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Wittenberg, 18. Juli 1520.
Vieles hat sich ereignet, seit ich zuletzt in meine Chronik geschrieben habe, sowohl in unserm kleinen Kreise, als auch in der Welt draußen.
Unser Gretchen hat zwei kleine Brüder, welche eben so erfinderisch im zerstören sind und ebenso viele gefährliche Einfälle haben, wie ihre beiden Onkel, als sie in diesem Alter waren, und die Gretchen, so zärtlich sie dieselben auch liebt, wahrscheinlich eben so viele Not machen werden, wie mir Christoph und Pollux in ihrer Jugend. Chrimhilde ist verheiratet und wohnt in dem alten Schlosse im Thüringer Walde. Atlantis ist mit Konrad Winkelried, einem Studenten aus der Schweiz, verlobt. Pollux ist in Geschäften für das Eisenacher Haus Cotta, an dem er einen Anteil hat, nach Spanien gereist, und Fritz hat uns einmal wieder besucht. Das war vor zwei Jahren. Er ist viel ernster als früher, und manchmal sah er sogar aus, als ob ein schwerer Kummer auf seiner Seele lastete. Mit unserer Mutter und den Kindern jedoch zeigte er sich immer heiter.
Gretchen und Fritz haben die innigste Freundschaft geschlossen, und noch immer frägt sie mich, wann er wieder kommen werde, und nichts macht ihr größere Freude, als vor einem Bilde auf meinem Schoß zu sitzen und immer und immer wieder die alten Geschichten von unsern Plauderstündchen in der alten Rumpelkammer zu Eisenach, oder von den Tagen, die wir in den Fichtenwäldern mit Holzsammeln zubrachten, zu hören. Kein Fest, meint sie, könnte so herrlich sein, und es ist ihre Lieblingsunterhaltung, an dem Ufer der Elbe oder auf der Dübener Heide kleine Bündel von trockenen Weiden oder Eichenzweigen zu binden und der Familie für den Gebrauch nach Hause zu bringen. Alle die kostbaren Puppen und Spielsachen, die ihr der Vater aus Nürnberg mitbringt oder von Venedig gesandt hat, machen ihr nicht halb so viel Vergnügen, als sie auf der Heide findet, wenn er mit ihr dahingeht, und sie mit ihrem Schürzchen voll Reisig und Händchen so braun und schmutzig wie die eines Köhlermädchens zurückkehrt und sich einbildet, sie mache es wie Onkel Fritz und die Mutter in ihrer Kindheit, und sei schon den andern nützlich.
Vorigen Sommer bekam sie einen eigenen Birn- und einen Apfelbaum, deren Früchte sie so wie ihre Reisbüscheln aufbewahrt, um sie an Weihnachten einer armen Frau zu schenken, die wir kennen.
Gottfried und ich wünschen, daß die Kinder schon früh die reinen Freuden der Dienstfertigkeit und des Wohlthuns kennen fernen, welche den Reichtum aus Staub in reines Gold verwandeln und verhindern, daß der Besitz, welcher ein so nützlicher Diener ist, nicht zu unserm Gebieter werde und uns nicht, wie das leider bei so vielen wohlhabenden Leuten der Fall ist, zu gemieteten Sklaven und Hütern der Dinge mache.
Ich bitte Gott oft, daß ich nie vergessen möge, wie bitter die Armut ist. Die Erfahrungen meiner Jugend dünken mich eine Gabe Gottes, gerade wie eine mehrjährige Studienzeit auf der Universität. Ich habe in der Schule des Mangels promoviert, und Gott gebe, daß ich nie vergesse, was ich dort über die Kämpfe und Entbehrungen der Armen gelernt habe.
Das Gemach, in welchem ich diese Zeilen schreibe, mit seinen Teppichen, Gemälden und den mit reichem Schnitzwerk verzierten Möbeln ist ganz verschieden von der lieben, nackten, alten Rumpelkammer, in welcher ich zuerst meine Chronik anfing; und welcher Kontrast zwischen dem prächtigen, mit Elfenbein eingelegten Schreibpult von Ebenholz und dem Bücherhaufen, auf dem ich langsam, mit kindischer Hand die ersten Seiten zu schreiben pflegte. Allein die Güter, die wir alle gemeinsam genießen, werden mir stets die liebsten bleiben. Die warmen Sonnenstrahlen, welche durch das zarte Weinlaub vor dem offenen Fenster scheinen, sind schöner als all dies bunte, juwelenähnliche, venetianische Glas der geschlossenen Fenster, die gerade in diesem Moment die Blätter von Dr. Luthers Kommentar, den Gottfried vor einer Stunde auf dem Fensterbrett offen gelassen hat, mit prachtvoller hochroter Farbe überziehen.
Doch wie kann ich so lange über meine eigenen kleinlichen Angelegenheiten schreiben, während die ganze Welt umher von so großer Furcht und Hoffnung bewegt ist.
Gerade in diesem Augenblicke sehe ich Dr. Luther und Dr. Melanchthon, in ernstes Gespräch verlieft, langsam die Straße hinaufgehen. Ich kann ihre Stimmen unterscheiden, obgleich sie leise reden. Wie verschieden sind sie, und doch welch innige Freunde! Wahrscheinlich gerade wegen dieser Verschiedenheit. Der eine gleicht einem alten Krieger mit einer Felsenstirne, seinen dunkeln Augen, seiner kräftigen Gestalt und seinem festen Schritt; der andere mit der hohen breiten Stirne, dem magern, abgezehrten Gesicht und dem schlanken, jugendlichen Wuchs, steht zu gleicher Zeit einem jungen Studenten und einem alten Weltweisen ähnlich.
Gottfried behauptet, Gott habe diese beiden Männer einander und Deutschland geschenkt, um die Kirche, sowie die Welt im allgemeinen, durch die Verbindung von Gegensätzen, wie z. B. von Regen und Sonnenschein, Hitze und Kälte, See und Land, Mann und Weib, zu segnen.
Wie die beiden großen Männer (denn Gottfried sagt: Dr. Melanchthon sei ein großer Mann, und daß Dr. Luther es ist, weiß ich selbst) einander lieben und verehren! Dr. Luther sagt, er sei blos der Vorläufer, und Melanchthon der wahre Prophet; er sei nur der Holzhauer, welcher mit rauhen Schlägen den Wald lichtet, damit Dr. Philipp den köstlichen Samen ausstreuen könne, und als er zu einer Zusammenkunft mit dem Legaten nach Augsburg gereist war, schrieb er, daß, wenn nur Philipp am Leben bliebe, wenig darauf ankomme, was aus ihm werde.
Aber so denken wir und Dr. Melanchthon nicht. »Niemand,« sagt er, »kommt Dr. Luther gleich; an ihm hängt in der That die ganze Nation. Wer bewegt in Deutschland so die Herzen der Bauern sowohl als der Fürsten und Edeln, der Männer sowohl als der Frauen und Kinder, wie er mit seinen aufrichtigen frommen Worten?«
Zweimal waren wir in den letzten Jahren in großer Sorge um ihn, das erste Mal, als er vor den päpstlichen Legaten nach Augsburg berufen ward, und das andere Mal, als er zu der großen Disputation mit Dr. Eck nach Leipzig reiste.
Doch welcher Unterschied zwischen seinen Ansichten, als er nach Augsburg ging, und da er von Leipzig zurückkehrte.
In Augsburg würde er in allem nachgegeben haben, nur nicht in der Wahrheit, »daß jeder Sünder durch den Glauben an Jesus Christus freie Rechtfertigung erlangen kann.« Er verehrte den Papst und hätte um die Welt kein Ketzer werden mögen. Kein Schimpfname war ihm so schrecklich wie dieser.
In Leipzig hatte er daran zweifeln gelernt, daß es dem Papst zustehe, Glaubenslehren aufzustellen, und er bekannte freimütig, daß die Hussiten (welche bis dahin in Sachsen sowohl als natürliche Feinde wie als Ketzer verabscheut wurden), für ihr Bekenntnis evangelischer Wahrheit alle Achtung verdienten. Und seit dieser Zeit sind Dr. Luther und Melanchthon beständig als Verfechter des göttlichen Wortes gegen das Papsttum aufgetreten.
Allein jetzt drohte ihm eine noch ärgere Gefahr, die Bannbulle, welche in Rom geschmiedet werden soll, und die noch jeden zermalmt hat, auf den sie fiel. Dr. Luther hat uns freilich gelehrt, sie als eine geistliche Waffe nicht zu fürchten; aber wir fürchten ihre zeitlichen Folgen, besonders wenn der Reichsbann noch dazu kommt.
Oft spricht er in der That davon, in einem andern Lande eine Zufluchtsstätte zu suchen, und der gute Kurfürst, fürchtend, ihn nicht länger beschützen zu können, hat selbst schon dazu geraten. Doch Gott wolle ihn für Deutschland erhalten!
23. Juli 1520.
Heute Abend, als wir uns alle bei meinem Vater versammelt hatten, brachte uns Christoph, noch ganz feucht von der Presse, ein Exemplar von Dr. Luthers Berufung an Seine kaiserliche Majestät und den christlichen Adel der deutschen Nation über die Erneuerung der Christenheit. Als er es der Großmutter überreichte, sagte er:
»Hier ist eine Waffe, würdig der tapfersten Schönbergs, mächtig genug, um die stärksten Festungen zu bezwingen.«
»Ach,« seufzte unsere Mutter, »immer Kampf und Krieg! Es ist ein Jammer, daß das Gute nicht auf mildere Weise vollbracht werden kann!«
»Da seht einmal, Großmutter,« sagte der Vater, »wie das bürgerliche Leben den herrischen Geist ihrer ritterlichen Vorfahren in eurer Tochter vernichtet hat! Glaubt sie nicht gar, daß die heiligen Orte ohne Schwertstreich den Ungläubigen entrissen werden können, blos indem man sie um Verzeihung bittet und den Saum ihres Gewandes küßt.«
»Wenn ihr nur Katharina Krapp, Dr. Melanchthons Frau, hörtet!« versetzte unsere Mutter; »sie sagt auch, daß dies schreckliche Zeiten sind, und daß sie nie den Doktor fortgehen sieht, ohne zu denken, daß er vielleicht in irgend einen schrecklichen Kerker geworfen werde, ehe sie sich wiedersehen.«
»Aber, liebe Mutter,« sagte ich, »erinnere dich doch deiner Besorgnisse, als Dr. Luther vor drei Jahren zuerst Tetzel und seine Ablaßkrämerei angriff? Wer hat denn da den Sieg davongetragen? Alle Wohlgesinnten durch ganz Deutschland verehren Dr. Martin, während der arme Tetzel, verachtet von seiner eigenen Partei, getadelt von dem Legaten, bald nach der großen Leipziger Disputation an einem gebrochenen Herzen, wie man sagt, gestorben ist.«
»Der arme Tetzel!« rief meine Mutter; »sein Ablaß vermochte ein gebrochenes Herz nicht zu heilen. Wie schön war es von Dr. Luther, ihm einen Trostbrief zu schreiben, als er, von den Seinen verlassen und verachtet, auf dem Sterbebette lag. Ich hoffe, daß der Herr sich seiner armen Seele erbarmt hat.«
»Lies uns vor, Christoph,« sagte die Großmutter; »deine Mutter würde vor keinem Schlachtfeld zurückschrecken, wenn sie Wunden dort zu verbinden fände.«
»Nein,« sagte Gottfried; »der Preis des Krieges ist Frieden, auf seine Wahrheit gegründeter Gottesfrieden. Heil denen, welche mitten im Streit nie das Ziel aus den Augen verlieren.«
Christoph las vor, nicht ohne häufige Unterbrechungen, denn vieles in dem Buche war für die Meisten von uns neu und überraschend.
»Nicht unüberlegt und vorschnell,« beginnt Dr. Luther, »wage ich, ein Mann aus dem Volke, mich an Eure Gnaden wenden. Das Elend und die Bedrückung, unter welchen jetzt alle Staaten der Christenheit, und vorzüglich Deutschland, seufzen, erpreßt mir diesen Notschrei. Ich sehe mich gezwungen, um Hilfe zu rufen, ob nicht Gott einem Manne seinen Geist verleihen und seine Hand nach unserm unglücklichen Volke ausstrecken wolle.«
Dr. Luther denkt nie daran, daß er bestimmt ist, das große Werk zu vollbringen. Er spricht, als ob er nur eine einfache, niedrige Pflicht erfüllte und andere aufriefe, das große Werk zu unternehmen, während doch diese geringe Pflicht das große Werk selbst ist, und er es vollbringt.
Dr. Luther spricht von dem Elend in Italien, diesem unglücklichen Lande, wo der Thron des Papstes ist; von seinen zerstörten Klöstern, verfallenen Städten, seinem verderbten Volke; und dann zeigt er, wie Roms Geiz und Stolz Deutschland ebenso herabzuwürdigen suche. Er wendet sich an den jungen Kaiser Karl, der nun bald gekrönt werden soll, und erinnert alle Regenten an ihre Verantwortlichkeit. Er erklärt den Kirchenstaat, das sogenannte Patrimonium Petri für eine Raubbeute; und, indem er den verbannten Hussiten, mit welchen seine Feinde, um ihn aufs bitterste zu kränken, ihn verglichen haben, hochherzig die Bruderhand bietet, sagt er:
»Es ist Zeit, daß wir uns der Sache der Böhmen annehmen, und uns mit ihnen vereinigen.«
Bei diesen Worten ließ meine Großmutter ihre Arbeit fallen, faltete andächtig die Hände, beugte sich vor und verschlang jedes Wort mit der größten Begierde.
Als Gottfried an die Anklage gegen die Bettelmönche kam und an die Stelle, wo Dr. Luther sagt, daß die Priester sich verheiraten sollten, unterbrach Christoph seine Lektüre mit einem begeisterten »Vivat«.
Als jedoch nach einer lebendigen Darstellung der Bedrückung und des Geizes der Legaten die feierliche Beschwörung folgte: –
» Hörst du dies, nicht allerheiligster, sondern allersündhaftester Papst? Möge Gott aus Seiner Himmelshöhe herab bald deinen Thron in den Abgrund stürzen!« da erblaßte meine Mutter, und bekreuzte sich.
Was auf mich den tiefsten Eindruck machte, war die einfache Erklärung:
»Man hat behauptet, daß der Papst, die Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen den geistlichen Stand bilden, während Fürsten, Edle, Bürger und Bauern den weltlichen oder Laienstand ausmachen. Allein darüber braucht sich keiner zu beunruhigen. Alle wahren Christen gehören zum geistlichen Stande, der einzige Unterschied besteht in ihren verschiedenen Berufsarten. Wir haben alle Eine Taufe, Einen Glauben, und dies ist's, was den geistlichen Menschen ausmacht.«
Wenn dies wahr ist, wie werden dann all' meine früheren Zweifel mit einem Schlage vernichtet! Jeder Beruf kann alsdann ein frommer, jeder Mann, jede Frau gottselig sein. Dann ist auch kein Zweifel, daß meine Mutter eben so gut wie Tante Agnes den ihr von Gott verordneten Weg wandelt, und das Klosterleben ist somit nur eine von den vielen gleich geheiligten Berufsarten.
Als ich meiner Mutter dieses sagte, rief sie aus: »Was? ich sollte so fromm sein, wie Tante Agnes? Nein, Else! Was Dr. Luther auch zu behaupten wagt, das hat er gewiß nicht sagen wollen. Freilich hoffe ich zuweilen, daß Gott um seines lieben Sohnes willen auch meine schwachen Gebete erhört, aber Tag und Nacht beten und Gott zu Liebe alles verlassen; das ist doch etwas ganz anderes.«
Als wir aber über die Straße nach unserem Hause gingen, sagte ich Gottfried, wie sehr diese Worte Luthers mich bewegt hatten, und fragte ihn, ob er wirklich glaube, daß wir unsern weltlichen Beruf nicht blos mit Gottes indirekter Erlaubnis, sondern nach seinem Willen und Befehl erfüllten. Er antwortete:
»Ich bezweifle viel mehr, Else, daß der Beruf, welcher die Menschen ihre Familien verlassen heißt, von Gott sei, das Er ihn je geboten oder sogar erlaubt habe.«
Wenn Gottfried darin Recht hat, so hat Fritz sein Leben einem Wahne geopfert. Wie kann ich das glauben! Und doch, wenn er es jetzt noch einsähe, wie könnte sein Leben sich umgestalten! Könnte er uns nicht wiedergeschenkt werden? Doch das sind Träume!
25. Oktober 1520.
Noch mehr feurige Worte von Dr. Luther. Heute lasen wir seine neue Schrift über die babylonische Gefangenschaft. »Gott hat gesagt,« schreibt er darin, »daß wer da glaubet und getauft wird, der soll selig werden. In dieser Verheißung, wenn wir sie im Glauben ergreifen, liegt unser ewiges Heil. Wenn wir glauben, so wird unser Herz durch diese göttliche Verheißung befestigt, und wenn den Gläubigen alles verließe, so würde doch diese Verheißung ihn nimmermehr verlassen. Damit wird er dem Feinde, der auf seine Seele losstürmt, widerstehen, und etwas haben gegen den erbarmungslosen Tod und selbst gegen Gottes Gericht.« Und an einer anderen Stelle sagt er: »Das Taufgelübde ist vollständig genügend und begreift mehr in sich, als wir je zu halten vermögen. Daher sind alle andern Gelübde überflüssig und können abgeschafft werden. Wer in die Priesterschaft oder in einen religiösen Orden tritt, lerne wohl verstehen, daß die Arbeiten eines Priesters oder Mönches, so schwierig und mühsam sie auch sein mögen, in den Augen Gottes nicht im geringsten mehr wert sind, als die eines Landmannes, der den Boden pflügt, oder eines Weibes, das seinen Haushalt besorgt. Gott schätzt alles nach dem Maßstabe des Glaubens; und oft ist ihm der niedere Dienst eines Knechtes oder einer Magd wohlgefälliger, als das Fasten und Beten eines Mönches, wenn es nicht aus dem Glauben kommt.«
Wie heilig werden mir durch diesen Gedanken meine geringsten Geschäfte! Ja, wenn ich meinen Mägden ihre Arbeit anweise; wenn ich Gottfrieds Sorgen teile, oder ihm sein Haus am Schlusse eines mühevollen Tages zu erheitern suche, oder wenn ich meine Kinder in den Schlaf singe, diene ich Gott eben so gut wie Dr. Luther am Altar oder in der Vorlesung! Also auch ich habe meinen Beruf unmittelbar von Gott erhalten!
Nie hätte ich mir vorgestellt, daß das Erscheinen eines neuen Buches die Herzen so lebhaft erregen könnte, wie die Ankunft eines teuern Freundes. Und doch ist dem so mit einer jeden von Dr. Luthers Schriften. Sie bewegen unsere Leiden Familien von unserer Großmutter bis auf die kleine Thekla und die jüngste Magd, der ich Stellen daraus vorlese. Oft sagt sie mit Thränen in den Augen: »Ach! wenn nur meine Eltern im Thüringer Walde dies auch hören könnten!« –Studenten und Bürger können es nicht erwarten, bis sie nach Hause kommen, sondern lesen auf der Straße diese herzergreifenden Worte; und oft sammelt sich eine ganze Schar von Zuhörern um einen mitteilsamen Leser, der diese herrlichen, freimachenden Wahrheiten nicht für sich allein behalten kann.
Schon sind, wie Christoph sagt, viertausend Exemplare von seinem »Aufruf an den Adel« durch ganz Deutschland verbreitet.
Ich hatte früher geglaubt, Bücher seien vorzüglich für Gelehrte geschrieben. Allein Dr. Luthers Bücher sind eine lebendige Stimme, ein von Gott erwecktes und gelehrtes Herz, das zu zahllosen Herzen spricht, wie ein Freund mit dem andern redet. Jetzt sehe ich in der That ein, daß mein Vater und Christoph Recht hatten, zu behaupten, daß die Buchdruckerpresse eine edlere Waffe sei, als die Speere und Schwerter unserer ritterlichen, böhmischen Vorfahren.
Wittenberg, 10. Dezember 1520.
Dr. Luther hat heute einen wichtigen Schritt gethan. Er hat die Decretalien mit andern alten Schriften, worauf der römische Hof seine Ansprüche gründet, und die man jetzt für verfälscht erkannt hat, und noch mehr als dies, –er hat die Bannbulle des Papstes, die dieser nach ihm geschleudert –öffentlich verbrannt.
Gottfried sagt, seit Jahrhunderten habe man kein solches Freudenfeuer gesehen. Nach seiner Meinung bedeutet es nichts geringeres, als eine offene, entschiedene Lossagung von der päpstlichen Tyrannei, welche so viele Jahrhunderte lang die ganze abendländische Christenheit in Banden hielt. Er nahm unsere zwei Knaben mit, um es ihnen zu zeigen, damit sie sich noch in spätem Jahren dieser ernsten, großen, öffentlichen That der Freiheit erinnern möchten.
Schon am frühen Morgen war die ganze Stadt in Bewegung. Viele Bürger, Professoren und Studenten wußten, was geschehen sollte; Denn es war keine Handlung unüberlegter Eile oder heftigen Zornes.
Schnell kleidete ich die Kinder an, und dann gingen wir hinüber zu meinen Eltern.
Wittenberg ist jetzt so voll von Menschen verschiedener Zungen, wie es um den Turm zu Babel gewesen sein muß, nachdem Gott die Sprachen verwirrt hatte. Aber nie war dies auffallender als heute.
Flämische Mönche aus dem Augustinerkloster zu Antwerpen, holländische Studenten aus Finnland, die hohen, kräftigen Gestalten der Schweizerjünglinge in ihrer malerischen Tracht, Ritter aus Preußen und Litthauen, –alle durch Dr. Luthers lebendiges Wort der Wahrheit hiehergezogen, kamen gegen neun Uhr, eifrig redend und gesticulierend, auf ihrem Wege nach dem Elstertore an unsern Fenstern vorbei. Dann stiegen Thekla, Atlantis und ich in eines der obern Zimmer hinauf und beobachteten den Rauch, der von dem Scheiterhaufen aufstieg, bis die Flamme emporschlug und mit einem schwachen Rot das reine Tageslicht überzog.
Bald darauf kehrten die Scharen wieder zurück, aber wie mir schien, mit ernster, feierlicher Miene, ganz verschieden von der fröhlichen Eile, womit sie ausgezogen waren.
»Sie sehen aus, wie wenn sie von einem hohen Kirchenfeste zurückkehrten,« sagte ich.
»Oder, als ob sie ein Signalfeuer auf den Bergen angezündet hätten, welches das ganze Land zur Freiheit erwecken soll,« meinte Christoph, der sich jetzt auch zu uns gesellte.
»Oder, als ob sie sich mit heiligen Schwüren verpflichtet hätten, das Vaterland zu befreien, wie die drei Männer im Rütli,« sagte Konrad Winkelried, der junge Schweizer, mit dem Atlantis verlobt ist.
»Ja,« nahm Gottfried das Wort, »Feuer, welche das Signal sein können für die Befreiung der Welt, und die vielleicht einen Scheiterhaufen für diejenigen anstecken, welche es gewagt haben, sie anzuzünden, sind keine Studentenprahlereien!«
»Wer hat denn den Holzstoß angezündet und was ist verbrannt worden?« fragte ich.
Mein Gatte erwiderte: »Einer der Magister zündete den Holzstoß an und warf dann die Decretalien, die falschen Episteln des heil. Clemens und andere verfälschte Schriften darauf, welche seit Jahrhunderten dem Lügengebäude zur Stütze gedient hatten. Und als sie von den Flammen verzehrt waren, schritt Dr. Luther vor, legte feierlich die päpstliche Bannbulle auf das Feuer und sprach, während ringsum atemlose Stille herrschte: »Wie Du die Heiligen des Herrn betrübt hast, so möge Dich das ewige Feuer zerstören!« Kein Wort unterbrach das Schweigen, bis das letzte Flackern der symbolischen Flammen erloschen war, dann kehrten wir alle ernst, aber doch freudig nach Hause.«
»Kinder,« sprach unsere Großmutter, »ihr habt wohlgethan; allein ihr seid nicht die ersten, welche Rom getrotzt haben.«
»Vielleicht auch nicht die letzten, die es zum Schweigen bringt,« versetzte mein Gatte. »Aber endlich wird der letzte Feind doch noch vernichtet werden; und indessen ist jeder Märtyrer doch ein Ueberwinder.«