hier zu der Freiheit der Kinder Gottes erweckt worden sind, mußte ich das alte Oster- und Frühlingslied anstimmen:
Plandite cœli,
Eideat æther!
Summus et imus
Gaudeat orbis!
Transivit atræ
Turba procellæ!
Subiit almæ
Gloria palmæ!
Surgite verni,
Surgite flores,
Germina pictis
Surgite campis!
Teneris mistæ
Violis rosæ;
Candida sparsis
Lilia calthis!
Currite plenis
Carmina venis,
Fundite lætum
Barbita metrum;
Namqui revixit
Sicuti dixit
Pius illæsus
Funere Jesus.
Plaudite montes
Ludite fontes,
Resonent valles,
Repetant colles:
Io revixit
Sicuti dixit
Pius illsæus
Funere Jesus.
Zu deutsch:
Froh jauchzet, ihr Himmel!
Sanft lächle, o Lust!
Welch freudig Getümmel!
Balsamischer Duft!
Nicht schreckt mehr der Stürme
Gebrause das Ohr;
Und herrlich wächset
Die Palme empor.
Komm, Lenz, und erwecke
Die Lilien im Thal!
Mit Saaten bedecke
Die Erde zumal!
Auf blumigen Wiesen,
Auf waldigen Höh'n
Laß Veilchen entsprießen,
Laß Rosen entsteh'n!
Ertönet, ihr Lieder!
Ihr Leiern erwacht!
Erstanden ist wieder
Aus Grabesnacht,
Der für unsre Schulden
Am Kreuzesholz starb,
Uns durch sein Erdulden
Versöhnung erwarb.
Drum spielet ihr Quellen.
Ihr Hügel erschallt!
In heiteren Klängen
Antworte du Wald!
Der Herr, der erstanden,
Hat, wie er gesagt,
Aus Todesbanden
Uns Freiheit gebracht.
Und der Waldbach, welcher sich neben mir von den Felsen hinabstürzt, das wogende Gras, die nickenden Blumen der Wildnis, der rauschende Wald, die sich kräuselnden Wellen des Sees, die grünenden Hügel und die majestätischen Schneegebirge in der Ferne schienen in den Choral mit einzustimmen.
Ulrich Zwingli, mit dem ich unlängst viele Tage zugebracht habe, übt einen wunderbar stärkenden Einfluß auf seine Umgebung aus. Es ist, als ob die frische Bergluft, in welcher er seine Jugend zugebracht, ihn immer umwehte. In seiner Nähe kann man nicht niedergeschlagen sein. Während Luther bei jedem Schritt, den er gethan hat, stille steht, drängt Zwingli vorwärts und überfällt den schlummernden Feind in seiner Feste. Luther führt den Krieg wie die Landsknechte, unsere lästige und undurchdringliche Infanterie; Zwingli, gleich seinen Bergbewohnern, stürzt von der Höhe auf den Feind herab.
In der Schweiz fanden ich und meine Bücher eine sehr verschiedene Aufnahme, wie sie mir sonst nirgends widerfahren war. Das Volk ist hier so offen und zwanglos. In einigen Dörfern ließen die angesehensten Männer oder der Geistliche selbst alle Einwohner durch den Schall der Glocke versammeln, um zu hören, was ich ihnen von Dr. Luther und seinen Werken zu sagen hatte, und um seine Bücher zu kaufen. Ich wurde überall festlich bewirtet und die gemütlichen Bauern begleiteten mich meilenweit und unterhielten sich mit mir über Zwingli und Luther und die glorreichen Tage der Freiheit, welche nun anbrechen werden. Die Namen von Luther und Zwingli, wie die von Tell und Winkelried und den Helden aus den früheren Freiheitskämpfen der Schweizer, waren in jedermanns Munde.
In andern Orten dagegen umringten mich die Bauern mit zornigen Gebärden, schimpften mich einen Spion und fremden Eindringling, und jagten mich mit Steinen und rohen Scherzen von dannen, drohend, daß ich ein anderes Mal nicht so leichten Kaufes davon kommen sollte.
An manchen Orten ist man hier viel weiter gegangen, als bei uns in Deutschland. Die Bilder sind aus den Kirchen verbannt und der Gottesdienst wird in der Volkssprache gehalten.
Doch die größte Freude ist es zu sehen, daß das Licht nicht von Ort zu Ort angesteckt worden ist, wie menschliche Erleuchtung sich verbreitet, sondern zugleich in Deutschland, Frankreich und der Schweiz anbrach, wie himmlisches Licht von oben herab aufgeht. Darum ist es auch nicht bloß eine düstere Beleuchtung, sondern Tageshelle, Frühlingsklarheit. Beide, Lefevre in Frankreich und Zwingli in der Schweiz, haben eine Zeit der Dunkelheit und der Stürme durchgemacht; aber beide, erweckt durch das himmlische Licht der neuen Welt, fanden sich nicht allein, sondern sahen, daß auch andere erwacht waren, daß das Tagewerk gleichsam mit Morgengesängen begonnen hatte.
Jetzt ziehe ich wieder nach Norden. Ich gedenke aus meines Vaters Druckerei neuen Vorrat zu holen. Auch sehne ich mich nach Nachrichten von allen, die meinem Herzen teuer sind. Vielleicht bekomme ich Dr. Luther noch zu sehen, und finde Gelegenheit, meinen Landsleuten die evangelische Wahrheit zu predigen.
Denn es ist unlängst bessere Kunde aus Deutschland zu uns gelangt; man glaubt, daß Dr. Luther sich in Freundeshut befindet, wo? ist aber noch immer ein Geheimnis.
Im Gefängnis eines Dominikanerklosters in Franken.
August 1521.
Wie ist alles so plötzlich für mich verwandelt worden! Aufs neue umgeben mich düstere Gefängnismauern, und durch Kerkergitter schau ich hinaus in die schöne Welt, die ich vielleicht nie wieder betreten darf. Doch ich habe dies mit eingerechnet, als ich mich entschloß, die frohe Botschaft unserer Erlösung weit und breit bekannt zu machen. Es war diesen Preis wert; es ist ihn wert, was Menschen mir auch Uebels thun mögen. Denn ich bin überzeugt, daß meine Arbeit nicht vergeblich gewesen ist.
Gestern Abend mit untergehender Sonne erreichte ich wieder das Pfarrhaus des Priesters Ruprecht in dem fränkischen Dörflein. Die Thüre stand offen; allein ich hörte keine Stimme. Das Gärtchen sah vernachlässigt aus. Die Reben hingen unangebunden vom Geländer herab. Die kleine Wohnstube, welche sonst so rein gewesen, sah öde und unordentlich aus. Dicker Staub lag auf den Stühlen, und auf dem Tische standen noch die Ueberreste der letzten Mahlzeit. Und doch konnte sie nicht unbewohnt sein. Ein Buch, in dem man unlängst mußte gelesen haben, lag aufgeschlagen auf dem Fensterbrett. Es war Luthers Kommentar über das Vaterunser, welches ich vor vielen Monaten auf der Bank zurückgelassen hatte.
Ich setzte mich an das Fenster und sah bald darauf den Priester langsam durch den Garten kommen. Seine Gestalt war viel gebeugter, als da ich ihn das letzte Mal sah. Er schaute nicht herauf, ein Zeichen, daß er niemand erwartete, ihn zu bewillkommnen. Als ich ihm aber entgegen ging, faßte er herzlich meine Hand und sein Gesicht erheiterte sich. Allein beim Anblick des Buches, das ich in der Hand hielt, verbreitete sich ein trüber Schatten über seine Züge, er bot mir einen Stuhl an und setzte sich schweigend mir gegenüber.
Nach einigen Minuten sah er auf und sagte mit trauriger Stimme: »Dies Buch hat vollbracht, was alle Anklagen und Schrecken der alten Lehre nicht vermocht hatten. Es hat uns getrennt. Sie hat mich verlassen.«
Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »An dem Abend, da Ihr das Buch auf die Bank gelegt hattet, fand ich sie bei meiner Heimkehr beschäftigt, darin zu lesen. »Sieh',« sagte sie, »endlich hat jemand ein religiöses Buch für mich geschrieben. Es lag hier aufgeschlagen bei den Worten: Wenn du vor Gott und Menschen erkennest, daß du ein Narr, ein Sünder, unrein und verdammt bist, dann bleibt dir keine andere Stütze, kein anderes Heil, als in Jesu Christo. Wer Ihn kennt, versteht das Wort des Apostels: Christus ist uns gemacht von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung. Er ist das Brot Gottes, –unser Brot, das der himmlische Vater uns als Seinen Kindern gegeben hat. Glauben ist nichts anderes als dieses Himmelsbrot genießen. Und siehe ferner! Das Buch sagt, Gottes Herz werde gerührt, wenn wir ihn Vater nennen, –und hier: Der du bist im Himmel. Wer da erkennt, daß er einen Vater im Himmel habe, gesteht, daß er hier auf Erden eine Waise sei. Darum fühlt er heiße Sehnsucht, wie ein Kind, das fern vom Vaterlande einsam in der Fremde lebt. Es ist, als ob man sagte: Ach, mein Vater! Du bist im Himmel, und ich, Dein armes Kind, bin hier auf Erden, fern von Dir, umringt von Gefahren, Not und Kummer. »Ach, Ruprecht,« sagte sie, einen Strom von Thränen vergießend, »das ist gerade, was ich fühle, so verloren, so verwaist und fern von der Heimat,« und befürchtend mir wehe gethan zu haben, setzte sie hinzu: »Nicht als ob du mich vernachlässigtest. Du weißt wohl, daß ich es nicht so meine. Aber kann es denn wahr sein, daß Gott mich wirklich wieder annehmen will, nicht nach langen Jahren der Buße, sondern jetzt hier, an Seinem Vaterherzend«
»Ich konnte nur wenig zu ihrer Belehrung sagen; aber von dieser Zeit war das Buch ihr beständiger Begleiter.«
»Sie bat mich, in meinen lateinischen Evangelien alle Stellen aufzusuchen, welche von dem Leiden Jesu zur Versöhnung für die Sünde und von Gott als dem Vater handeln. –Ich war erstaunt über die Menge. Das ganze Buch schien voll davon. So vergingen einige Tage bis sie eines Abends zu mir kam und sagte: »Ruprecht! Wenn Gott wirklich so unendlich gütig und freundlich ist und uns so geliebt hat, da müssen wir ihm auch gehorchen, nicht wahr?« Um alle Welt hätte ich nicht Nein sagen können; aber ich hatte auch nicht den Mut Ja zu sagen; denn ich verstand, was sie damit meinte.«
Hier machte er wieder eine Pause.
»Ich wußte nur zu wohl, was sie meinte, als ich am nächsten Morgen das Frühstück bereit stehend und alles wie gewöhnlich gekehrt und geordnet und auf dem Tische einen Zettel fand, auf welchem mit gedruckten Buchstaben, die sie aus dem Buche nachgemalt haben mußte, denn sie konnte nicht schreiben, die Worte standen: »Lebe wohl! Wir werden jetzt für einander beten können. Und Gott wird uns einander wieder finden lassen im Vaterhaus, wo wir nicht mehr fürchten müssen, Ihn zu betrüben.«
»Wißt Ihr, wo sie jetzt ist?« fragte ich.
»Sie ist mehrere Meilen von hier bei einem Bauern im Dienste,« antwortete er. »Ich habe sie einmal gesehen. Sie sah schwach und mager aus. Aber sie hat mich nicht gesehen.«
Der Gedanke, welcher schon so oft in mir aufgestiegen war, kehrte mit beinahe unwiderstehlicher Gewalt zurück: Wenn das Gelübde der Ehelosigkeit dem Willen Gottes zuwider ist, kann es dann noch bindend sein? Doch wagte ich nicht, meinem Wirt diesen Zweifel mitzuteilen, sondern sagte blos: »Laßt uns beten, daß Gott euch beide leiten und führen möge! Das Herz kann schweres ertragen, wenn nur das Gewissen leicht ist.«
»Ihr habt Recht,« antwortete er. Und so knieten wir nieder; ich betete, daß Gott uns lehren möchte von Grund unserer Herzen zu sagen: »Vater im Himmel, nicht mein Wille, sondern nur der Deinige geschehe!«
Den folgenden Morgen sagte ich ihm Lebewohl und ließ ihm noch mehrere andere Schriften von Luther zurück. Ich war entschlossen keinen Augenblick zu verlieren, und Melanchthon und die andern Doktoren in Wittenberg aufzusuchen und ihnen diesen Fall vorzulegen.
Ach! und jetzt werde ich vielleicht Wittenberg nicht wieder sehen.
Nicht oft hatte ich mich in ein Kloster gewagt; allein heute, als ich durch die zu der Abtei gehörigen Wiesen wanderte, begegnete ich einem jungen Mönch, der so viel Interesse für meine Bücher zeigte, daß ich ihn in sein Kloster begleitete, wo man, wie er glaubte, mir viele Exemplare abkaufen würde. Anstatt dessen aber vernahm ich, während ich seiner Rückkehr in der Vorhalle wartete, einen Streit zorniger Stimmen im Innern, und ehe ich verstehen konnte, warum es sich handelte, sah ich mich von drei oder vier Mönchen gepackt, die sich meines Kastens bemächtigten, mir die Hände banden und mich in das Klostergefängnis schleppten, wo ich mich jetzt befinde.
»Es ist Zeit, daß dieser Pestilenz Einhalt gethan werde,« sagte einer von ihnen. »Ihr möget Gott danken, wenn Euch nicht dasselbe Schicksal trifft, wie eure giftigen Bücher, die heute Abend im Hofe verbrannt werden sollen.«
Mit diesen Worten ließ man mich in dem niedrigen, feuchten, dunkeln Kerker allein, wo eine einzige kleine Spalte in der Mauer nur eben Licht genug hereinläßt, um die eisernen Ketten zu zeigen, welche von der Mauer herabhängen. Doch welche Macht vermag mich zum Gefangenen zu machen, so lange ich singen kann:
Mortis portis fractis, fortis
Fortior vim sustulit;
Et per crucem regem trucem
Infernorum perculit.
Lumen clarum tenebrarum
Sedibus resplenduit;
Dum salvare, recreare
Quod creavit voluit.
Hine creator, ne peccator,
Moreretur, moritur;
Cujus morte, nova sorte,
Vita nobis oritur.
Zu deutsch:
Zerbrochen ist des Todes Pforte,
Und der Starke unterliegt
Getroffen von dem Lebensworte,
Durch das Kreuz wird er besiegt:
Ja, des Höllenkönigs Macht
Christus hat zu Fall gebracht.
Das hellste Licht erschien den Armen
In der tiefsten Finsternis,
Weil Er, zu retten aus Erbarmen
Sein Geschöpf, herab sich ließ;
Und in heil'ger Liebesthat
Ward erfüllt Sein Liebesrat.
Damit der Sünder nicht verderbe,
Litt der Schöpfer selbst den Tod;
Damit er Leben ihm erwerbe,
Ihn erlös aus Sünd und Not,
Stieg er in des Grabes Nacht:
Die Erlösung ist vollbracht!
Singen jetzt nicht Tausende von Herzen dieses Auferstehungslied, von denen manche durch mich diese frohe Botschaft empfangen haben? Gibt es nicht im einsamen Pfarrhaus wie in der geschäftigen Bauernfamilie, im Wald und Feld, in Städten und Dörfern, Herzen, die dadurch von den Fesseln der Sünde befreit worden sind?
Und in Wittenberg sowohl als im Kloster singen meine Lieben es denn nicht auch?
September.
Die Zeit däucht mir lang, während ich in Unthätigkeit hier liegen muß. Würde es für Magdalena nicht schwer gewesen sein mit der frohen Botschaft »der Herr ist auferstanden« sich auf ihrem Wege zu den trauernden Jüngern aufgehalten zu sehen, noch ehe sie es ihnen sagen konnte? –
Oktober.
Ich habe Hoffnung zu entkommen. Vor einigen Tagen entdeckte ich in einer Ecke meines Kerkers den obern Teil eines Bogens, der wahrscheinlich zu einer vermauerten Thüre gehörte. Nach und nach habe ich bei Nacht eine Treppe aufgegraben und diesen Morgen gelang es mir, einen der Steine herauszuheben, womit die Pforte verrammelt gewesen, und durch diese Oeffnung einen Blick hinaus ins Freie zu thun. Ich sah auf eine Wiese, die sich bis zu dem Flusse erstreckt, der die Mühlen der Abtei treibt. –
Heute kamen zwei Mönche, um mich zu dem Prior zu führen, der mich über meine Ketzereien verhörte. Allein diese Nacht hoffe ich die übrigen Steine vollends loszumachen und noch vor Tagesanbruch frei über die bewaldeten Hügel jenseits des Thales zu ziehen.
Freilich fühle ich mich entkräftet aus Mangel an Nahrung und frischer Luft, und mein Blut rinnt mit fieberischer Schnelligkeit durch meine Adern; doch ein paar Stunden auf jenen frischen, luftigen Höhen werden mich ohne Zweifel schon wieder stärken.
So werde ich denn meine Mutter und Else, Thekla und das kleine Gretchen und alle –alle bis auf eine, die, wie ich fürchte, das Kloster noch gefangen hält –wiedersehen! Auf's neue werde ich das Land durchziehen dürfen, um die frohe Botschaft zu verbreiten: »Der Herr ist wahrhaftig auferstanden; das Werk der Erlösung ist vollbracht und Er, welcher einst, ein mitleidsvoller Helfer, auf Erden lebte und litt, lebt und regiert jetzt, ein mächtiger Erlöser im Himmel.«