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Eisenach, im Jahre 1505.
Fritz ist wieder bei uns zu Hause. Er sieht jetzt mit seinem Schnurrbart und Schwerte so männlich aus, wie unser Vater. Wie macht der Klang seiner tiefen Stimme, sein fester Tritt das Haus so heiter! Zuweilen, wenn ich ihn anschaue, wie er die Kinder scherzend in die Höhe wirft und dann wieder auffängt, oder wie er mit Christoph und Pollux Bälle schleudert, oder des Abends zuweilen bei den öffentlichen Spielen mit Bogen und Pfeilen schießt, steigt mein alter Wunsch wieder in mir auf, daß er doch in jenen Zeiten gelebt haben möchte, als unsere Vorfahren in den Schlössern Böhmens wohnten, daß Fritz ein Ritter wäre und an der Spitze einer tapfern Schar auszöge, für eine gute Sache zu streiten, etwa gegen die Türken, welche, wie man sagt, gegenwärtig das Reich, ja die ganze Christenheit bedrohen. Für mich ist die kleine, heimatliche Welt groß und wichtig genug; aber für ihn ist dieses bürgerliche Leben zu eng und zu ärmlich. Ich wollte, er hätte es mit Menschen anstatt mit Büchern zu thun. Frauen können lesen lernen und denken, wenn sie Zeit dazu haben (freilich wohl nicht so gut wie Männer); ja ich habe sogar von Frauen gehört, welche Bücher geschrieben haben. Die heilige Barbara und die heilige Katharina verstunden sich auf Astronomie, Astrologie und Philosophie und konnten, ich weiß nicht wie viele Sprachen reden. Aber sie hätten nicht ausziehen können, mit Schild und Speer bewaffnet, wie der heilige Georg von Kappadocien, um die gefesselte Prinzessin zu befreien und den großen afrikanischen Drachen zu erlegen. Und ich möchte, daß Fritz Dinge vollbrächte, die Frauen nicht thun können. Seine schlanke Gestalt ist so kraftvoll, sein dunkles Auge hat solche Macht, obgleich wir nach allem, was er uns von seiner fürstlichen Kost, die er in dem Stifte zu Erfurt erhält, geschrieben hat, nicht erwarteten, ihn so mager zu finden.
Er hat mir den Goldgulden von meiner Patin wieder zurückgebracht, indem er mir sagte, er sei jetzt ein unabhängiger Mann, der seinen Unterhalt verdiene und keine solche Geschenke mehr brauche. Allein da ich ihn nun einmal Fritzen bestimmt habe und er mein Eigentum ist, so habe ich das Recht, ihn auch für Fritz auszugeben und kann damit während der wenigen Tage, die er bei uns ist, besseres Essen als gewöhnlich anschaffen, und das ist mir ein großer Trost, weil Fritz dann nicht erfährt, wie kärglich es oft bei uns hergeht.
Ich schäme mich vor mir selbst, aber ich weiß nicht, was mir fehlt, seit Fritz zurückgekehrt ist. Zwei Jahre lang habe ich mich Tag und Nacht nach diesem Augenblicke gesehnt. Ich dachte, wir würden gerade dasselbe Leben wieder beginnen, wie vormals. Ich dachte an unser Plauderstündchen in der Rumpelkammer, wo wir alle unsere Verlegenheiten, unsere besonderen Angelegenheiten sowie die der Familie besprachen, unsere Herzen rückhaltlos gegen einander ausschütteten, so daß es eigentlich nicht Reden, sondern lautes Denken war.
Und jetzt, anstatt wie sonst jede Kleinigkeit aus unserm täglichen Leben zu kennen, so daß eines weiß, was das andere fühlt, ohne es auszusprechen, haben wir eine ganze Geschichte neuer Erfahrungen allmälig einander zu erzählen und wissen nicht recht, wo wir anfangen sollen. Keines der andern fühlt wie ich. Für die Eltern und die Kleinen ist Fritz alles, was er ihnen ehemals war; und warum sollte ich mehr erwarten? Ja, ich weiß eigentlich selbst nicht recht, was ich erwartet habe oder was mir fehlt. Warum sollte Fritz für mich mehr sein als für die andern? Es ist selbstsüchtig, dies zu wünschen, und kindisch, mir einzubilden, daß zwei Jahre keine Veränderung hervorbringen sollten. Könnte ich das wünschen? Freue ich mich nicht selbst seiner Stärke, seiner freien, männlichen Haltung? Könnte ich von einem Studenten der berühmten Erfurter Universität, der bald Baccalaureaus sein wird, erwarten, daß er sich auf einen Haufen alter Bücher in der Rumpelkammer setzen und seine Zeit mit mir verplaudern werde? Ueberdies, was habe ich ihm zu sagen? Und doch, als diesen Abend zum dritten Mal seit seiner Rückkehr das Dämmerstündchen kam, ohne daß er daran dachte, konnte ich mich meiner Betrübnis nicht erwehren und flüchtete mich hierher in die einsame Kammer.
Fritz sitzt schon über eine Stunde in der Wohnstube, von den Kindern umringt, denen er Geschichten aus dem Studentenleben erzählt, von seinem poetischen Verein, wo er und seine Freunde zusammenkommen, um ihre eigenen Gedichte vorzutragen oder Uebersetzungen alter Bücher, die unlängst aufgefunden worden sind und frischer und geistvoller sein sollen als irgend eines der neuern; von den Zusammenkünften, wo gelehrte Streitfragen besprochen werden, und den großen Gesangvereinen, wo Hunderte von Stimmen sich zu einem Chore verbinden, der voller und herrlicher tönt als die Orgel selbst und wobei Martin Luther der Anführer und die Seele des Ganzen ist; dann von den Kämpfen unter den Studenten, an welchen Martin Luther sicher keinen Anteil nimmt, die aber Christoph und Pollux mehr als alles andere interessieren. Die Knaben standen Fritz zur Seite und lauschten seinen Worten mit weit offenen Augen. Chrimhilde und Atlantis saßen dicht hinter ihm mit ihrer Nätherei, während die kleine Thekla auf seinem Schoße kauerte und mit seinem Degengehenk spielte, und die kleine Eva ihm gegenüber auf ihrem Lieblingsplätzchen, dem Fensterbrette, saß. Zuerst hielt sie sich in einiger Entfernung von ihm und sprach nichts; keineswegs aus Schüchternheit, denn dieses Kind ist, glaube ich, vor Niemandem bange, sondern zufolge einer ihr eigentümlichen Art, die Menschen zu beobachten, als ob sie dieselben wie eine neue Sprache auswendig lernen wollte; oder wie ein Fürst, der den Charakter eines Unterthanen erst erforschen will, ehe er ihn in seinen Dienst nimmt. Und dieses kleine Geschöpf sollte sich mit unserm Fritz dergleichen herausnehmen! Allein man kann ihr nicht widerstehen. Er hat sein Examen bestehen müssen, wie wir alle, und fühlt sich so geschmeichelt, wie die Großmutter oder irgend eins von uns andern, ihres Vertrauens gewürdigt zu werden. Als ich das Zimmer verließ, hatte Eva, nachdem sie einige Zeit mit gespannter Aufmerksamkeit seinen Studentengeschichten zugehört, das Wort ergriffen, und erzählte der ganzen Gesellschaft, die ihr mit dem größten Interesse lauschte, ihre Lieblingslegende von der heiligen Katharina. Alle hatten diese Geschichte schon früher gehört; aber wenn Eva die Legenden erzählt, scheinen sie immer neu. Ich glaube, das kommt daher, weil sie selbst so fest daran glaubt; sie erzählt dieselben nicht wie etwas, das sie gehört hat, sondern als wenn sie selbst dabei gewesen wäre, gerade wie ein Engel es thun könnte, der unsichtbar Zeuge davon gewesen wäre. Und wenn sie dann ihre Augen mit den langen dunkeln Wimpern aufschlägt, ist es, als ob sie zugleich einem ins Herz und in den Himmel schauen könnte.
Kein Wunder, daß Fritz das Dämmerstündchen vergißt! Aber es ist doch seltsam, daß er noch gar nicht nach meiner Chronik gefragt hat. Jedoch bin ich sehr froh darüber; denn ich möchte um alles in der Welt nicht, daß er alle unsere Sorgen und Entbehrungen erführe. –
Sollte ich wirklich eifersüchtig sein auf die kleine süße, liebevolle, verwaiste Eva? Freut es mich denn nicht, daß Jedermann ihn liebt? Ach! es war so schön, Fritzens einzige Freundin zu sein, und was braucht ein kleines fremdes Kind mir mein köstliches Dämmerstündchen zu rauben?
Ich glaube fast, Tante Agnes hatte recht; ich habe Fritz vergöttert und Gott war unwillig darüber und hat mich bestraft. –Allein die Heiligen freuten sich ihrer Züchtigungen und das ist bei mir gar nicht der Fall; denn ich werde nicht besser, sondern schlimmer dadurch und erkenne daraus sehr wohl, wie vergebens es für mich wäre, eine Heilige werden zu wollen.
Eisenach, im Februar.
Als ich die obigen Worte eben beim letzten schwachen Dämmerlichte schrieb, fühlte ich meine Schultern von zwei kräftigen Händen sanft berührt, und eine Stimme fragte:
» Warum kannst du mir deine Chronik nicht zeigen, Schwester Else?«
Ich vermochte nicht zu antworten.
»Du bist überführt,« fuhr dieselbe Stimme fort.
»Glaubst du, ich wisse nicht, von wem der Goldgulden war? Zeige mir die Börse von deiner Patin!«
Thränen erstickten meine Stimme; aber Fritz schien es nicht zu bemerken.
»Else,« sagte er, »bei allen andern magst du deine kleinen betrügerischen Künste versuchen; aber bei mir werden sie dir nichts helfen. Hoffst du, mir je weiß machen zu können, daß ihr bei Würsten, Kuchen und Braten so mager geworden seid? Meinst du, die kleinen Jungen hätten ihr gewöhnliches Mittagessen mit solch freudestrahlenden, gierigen Blicken betrachtet? Denkst du,« fügte er hinzu, indem er meine Hände in eine der seinigen nahm, »ich hätte nicht gesehen, wie blau und kalt und voller Frostbeulen diese Händchen waren, welche große Klötze ins Feuer warfen, als ich diesen Morgen in die Stube kam?«
Jetzt vermochte ich nichts weiter zu thun, als meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen und still zu weinen. Leugnen half nichts. Schnell und mit leiser, tiefer Stimme fuhr er fort: »Glaubst du, ich hätte Mutters alte List nicht bemerkt, als sie vorgab, nicht hungrig zu sein und Knochen und Sehnen allem andern vorzuziehen?«
»O Fritz,« schluchzte ich; »was soll ich thun? Ich kann es nicht verhindern!«
»Wenigstens versprich mir, kleines Fräulein,« sagte er heiterer, »deinen Bruder nicht mehr wie einen vornehmen Gast zu behandeln und mit arger, falscher List die ganze Last der Familiensorgen auf deine eigenen Schultern zu laden!«
»Glaubst du, Fritz, daß es eine Sünde ist, die ich beichten muß?« fragte ich. »Ich meinte es gewiß nicht böse. Aber ich verwechsle so oft, was Recht und Unrecht ist. Was soll ich nur machen?«
»Weiß Tante Ursula eure Not?« fragte er heftig.
»Nein; Mutter erlaubt mir nicht, irgend Jemand davon zu sagen. Sie fürchtet, man möchte Vater darum tadeln, und doch hat er ihr erst letzte Woche gesagt, er habe einen Plan, Blei auf eine neue Art zu schmelzen, daß es zu Silber werde. Das wäre freilich eine wundervolle Entdeckung; er denkt, der Kurfürst würde sie gleich ergreifen, und wir müßten dann Eisenach verlassen und in der Nähe des kurfürstlichen Hofes wohnen. Ja, es wäre sogar möglich, daß der Kaiser das Geheimnis zu erfahren verlangte, so daß wir vielleicht gar das Land verlassen müßten; denn du weißt, daß es in Spanien große Bleibergwerke gibt, und wenn man einmal aus Blei Silber machen könnte, so brauchte man nicht mehr über den großen Ozean zu fahren, um Silber von den indianischen Wilden zu holen.«
Fritz atmete tief auf. »Und indessen?« fragte er.
»Nun indessen,« sagte ich, »ist es freilich zuweilen ein wenig schwer durchzukommen.«
»Elschen,« sagte er nach einigem Stillschweigen, »ich habe einen Plan, der uns einige Gulden einbringen kann, bis die Erfindung Blei in Silber zu verwandeln, vollendet ist.«
»Dann,« sagte ich, »brauchen wir freilich nichts mehr, sondern wir werden den Notleidenden geben können. O Fritz, wie gut werden wir's dann verstehen, den Armen zu helfen! Glaubst du, daß Gott uns darum selbst so lange arm sein läßt und unsere Gebete gar nicht zu hören scheint?«
»Das wäre ein tröstlicher Gedanke,« sagte Fritz ernst, »aber es ist so schwer zu verstehen, wie man Gott gefallen und seine Gebete zu ihm hinauf bringen kann, wenigstens wenn man so oft unrecht denkt und handelt.«
Es freute mich, daß Fritz an der großen Erfindung nicht verzweifelte. Doch sagte er mir nichts von seinem eigenen Plane.
Also Fritz findet sich auch so sündig und so unsicher, wie man Gott wohlgefallen kann. Vielleicht geht es vielen Leuten so wie uns. Das ist doch sonderbar. Wenn es Gott doch nur ein wenig klarer gemacht hätte! Ob wohl das Buch, welches Eva verloren hat, uns Aufschluß darüber geben könnte?
Von jenem Abend an war die Schranke zwischen Fritz und mir gefallen und wir waren enger miteinander verbunden als je. Wir hatten köstliche Plauderstündchen in der Rumpelkammer und ich liebe ihn inniger als je, so daß Tante Agnes mich noch für eine ärgere Götzendienerin halten würde als ehemals. Allein ist es nicht seltsam, daß Abgötterei so gut für mich ist? Indem ich Fritz lieb habe, liebe ich alle Andern um so mehr, und wenn ich ihm mein Herz ausschütten kann, trage ich alle Unannehmlichkeiten viel leichter, so daß ich nie weniger kleine Sünden zu beichten hatte, als in den vierzehn Tagen, die Fritz hier zubrachte. Wenn man Gott nur damit gefallen könnte, daß man Eltern und Geschwister und alle Leute zu Hause liebt, anstatt daß man ihm gefällt, wenn man sie nicht zu sehr liebt, sondern alle verläßt und sich wie Tante Agnes in ein kaltes Kloster einschließt.
Die kleine Eva hat Fritz wirklich überredet, sie die lateinische Grammatik zu lehren. Wahrscheinlich möchte sie ihrer geliebten heiligen Katharina, die so gelehrt war, ähnlich werden. Sie sagt, alle frommen Bücher, die Gebete und Lieder seien lateinisch, weßhalb sie denke, daß diese Sprache Gott besonders angenehm sein müsse. Vor einigen Tagen fragte sie mich, ob man wohl im Himmel lateinisch spreche?
Ich wußte es natürlich nicht und sagte ihr bloß, ich glaube, die Bibel sei ursprünglich in zwei andern Sprachen, in der der Juden und der Griechen geschrieben worden, und ich hätte gehört, Adam und Eva hätten im Paradiese die Sprache der Juden gesprochen, die sie Gott gelehrt habe. Allein nach reiflicher Ueberlegung glaube ich, daß Eva wohl Recht haben mag. Denn wenn die Sprache der Engel und Heiligen im Himmel nicht die lateinische ist, warum sollte Gott verlangen, daß die Priester sie überall gebrauchen, und daß wir das Ave und Paternoster in derselben hersagen? Wir würden ja dies Alles auf Deutsch viel besser verstehen; allein natürlich, wenn das Lateinische die Sprache der Heiligen und Engel ist, so ist dies ein hinreichender Grund. Wenn wir es auch nicht immer verstehen, so verstehen sie es doch und das ist ein großer Trost. Es dünkt mir ein guter Einfall von der kleinen Eva, Latein zu lernen; und hätte ich mehr Zeit, religiös zu sein, so würde ich es vielleicht auch versuchen.