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XVI.
Fortsetzung von Elsens Geschichte.

Wittenberg, 1. November 1517. Am Allerheiligentag.

Als ich gestern mit Gottfried am Fenster saß und Gretchen in Schlaf wiegle, sahen wir Dr. Luther rasch die Straße hinauf nach der Schloßkirche gehen. Sein Schritt war fest und schnell, und er schien zu sehr in Gedanken versunken, um zu bemerken, was um ihn vorging. Es war etwas ungewöhnliches in seiner Haltung, was meinem Gatten sogleich auffiel. Er trug sein Haupt aufrecht und ein klein wenig zurückgebeugt, wie wenn er predigt. Er hatte einen großen Pack Papiere in der Hand, und obgleich er augenscheinlich in tiefe Gedanken versunken war, so sah er doch mehr einem Feldherrn ähnlich, der nach dem Schlachtfelde eilt, als einem in ernste Betrachtungen versunkenen Theologen.

Als wir nun diesen Morgen in die Frühmesse gingen, bemerkten wir, daß eine große Menge vor der Thüre der Schloßkirche versammelt war, nicht eine wilde Rotte jedoch, sondern eine eifrige Schar wohlgekleideter Männer, Professoren, Bürger und Studenten. Diejenigen, welche der Thüre zunächst waren, lasen eine Schrift, die dort angeschlagen war, während die Andern in eifrigem, doch nicht lautem Streit begriffen waren.

Gottfried fragte, was vorgefallen sei.

Es sind bloß einige lateinische Thesen von Dr. Luther gegen den Ablaß,« antwortete ein Student, »worin er zu einer Disputation über diesen Gegenstand einladet.«

Ich fühlte mein Herz erleichtert, zu hören, daß es weiter nichts war, und so traten wir ruhig in die Kirche.

»Es ist bloß eine Universitätsangelegenheit,« sagte ich. Mir war zuerst bange, ein großes Unglück sei geschehen; ein Einfall der Türken, oder ein Verlust in der kurfürstlichen Familie.

Als wir jedoch zurückkehrten, war die Menge noch mehr angewachsen, und der Streit schien immer hitziger zu werden. Ein Student übersetzte die Thesen für die Ungelehrten ins Deutsche, und wir standen still, um zu hören.

Was er las, schien mir ganz wahr, aber gar nicht ungewöhnlich. Oft schon hatten wir Dr. Luther dasselbe sagen und predigen hören. Als wir dazu kamen, las der Student folgende Worte:

»Es ist ein großer Irrtum, wenn man seine Sünden abbüßen zu können wähnt; denn Gott vergibt sie freiwillig und unverdienter Weise, aus unergründlicher Gnade, und verlangt nichts dafür als ein gottseliges Leben.«

Ich erinnere mich dieses Satzes genau, weil ich denselben in der Predigt von ihm gehört hatte. Dann kamen andere Behauptungen, wie diese, daß es sehr zweifelhaft sei, ob der Ablaß die Seelen aus dem Fegefeuer erretten könne, und daß Almosen geben besser sei, als Ablaßzettel kaufen. Ich begriff nicht, warum diese Sätze eine solche Menge herbeiziehen und solch lebhaftes Interesse erregen konnten, wenn es nicht daher kam, daß sie lateinisch waren.

Ein Satz besonders brachte, wie ich wohl werkte, sehr gemischte Gefühle in der Menge hervor. Es war die Erklärung, daß nur die heilige Schrift jeden Streit in Glaubenssachen entscheiden könne, und daß alle Lehrer der Theologie zusammen keinem einzigen Glaubenssatze unumstößliche Autorität zu geben vermöchten.

Am Schlusse versicherte Dr. Luther, daß er kein Ketzer sei, was auch gewisse unaufgeklärte, befangene Leute denken möchten.

Warum hält es Dr. Luther für notwendig, mit der Erklärung zu schließen, daß er kein Ketzer sei?« fragte ich Gottfried auf dem Heimweg. »Sind nicht viele dieser Thesen voll Ehrfurcht vor dem Papst und der Kirche? Und warum erregen sie solches Aufsehen? Dr. Luther sagt nicht mehr, als was viele von uns denken!«

»Wohl war, Else,« antwortete Gottfried ernsthaft, »aber das auszudrücken verstehen, was andere Menschen denken, macht den Dichter oder Philosophen, und das zu sagen wagen, was sich andere blos zu denken erlauben, macht den Märtyrer, oder den Reformator, oder beides.«

 

20. November.

Es ist merkwürdig, welches Aufsehen diese Thesen machen. Christoph kann sie gar nicht schnell genug drucken. Die lateinische und deutsche Druckerei sind damit beschäftigt; denn sie sind übersetzt worden, und aus allen Teilen Deutschlands kommen Bestellungen darauf.

Es heißt, Dr. Tetzel sei wütend, und viele Prälaten ängstlich, wie es ablaufen werde; der neue Bischof hat Luther abgerathen, eine Erklärung derselben zu veröffentlichen. Man sagt sogar, der Kurfürst sei gar nicht zufrieden damit, weil er fürchtet, seine vor kurzem gegründete Universität möchte darunter leiden.

Allein die Studenten drängten sich mehr als je zu Dr. Luthers Vorlesungen. Er ist der Held der deutschen Jugend.

Doch ist niemand mehr für ihn begeistert als unsere Großmutter. Sie verlangte durchaus am Allerheiligenfest in die Kirche geführt zu werden, und so schwankte sie durch die Kirche und setzte sich gerade unter die Kanzel, der Gemeinde gegenüber.

Sie hatte Augen und Ohren nur für ihn. Als er von der Kanzel herunterkam, ergriff sie seine Hand und stammelte einen leisen Segenswunsch. Nachdem sie wieder zu Hause angekommen war, saß sie lange Zeit schweigend in ihrem Lehnsessel und wischte sich von Zeit zu Zeit Thränen aus ihren Augen.

Als Gottfried und ich ihr gute Nacht wünschten, hielt sie unsere beiden Hände fest in den ihrigen und sagte:

»Kinder, seid mutiger als ich gewesen bin! Dieser Mann predigt die Wahrheit, für welche mein Gemahl gestorben ist. Gott hat ihn Euch gesendet. Bleibt ihm treu, verlaßt ihn nicht. Nicht jeder ist so glücklich wie ich, das Licht, das er in der Jugend verließ, in seinem Alter aufs neue scheinen zu sehen. Mir klingen seine Worte wie Stimmen von den Toten. Sie sind es wert, daß man dafür in den Tod gehe.

Meine Mutter ist nicht zufrieden damit. Sie hört zwar Dr. Luther gern, aber sie ist auch bange, was Tante Agnes davon denken werde. Sie meint, er sei zuweilen zu heftig, und es thut ihr leid, wenn jemand betrübt wird. Der Ablaßhandel gefällt auch ihr gar nicht, aber sie hofft doch, daß Dr. Tetzel es redlich meine, und daß der Papst es ohne Zweifel am besten wissen müsse. Ueberhaupt meint die gute Mutter, daß alle guten Menschen im Grunde ihrer Herzen dasselbe glauben, aber in der Hitze des Streites weiter gehen als sie beabsichtigen, und daß dadurch nur Haß und Zorn genährt werde. Sie dachte, daß Dr. Luther ganz recht hatte, seine Beichtkinder, die sich einbildeten, ohne Buße nur durch den Ablaßzettel selig zu werden, zu ermahnen; warum er aber die ganze Stadt mit diesen Thesen aufgeregt habe, könne sie nicht begreifen, und vollends am Allerheiligentag, wo so viele Fremde zur Stadt kommen und die heiligen Reliquien ausgestellt werden, und jeder in Andacht versunken sein sollte!

»Ach, Mütterchen,« sagte mein Vater, »Frauen sind zu weichherzig für Pflügerarbeit. Du könntest dich nie entschließen, die Schollen aufzureißen und all die hübschen, wilden Blümchen zu zerstören. Aber wenn die Ernte kommt, wollen wir dich die Garben binden oder hinter den Schnittern drein Aehren lesen lassen. Rauhe Männerhände könnten dies nie so gut wie du.«

Gottfried sagte auch, daß sein Eid, den er als Doktor der Gottesgelehrtheit abgelegt habe, es Luther zur Pflicht mache, wahre Gottesgelehrtheit zu predigen, und daß sein Priestereid ihn verpflichte, seine Herde vor Irrtum und Sünde zu bewahren. Gottfried sagt, wir leben in stürmischen Zeiten. Für ihn mag es wohl das beste sein, und an seiner Seite bin ich mit allem zufrieden, und ich bin ja an rauhe Pfade gewöhnt. Allein wenn ich mein kleines, zartes Gretchen betrachte, wie es mit seinen vom Schlafe geröteten Wangen im Bettchen liegt, wünsche ich doch, der Kampf möchte zu ihren Lebzeiten noch nicht beginnen.

Dr. Luther hat die Kosten überschlagen, ehe er jene Thesen an die Kirchthüre anschlug. Darum that er es so im Geheimen, ohne sich mit irgend einem Freunde zu beraten. Er wußte, daß es ein Wagnis war, und beschloß edelmütig, keinen andern, –weder den Kurfürsten, noch einen Professor oder Pastor –in die Gefahr zu verwickeln, welcher er ohne Zaudern sich aussetzte.

 

Dezember 1517.

Darin stimmen wir alle überein, daß Dr. Luthers Erklärung der Epistel an die Galater ganz herrlich ist. Gottfried hat die Vorlesungen gehört und nachgeschrieben, und teilt sie uns in meines Vaters Hause mit. An den Winterabenden versammeln wir uns alle um ihn herum, während er die begeisternden Worte uns vorliest. Solche Worte hat man, glaube ich, nie gehört. Gestern las er uns zum zwanzigstenmal, was Dr. Luther über die Worte sagte: »Der mich geliebet und sich selbst für mich gegeben hat.«

»Lies mit Nachdruck,« sagte er, »die Worte mich und für mich. Drücke dieses »mich« tief in dein Herz, und zweifle nicht, daß dieses »mich« auch dich angeht; daß also Christus nicht bloß Petrus und Paulus geliebt, und sich für sie dahin gegeben hat, sondern daß wir an dieser Gnade ebensowohl Teil haben wie sie. Denn da wir nicht läugnen können, daß wir alle Sünder und verloren sind, so können wir auch nicht läugnen, daß Christus für unsere Sünden gestorben ist. Darum, wenn ich fühle und bekenne, daß ich ein Sünder bin, warum sollte ich nicht auch sagen, daß ich durch die Gerechtigkeit Christi gerecht gemacht bin, besonders wenn ich höre, daß Er mich geliebt und Sich für mich dahingegeben hat.«

Dann bat meine Mutter, ihre Lieblingsstelle zu wiederholen: »O Christus, ich bin Deine Sünde, Dein Fluch, Dein Zorn Gottes, Deine Hölle, und Du bist im Gegenteil meine Gerechtigkeit, mein Segen, mein Leben, meine Gnade vor Gott, mein Himmel!«

Und dann, wo er davon spricht, daß »Christus ward für uns zum Fluch gemacht, das unschuldige und unbefleckte Lamm Gottes, in unsere Sünden gehallt, weil Gott unsere Sünden nicht auf uns, sondern auf Seinen Sohn legte, damit Er die Strafen dafür tragen, unser Frieden werden möchte, daß durch Seine Wunden wir geheilt würden.«

Ferner: »Die Sünde ist ein mächtiger Eroberer, der die ganze Menschheit, Gelehrte und Ungelehrte, Heilige, Weise und Mächtige verschlingt. Dieser Tyrann wirft sich auf Christum, und will ihn durchaus verschlingen, wie alle andern. Aber er sieht nicht, daß Christus ein Wesen von unüberwindlicher, ewiger Gerechtigkeit ist. Daher muß natürlich die Sünde in diesem Streite überwunden und getötet werden, und Gerechtigkeit überwinden, leben und herrschen. So ist in Christo alle Sünde überwunden, getötet und begraben, und die Gerechtigkeit bleibt Sieger und herrscht auf ewig.«

»In gleicher Weise streitet der Tod, dieser mächtige Beherrscher der ganzen Welt, der Könige, Fürsten, wie alle Menschen dahinrafft, mächtig mit dem Leben, und glaubt es völlig überwunden und verschlungen zu haben. Allein das Leben war unsterblich, daher, als es überwunden war, überwand, besiegte und tötete es den Tod. Darum ist der Tod durch Christum besiegt und abgethan, so daß es jetzt nur ein gemalter Tod ist, welcher, seines Stachels beraubt, diejenigen nicht mehr verwunden kann, die in Christo Jesu sind, welcher des Todes Tod geworden ist.«

»So kämpft auch der Fluch mit dem Segen und möchte ihn verdammen und vernichten; aber er kann es nicht. Denn der Segen ist von Gott und ewig; darum muß der Fluch notwendig das Feld räumen. Denn wenn der Segen in Christo überwältigt werden könnte, so würde Gott selbst überwältigt. Aber dies ist unmöglich; daher überwältigt und zerstört Christus, welcher die göttliche Macht, Gerechtigkeit, Segen, Gnade und Leben ist, jene Ungeheuer, Sünde, Tod und Fluch, ohne Krieg und Waffen in diesem unserm Leibe, so daß sie den Gläubigen nichts mehr anhaben können.«

Solche Wahrheit ist wohl des Kampfes wert; aber wer, außer dem Teufel, möchte dagegen kämpfen? Ich möchte wohl wissen, was Fritz darüber denkt.

 

Wittenberg, Februar 1518.

Christoph kam gestern Abend vom Marktplatz nach Hause, wo die Studenten Tetzels Thesen, welche er als Antwort auf die Dr. Luthers geschrieben hat, verbrannten. Tetzel versteckt sich hinter der päpstlichen Autorität, und klagt Luther an, daß er den heiligen Vater selbst angreife.

Allein Dr. Luther sagt, daß nichts in der Welt ihn je zum Ketzer machen werde, daß er der Stimme des Papstes gehorchen will, wie der Stimme Jesu Christi selbst. Die Studenten haben dieses Feuer ganz auf ihre eigene Verantwortlichkeit angezündet. Sie sind voll Begeisterung für Dr. Martin, und voll Entrüstung gegen Tetzel und die Dominikaner.

Wer kann daran zweifeln, wie der Streit zwischen Gelehrsamkeit, Aufrichtigkeit und Wahrheit auf der einen Seite, und einer Hand voll verächtlicher, geiziger Mönche auf der andern ablaufen werde? Und dann beschrieb er das Feuer und die Reden der Studenten mit einem Enthusiasmus, als wenn es ein Sieg über Tetzel oder die Ablaßkrämer selbst gewesen wäre.

»Mir scheint es aber,« sagte ich hierauf, »als ob es Dr. Luther gar nicht so wohl dabei zu Mute wäre, wie Euch. Ich habe bemerkt, daß er recht ernst, ja zuweilen wirklich traurig aussieht. Es scheint mir nicht, daß er den Sieg schon für gewonnen hält.«

»Junge Krieger,« versetzte Gottfried, »mögen am Vorabend ihrer ersten Schlacht so heiter sein wie vor einem Turniere. Veteranen sind ernst vor der Schlacht. Ihr Mut kommt mit dem Kampfe. So wird es mit Dr. Luther der Fall sein. Denn der Kampf naht sicher heran. Schon fallen einige seiner alten Freunde von ihm ab. Es heißt, der Censor in Rom, Prierias, habe seine Thesen verworfen und dagegen geschrieben.«

»Allein man sagt auch,« erwiderte Christoph, »daß Papst Leo Luthers Talent gelobt und gesagt habe, die Mönche tadeln ihn nur aus Neid und Mißgunst. Dr. Luther glaubt, daß der Papst, sobald ihm die Augen über die Ablaßhändler geöffnet werden, dieselben abschaffen werde.«

»Ehrliche Menschen halten alle andern für ehrlich, bis deren Unredlichkeit an den Tag kommt,« sagte Gottfried trocken, »aber der römische Hof kostet viel und der Ablaß ist einträglich.«

Diesen Morgen fragte unsere Großmutter ängstlich, was gestern Abend das Geschrei auf dem Marktplatze und der Schein und das Knistern zu bedeuten gehabt habe?

»Man hat bloß Tetzels lügenhafte Thesen verbrannt,« antwortete Christoph. Sie schien dadurch beruhigt.

»In meiner Kindheit habe ich ähnlichen Tönen gelauscht,« sagte sie. »Aber damals verbrannte man etwas anderes als Bücher und Papiere auf den Marktplätzen.«

»Tetzel droht auch damit,« versetzte Christoph.

»Und das wird er sicherlich thun, wenn er kann,« erwiderte sie, und versank dann in ein langes Stillschweigen.


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