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Das Kunstvariété

Eines Tages erheischten meine Finanzen dringend der Ordnung. Eben zur rechten Zeit sprach draußen im Flur ein Herr vor und nannte sich Direktor Geißler.

Ich empfange Direktoren nur ungern. Was heißt überhaupt: Direktor? Was bedeutet es? Nichts. Direktor ist ein jüdischer Vorname, sagt man in Berlin. Gewöhnlich hat solch ein Direktor nicht einmal das Recht, sich selbst zu dirigieren.

Dennoch – diesmal war ich zu Hause und hatte es nicht zu bereuen.

Direktor Geißler war eine mittelgroße, kräftige Erscheinung mit reinem Kragen, kurzgestutztem Bart und einem Glasauge. Wohlwollend richtete er es auf mich, nachdem er Platz genommen hatte, und sprach:

»Sie werden bemerkt haben, Herr Roda Roda, daß das Variété von heute dem Verfall entgegengeht.«

»Dem Verfall, Herr Geißler? Die Leute machen doch faustdicke Geschäfte?«

»Sag ich doch,« rief der Direktor triumphierend. »Leben wir denn in einer vernünftigen Zeit? In einer konsequenten Zeit? Wo man sagen kann: das und das ist gut, das wird bestehen? Nein. Die Welt ist ja verrückt. Heute so und morgen so. Zu Mittag himmelhoch jauchzend, am Abend verheiratet. Was eben noch gedeiht, wird im nächsten Augenblick zugrunde gehen. Darum, weil das Variété von heute voll ist, sage ich: es trägt schon den Keim der Pleite in sich.«

»Ach so?«

»Ja. Woher aber diese fürchterliche Katastrophe des Variétés?«

Ich überging Geißlers rhetorische Frage mit Schweigen.

»Falsch!« schrie er. »Die Kinos tragen keine Schuld. Das Variété ruiniert sich selbst – durch seine Indolenz. Wo alles ringsum sich die Kunst dienstbar macht, wo man jeden Nachttopf, jeden Lausekamm von einem Professor entwerfen läßt, bleibt das Variété bei seinem alten Flitterkitsch. – Herr Roda, ich gründe das neue, das Kunstvariété mit einem Aktienkapital von fünf – was sage ich fünf? – mit einem Kapital von zehn Millionen Märkern, und Sie sind meine erste engagierte Kraft. Haben Sie die Güte, einstweilen die Taxe des Autos auszulegen, das unten auf mich wartet.«

— — —

Ich habe vielleicht unterlassen, zu bemerken, daß sich die eben geschilderte Szene in München abspielte. Wir haben da oberhalb der Theresienwiese eine gigantische Festhalle, die für gewöhnlich leersteht. Sie regt unternehmende Köpfe immer wieder zu Plänen an. Es ist wahr, die Halle liegt etwas abseits, man braucht bei gutem Wetter eine Stunde, um zu ihr zu gelangen. Und wieviel bei schlechtem Wetter? Das hat noch niemand ausprobiert.

Einmal gastierte Barnum in der Halle. Zehntausend entzückte Besucher. Am nächsten Morgen schrieben die Zeitungen, es wär halb leer gewesen.

Einmal ankerte das Zeppelin-Luftschiff darin. Dem Grafen gab man ein Bankett im Rathaus. Als er nachher in die Halle kam, um sein Schiff zu suchen, fand er es nirgend. Es hatte sich hinten in die Proszeniumsloge gesetzt.

Einmal wollte ein findiger Mann die Halle benutzen, um der Menschheit das Planetensystem in natürlicher Größe vorzuführen. Die Sache scheiterte am Widerstand der Zentrumspartei.

Ein hoffnungsloser Bau. Von Zeit zu Zeit macht die Fußartillerie darin ihre Schießübungen. Das ist alles.

— — —

»Unter diesen Umständen, Herr Direktor, werden Sie mir, fürchte ich …«

»Keine hohe Gage zahlen wollen? Das erstemal natürlich nicht viel – ich weiß nicht, wie Sie meinem Publikum gefallen …«

»Und das zweitemal bin ich nicht mehr neu. Ich kenne das.«

»Sie werden bitter, Herr Roda. Ich mache Sie aufmerksam: Ihre sehr geschätzte Kraft ist mir nicht unbedingt vonnöten. Es ist da eben ein dressierter Buckelochs frei, der gleichfalls sehr humoristisch wirkt.«

Eingeschüchtert unterschrieb ich den Vertrag.

— — —

Ich will von dem Münchener Künstlervariété nicht viel erzählen. Es hatte bald ausgelitten.

Ein Riesenbetrieb. Kein Mensch kannte sich aus.

Da war zunächst Geißler, der Direktor. Er hatte einen artistischen Sekretär, einen Geschäftssekretär und einen Dramaturgen. Der Dramaturg war mit zwanzig Prozent beteiligt, dem einen Sekretär gebührte die Hälfte des Reingewinns, dem andern ein Viertel der Bruttoeinnahme. Alle Herren zusammen hießen: die Konzessionäre.

Da war der Verwaltungsrat mit einem Präses, einem Vorsitzenden und einem Vorstand. Sie hießen zusammen: das Kassendepartement.

Da war der repräsentative Ausschuß, an seiner Spitze eine senile Exzellenz. Lauter Herren, die täglich in der Presse erklärten: ihre Namen wären ohne ihre Einwilligung auf die Liste gekommen.

Endlich das Regiekollegium. Es bestand aus jenen berühmten Münchener Malern, die immer wieder die Kunstkommission bilden – ob es sich nun um einen Vereinsball handelt, eine Rindviehausstellung oder das Bismarck-Denkmal auf Bornholm. Sie wählen jedesmal aus ihrer Mitte den ›engern künstlerischen Beirat‹ und protestieren dann gegen ihn.

Der wichtigste Mann aber im Variété auf der Theresienhöhe war der Portier. Er war nämlich der Kapitalist.

— — —

In der allgemeinen Verwirrung habe ich vergessen, zu sagen, daß unsre Bühne auch sogenannte Ziele hatte. Die Programmschrift war von Professor Fuchs verfaßt. Es sollte bei uns ›zum erstenmal auf deutschem Boden‹ gezeigt werden, daß das Variété ›des üblichen Tandes entbehren könne‹, um, ›anknüpfend an die Idylle der Biedermeierzeit, das deutsche Gauklertum in seiner primitiven Gestaltung, frei vom Snobismus einer dreimal verdammten, nun, dank den verfeinerten Sinnen unsrer Zeit überwundenen Epoche falscher Prachtentfaltung, wieder in jener Keuschheit zu zeigen, die uns die Körperkultur in ästhetisch-harmonisch angepaßter Umgebung bewundern läßt; nicht Alhambrahöfe, nein, den Dorfmarkt mit seinem malerischen Getriebe wollen wir zum Schauplatz unsrer Seiltänzer erwählen‹.

Goldne Worte – wie?

Schon vor der ersten Vorstellung klagte mir Geißler über mangelhaften Besuch – ich möge eine Reklame aushecken. Ich schlug vor: er sollte sich aus Verzweiflung die Pulsadern aufschneiden – am Vorabend, aber doch zeitig genug, damit es noch in die Morgenblätter käme. Geißler meinte – mit einem Blick auf mich – er würde den Unfall eines engagierten Mitgliedes vorziehen.

Der Morgen vor der Eröffnung war nervenerschütternd. Unsre Soubrette (am Abend die erste Nummer) fand plötzlich: ihr Repertoire sei zu intim für diesen Raum. Sie müßte etwas Jahrmarktgemäßes haben.

Geißler verlangte, ich sollte ihr ein Lärmcouplet dichten, spätestens bis elf.

»Ich kann nicht dichten. Und Couplets schon garnicht.«

»Hätt ich nur den Buckelochsen engagiert,« jammerte Geißler. »Hätt ich ihn nur engagiert!«

Geistesgegenwärtig, wie ich bin, stahl ich ein Lied: den Text von Viktor Léon, die Musik von Oskar Straus. Nachmittag war uns die Aufführung durch einstweilige gerichtliche Verfügung verboten, und man bezichtigte mich des Plagiats; hinsichtlich des Textes tat es Grünbaum, hinsichtlich der Musik Paul Lincke.

Ich schrieb sofort nagelneue Verse:

»Ach, jeder Kuß
Schafft Kochgenuß –
Drum küsse, o küsse nur zu!
Sieh doch, voll Lust
Hebt sich die Brust,
Ach, meine Seligkeit bist nur du.«

Da meldeten sich sämtliche lebenden Librettisten als Verfasser.

Der Abend war ein einziger Kampf mit den Mächten des Himmels, des Staates, der Kunst und des Magistrats.

Der Amerikaner mit seinem Sketch hatte vorausgesagt: nach dem ersten Bild würde es schüchternen Beifall geben – das wär immer so – nach dem zweiten starken Beifall, nach dem dritten ›kämen die Galerien herunter‹ – Man hörte plötzlich schüchternen Beifall; der ganze Sketch war vorüber.

Die zwölf english girls hatten alle miteinander keine Stimme; der Agent hatte garantiert, sie hätten zwölf Stimmen.

Die chinesische Tragödin verlor auf offener Bühne ihre chinesischen Füßchen.

Dem Kunstschützen versagte die Flinte – die Ziele hagelten trotzdem im Polkatakt herab.

Ich sollte, als vierte Nummer, die Situation retten und trat mit ganz neuen Geschichten auf. Kaum fing ich eine an, riefen mir die Leute aus dem Parkett schon die Pointe zu.

»Stören Sie meinen Humoristen nicht!« zischte Geißler beschwörend ins Publikum.

»Was heißt Humorist?« antwortete ein Literaturfreund von unten. »Roda Roda is ä ernster Künstler.«

Die jugendliche Oteritta hatte eben zu tanzen, da kam ein Mann und sagte: er dulde nicht, daß seine Mutter sich öffentlich preisgebe.

Dem Löwen fiel das künstliche Gebiß ins Orchester.

Der Herkules-Jongleur vermißte sein Kanonenrohr; das Bübchen des Kapellmeisters war mit dem Rohr davongelaufen.

Unsre Hoffnung war noch der sprechende Hund – die Zensur verlangte seine Texte in zwei Exemplaren und verbot ihm (als angeblich zum Klassenhaß aufreizend) das einzige Wort, das er sprechen konnte: Hunger.

Indessen suchte Geißler unten die Zuschauer immer wieder zu beruhigen. Da kam (ist es verwunderlich bei diesem Riesenbetrieb?) da kam der Logenschließer, der Herrn Geißler nicht kannte, und schmiß ihn als ruhestörend hinaus. Schmiß Herrn Geißler hinaus; den eignen Direktor.

Die Athleten vom Sketch forderten ihre Gage. Von wem? Von mir. Ich wies sie an den Geschäftssekretär. Sie packten ihn und wollten ihn unter sich aufteilen. Er rief nach dem Dramaturgen – der Regisseur meldete kurz: »Ist beruflich verhindert. Wird eben gepfändet.« Die Herren des Ausschusses bestürmten den Verwaltungsrat um Aufklärung. Der Portier trat dazwischen.

Schon hatte der sprechende Hund den Löwen verbellt, als auf einmal Stille in die streitenden Gruppen kam: die städtischen Elektrizitätswerke hatten das Licht abgedreht, weil die Rechnung nicht bezahlt war.

In der finstern Halle aber tönte die Stimme Geißlers:

»München – dieses Nest! Hier ist ja nichts zu machen. Geben Sie mir augenblicklich meine fünfzehn Mark heraus! Ich gründe in Berlin ein Schauspielunternehmen.«


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