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Wittenberg, Oktober 1522.
Wie seltsam schien es mir im Anfänge, mich wieder frei in der Welt zu bewegen, und wieder in die alte Heimat in Wittenberg zurückzukehren! Seltsam besonders auch, den Ort so wenig und die Menschen so sehr verändert zu finden. Das kleine Stübchen, worin Else und ich schliefen, ist fast unverändert, nur daß Theklas Bücher jetzt die Stelle von Elsens hölzernem Kruzifix einnehmen; es gewährt noch dieselbe Aussicht in das Gärtchen mit dem Birnbaum, der im Frühling mit weißen Blüten übersäet war, auf die Elbe, deren Ufer mit Eichen und Weiden besetzt sind, welche sich gerade in das zarteste frische Grün gehüllt hatten, und auf das wellenförmige Land, das in der Ferne mit dem sanften Blau des Horizontes verschmolz.
Aber ganz verschieden von dem Kloster scheinen alle Veränderungen an den Menschen das Werk des Lebens, nicht des Todes zu sein.
In Elsens Hause, gleich über der Straße, klingen süße Kinderstimmen mir so neu und doch bekannt, wie ein Echo alter Töne und Blicke in unsere eigenen, noch unvergessenen Jugendtage! Und an Elsen selbst ist die Veränderung nicht anders, als wie die Entfaltung der zarten, schwellenden Frühlingsknospen in das grüne, schattenreiche Laubwerk.
Bei Christoph ist die jugendliche Selbstzufriedenheit zu männlicher Kraft und beschützender Freundlichkeit geworden. Onkel Cottas Blindheit, die ihm eine ganz eigene Würde verleiht, macht ihn zum Mittelpunkt der zartesten, achtungsvollsten Sorge aller, während in der Dunkelheit seine Träume immer glänzender und schöner werden, ungetrübter als ehemals, weil er keine Verpflichtung mehr auf sich fühlt, sie auszuführen. Seine Gegenwart, welche die Teilnahme und Freundlichkeit eines Jeden hervorruft, gibt der Familie eine besondere Weihe, und der Verlust seines Gesichts erinnert uns nachdrücklich an den Wert der so leicht übersehenen allgemeinen Gaben Gottes.
Das Licht in dem Herzen der Großmutter ist mehr wie Morgendämmerung, als wie Sonnenuntergang; so frisch, so sanft und hoffnungsvoll erscheint ihr Alter. Die Spuren aufreibender, täglicher Sorge und Anstrengung sind aus dem lieben Angesicht meiner Tante Cotta gewichen, und obgleich, noch oft der Gedanke an Fritz einen dunklen Schatten darüber breitet, so bin ich doch gewiß, daß es ihr nicht mehr der Schatten einer furchtbaren Last göttlichen Zornes, sondern eine Wolke ist, welche Segen bringt, und ein Licht in sich schließt, das die Sonne der Liebe hervorruft und der Regenbogen der Verheißung weiht.
Allein er hat die Stelle des Erstgeborenen in ihrem Herzen. Bei den andern ist er, obgleich nicht vergessen, doch zum Teil ersetzt, bei ihr nimmermehr. Else ist sehr glücklich. Atlantik kannte ihn nicht so wie die andern, und Thekla, die ihn bei seinem kurzen Aufenthalt in Wittenberg so innig in ihr Herz, geschlossen hatte, ist jetzt voll Hoffnungen für ihre eigene Zukunft, oder zuweilen von den Sorgen um ihren Verlobten niedergebeugt. Bei allen ist es fast, als ob er sich wieder einen Platz machen müßte, wenn er wiederkehrte, nur bei Tante Cotta ist sein Platz völlig leer, eine heilige, vor allem Eindringen bewahrte Stätte, wie das Gemach eines Toten, sorgfältig verschlossen gehalten und unberührt, seit dem letzten Tage, da er lebend vor ihr stand. Allein er ist gewiß nicht tot; dies sage ich ihr und mir tausendmal, wenn wir von ihm reden. Warum beschleicht mich denn ein so beklemmendes Gefühl, wenn ich an ihn denke? Es scheint so unwahrscheinlich, daß er je wieder zu uns zurückkehrt. Wenn uns der liebe Gott nur ein Wort von ihm senden wollte? Aber seit jenem Brief von dem Priester Ruprecht Haller ist uns keine Zeile mehr zugekommen. Vor zwei Monaten reiste Christoph nach dem Dorfe des Priesters in Thüringen und verweilte einige Tage in der Nachbarschaft, um in der ganzen Umgegend des Klosters Nachforschungen anzustellen. Allein er konnte gar nichts erfahren, außer, daß im Herbste des vorigen Jahres das Söhnchen eines benachbarten Landmanns, das am Saume des Waldes, in der Nähe des Klosters seiner Mutter Gänse hütete, den Gesang einer Männerstimme vernommen hat, der aus dem Fenster des Turmes kam, wo das Klostergefängnis ist. Der Knabe pflegte dort zu verweilen, um dem Gesänge zu lauschen, der so voll und tief, fromm wie Kirchenlieder, und doch wieder fröhlicher klang, als alles, was er je in der Kirche gehört hatte. Er hielt es für Osterlieder; aber seit einem Oktoberabend hat er sie nicht mehr gehört, obgleich er noch oft an der Stelle lauschte. Das ist jetzt bald ein Jahr her.
Doch in seinem Herzen können die Auferstehungslieder nicht verstummt sein!
Tante Cottas größter Trost ist das heilige Abendmahl.
»Nichts,« sagte sie, »erhebt ihr so das Herz. Andere Symbole oder Schriften oder Predigten hatten ihr einzelne Teile der Wahrheit vor; aber das heilige Abendmahl stellt ihr den Herrn selbst vor; nicht eine oder die andere auf Ihn bezügliche Wahrheit, sondern Ihn selbst; nicht nur eine einzelne That seines Lebens, noch selbst seinen Versöhungstod, sondern seine ganze gottmenschliche Natur, Ihn selbst, lebend, sterbend, den Tod überwindend und Leben spendend.« Sie hat jetzt gelernt, daß die Teilnahme an dem heiligen Sakrament nicht, wie sie früher glaubte, ein gutes Werk ist, das sie sonst immer trauriger und niedergeschlagener machte als zuvor, durch das Gefühl, wie unwürdig und kalt sie dabei gewesen, sondern ein Aufblick zu Dem, welcher das gute Werk der Erlösung für uns vollbracht hat; wie Dr. Melanchthon sagt:
»Wie der Blick auf das Kreuz kein gutes Werk, sondern bloß die Betrachtung eines Zeichens ist, das uns an den Tod Christi erinnert.
»Wie der Blick auf die Sonne kein gutes Werk, sondern bloß die Betrachtung eines Zeichens ist, das uns an Christum und Sein Evangelium erinnert.
»So ist das Nahen zum Tische des Herrn auch kein gutes Werk, sondern blos Gebrauch eines Zeichens, welches uns die durch Christum erworbene Gnade vor die Seele hält.
»Allein darin besteht der Unterschied: von Menschen erfundene Symbole können blos an das erinnern, was sie bedeuten; Zeichen, die Gott selbst uns gegeben hat, können nicht nur an die Dinge erinnern, sondern das Herz gewiß machen über den Willen Gottes.
»Wie der Anblick eines Kreuzes nicht rechtfertigt, so kann auch die Messe nicht rechtfertigen. Wie der Anblick eines Kreuzes kein Opfer ist, weder für unsere noch anderer Sünden, so ist auch die Messe kein Opfer. Es gibt nur ein Opfer, nur eine Genugtuung: Jesus Christus. Außer Ihm gibt es gar nichts dergleichen.«
Ich habe mich beständig bemüht, für die neun evangelischen Nonnen, die ich in Nimptschen zurückgelassen habe, eine Freistätte zu finden; allein leider bis jetzt immer vergebens. Doch verzweifle ich daran durchaus nicht. Ich habe ihnen geraten, selbst an Dr. Luther zu schreiben.
Oktober 1522.
Das deutsche Neue Testament ist endlich im Druck erschienen.
Es war am 21. September; und da dies gerade Tante Cottas Geburtstag ist, so überreichte ihr Gottfried Reichenbach, als sie des Morgens in das Wohnzimmer trat, im Namen der ganzen Familie die zwei großen Foliobände, die es enthalten.
Seit dieser Zeit liegt beständig ein Band davon auf einem Tische in der Wohnstube und der andere auf dem Fenster in Tante Cottas Schlafzimmer.
Oft kommt sie des Morgens mit strahlendem Angesichte herunter und teilt uns einen Spruch mit, den sie gefunden hat, Onkel Cotta nennt es ihre Diamantmine und sagt: »Das Mütterchen hat doch endlich das Eldorado gefunden.«
Eines Morgens war es der Vers:
»Alle eure Sorge werfet auf Ihn, denn Er sorget für euch,« und daran labte sie sich lange Zeit.
Heute hatte sie den Spruch entdeckt:
»Trübsal aber bringet Geduld; Geduld aber bringet Erfahrung; Erfahrung aber bringet Hoffnung; Hoffnung aber läßt nicht zu Schanden zu werden. Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist.«
»Eva,« sagte sie zu mir, »das scheint mir so einfach. Ich glaube, es bedeutet, daß die Hauptsache ist, wenn Trübsal über uns kommt, nicht die Geduld zu verlieren; sie ist mit allen andern Gnadengaben innig verbunden und leitet ganz wie von selbst eine nach der andern in unser Herz. Liebe Eva, ist dies wirklich die rechte Deutung?«
Ich sagte ihr, wie oft diese Worte mich getröstet hätten, Und welch' ein süßer Gedanke es ist, daß während diese Gaben die Dunkelheit des Herzens erleuchten, die dunkeln Stunden dahin schwinden, bis endlich Hoffnung sich hineinschleicht und die Laden öffnet, und das Licht, welches indessen langsam aufgegangen ist, das Herz durchströmt, »die Liebe Gottes, welche ausgegossen ist in unser Herz durch den heiligen Geist.«
»Aber,« versetzte Tante Cotta, »wir können nicht selbst die Erfahrung herbeiführen oder die Hoffnungshand erreichen, oder das Fenster öffnen, um das Licht der Liebe herein zu lassen; wir können nur aufschauen zu Gott, die Geduld festhalten, und sie wird alles übrige mitbringen.«
»Doch,« sagte ich, »kommt Frieden vor Geduld, der Friede mit Gott durch den Glauben an Den, der für unsere Sünden dahingegeben ward. Alle diese Gaben führen uns nicht zu Gott. Zuerst kommen wir zu Ihm, und bei Ihm lernen wir alles andere.«
Ja gewiß, es ist das Leben, welches alle Veränderungen in der Wittenberger Welt, seit ich sie verlassen, hervorgebracht hat, nicht der Tod, oder sein Schatten: die Zeit. Denn sind nicht die herrlichsten durch Ihn bewirkt worden, der selbst das Leben ist?
Gott, nicht die Zeit, hat den Charakter meiner Großmutter so milde gemacht. Gott, nicht die Zeit, hat die Falten, womit die Sorgen die Stirne meiner Tante Cotta gefurcht haben, geglättet.
Das Leben, nicht der Tod, hat das Augustinerkloster fast geleert, die Mönche in ihre Plätze in der Welt geschickt, um dort das Evangelium zu verkünden.
Lebenswasser strömt von Haus zu Haus durch Dr. Luthers Uebersetzung des Neuen Testaments, und bringt Früchte der Liebe, der Freude und des Friedens hervor.
Und wir wissen auch, daß in dem einsamen Kerker, aus welchem der Knabe die Auferstehungslieder erschallen hörte, das Leben, nicht der Tod herrschte, und daß es auch jetzt in dem Herzen Dessen, der sie sang, triumphiert, wo er auch immer sein mag!