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Ein Schock neue Zeitschriften

Eine Zeitlang war das Papier knapp in Deutschland. Jetzt scheint die Blase irgendeiner Zentrale geplatzt zu sein; man erblickt an allen Litfaßsäulen die Plakate neuer Zeitschriften, und die Post bringt einem täglich die Versicherung: die und jene Revue werde vom nächsten Ersten an erscheinen – zur empfindlichen Verstopfung einer Lücke.

Meist sind es politische Monats- und Wochenschriften: das vorige Geschlecht hat erwiesen, daß Talente Hungers sterben; da versucht das neue Geschlecht, von seiner Gesinnung zu leben.

In München haben wir jetzt zehn neue Zeitschriften. Eine heißt ›Der Blitz‹ – wohl nach ihrem flüchtigen Erscheinen; die andre ›Janus‹ – weil der Abonnentenkreis zwei Gesichter hat; sie gehört zu den erfolgreichern; die dritte ›Helios‹ – erscheint am Morgen und wird am Abend untergehen; die vierte ›Agora‹ – nach dem bekannten größten Gemeinplatz Athens; ›Das Rätsel‹ geht seiner Auflösung entgegen; ›Das wilde Roß‹ – wer denkt daran, es zu halten? – ›Die Zirbeldrüse‹ – ein winziges Organ, von dem niemand recht weiß, wozu es eigentlich da ist; ›Der Vollmond‹ – weil das Format von Woche zu Woche abnimmt; ›Der Vulkan‹ ist zum Speien; endlich ›Der Komet‹ – – doch nein, er hat den Schweif schon eingezogen und zeigt sich nicht mehr.

Es ist nicht nötig, all die Sachen zu bestellen – Ew. Hochwohlgeboren müssen nur im Verzeichnis der Fernsprechteilnehmer stehen, um wöchentlich mit den Leidenschaften von zehn Herausgebern überspritzt, mit der Keilschrift von zehn Illustratoren gezüchtigt zu werden. Da nämlich jede der Zeitschriften eine ›garantierte Auflage von 10 000 Exemplaren‹ hat, München aber nur die gleiche Anzahl von lesenden Einwohnern, so ist klar, daß jede Zeitschrift denselben 10 000 Leuten regelmäßig zugehen muß – und ihre Adressen eben stehen im Telephonverzeichnis.

Neben den politischen gibt es immernoch auch kulturelle Zeitschriften. Den ›Erdgeist‹ habe ich eigenhändig abonniert, was in den beteiligten Kreisen einiges Aufsehen erregte und große Hoffnungen wachrief für die Zukunft des neuen Unternehmens. In Nummer 1 schon fesselt mich ein Essay ›Hochzeitsgebräuche im östlichen Grönland‹, der zum Ergreifendsten gehört, was aus deutscher Feder je geflossen ist. Leider bricht der Artikel grade an spannendster Stelle ab, um erst im nächsten Heft weiterzulaufen. Ich werde einen vollen Monat warten müssen, um endlich zu erfahren: wie sich die Eskimobraut ›hingegen in Upernivik‹ benimmt, ›falls ihr geschiedener Gemahl kein Weiberboot besitzt‹. Einen Monat wird mich peinigende Wißbegier verfolgen: schüttet die Braut das Tranbecken aus – oder trinkt sie es leer? In Upernivik? Die von Ritenbenk hat es (unter interessanten Beschwörungen) ausgeschüttet. – Die Herausgeber sollten einige Rücksicht nehmen auf die Nerven ihres Lesers.

Ich habe den Revuekommandeuren Münchens einen gewiß beherzigenswerten Vorschlag unterbreitet:

»Wozu,« sagte ich, »all das Zeug erst drucken lassen? Wozu die hohen Auslagen für Satz und Papier? Laßt doch die Manuskripte selbst bei den Abonnenten zirkulieren! Damit ließe sich dann eine nette Manuskriptausstellung verbinden – bei Schönwetter im Freien und an Regentagen unter Dach.«

Leider will man nicht auf mich hören – die Menschen sind so starrköpfig, die Idee noch zu neu.

Glückliches Deutschland! Nicht genug, daß jeder Bauer sein Huhn im Topf hat – nein: es entbehrt auch kein Jüngling seines eignen Vogels – und, um ihn auszudrücken, hat er seine Privatzeitschrift; wo er sagen darf, ungehemmt von banausischen Redakteuren, wie es dem Reichspräsidenten ums Herz zu sein hat und wie sich diese herrliche Welt verbessern und wieder verbessern ließe – durch einen gewaltigen Ruck nach links oder nach dem jetzt noch beliebtern Rechts.

Sooft mir eine neue Wochenschrift begegnet, muß ich meines Freundes Keller gedenken. Er, er ist der klügste Herausgeber gewesen, der tüchtigste und glücklichste. Er gründete das ›Österreichische Marineblatt‹, erster Jahrgang 1897.

Drei Jahre später begegnete ich ihm wieder. Ich äußerte Beileid: ich hätte in all der Zeit die Marinehefte mit keinem Auge gesehen – das Unternehmen müsse wohl gestrandet sein?

»Im Gegenteil,« rief Keller, »ich blühe und gedeihe. Sofort auf meinen Prospekt hin haben sämtliche Erzherzoge das Marineblatt abonniert, der Erzbischof von Wien, die Hofbibliothek fünf Exemplare, die Statthalter der Provinzen, die Ministerien. Alle, alle zahlen pünktlich 36 Kronen im Jahr. Und niemand hat noch bemerkt, daß das Marineblatt überhaupt nicht erscheint. – Gestrandet?? Ich rechne auf ein sorgenloses Alter.«


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