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Das Ziegengebäude

Um das Jahr 1913 fuhr ein königlich preußischer Assessor aus Allenstein mit leichtem Gepäck nach Rom. Auf dem Rückweg wollt er sich mal München ansehen. Drei, vier Tage plante er zu bleiben. Es wurden vier Wochen daraus.

Sogar Monate: da war nämlich mittlerweile ein Onkel des Herrn Assessors gestorben, und der rührige Erbe verspürte keine Lust mehr, nicht die geringste Lust, heim ins heilige Amt zu gehen.

Ich weiß nicht, ob Sie Allenstein kennen und wie Sie darüber denken. Es hat ja dort letzthin eine Volksabstimmung darüber gegeben, ob Stadt und Kreis bei Deutschland bleiben sollten oder nicht. Wenn ich Allensteiner wäre und hätte mitzuentscheiden gehabt – ich stimmte natürlich für Deutschland – aber – bei aller Vaterlandsliebe – nur unter der Bedingung: daß sich das Reich endlich des vernachlässigten Ortes ein wenig annehme. So, wie es zur Zeit dort aussieht, ist es nämlich kein Leben, am allerwenigsten ein Nachtleben. Ha, es ist die Wüste.

Also empfand Assessor Gehricke schon im Jahr 1913 und zog München vor – in zufriedenem Hinblick auf seine durch den Erbfall begründete wirtschaftliche Unabhängigkeit.

Er wurde da unter dem Namen ›Ziegengebäude‹ bald volkstümlich.

Der anscheinend sinnlose Beiname erklärt sich aus der Gewohnheit Gehrickes, unter gewissen Umständen, jedoch nie vor zwei Uhr morgens, Menschen, die ihm begegneten, als ›verehrliche Ziegengebäude‹ anzureden.

Ziegengebäude nahm also Abschied von Staat, Regierung und Regierungsdienst und lebte fortan als Privatmann in München. Lebte da viele, viele Jahre.

Es kann keine Rede davon sein, daß er es ruhig tat. Nein. Er lebte unter beständigen Gewissensbissen, in heißen Kämpfen mit einem bessern Ich, das immerfort in seinem Innern brütete, an die harte Schale pickte, ohne sie jemals sprengen zu können.

Wie folgt spielte sich des Ziegengebäudes Dasein ab:

Abends um acht erhob er sich vom Lager und fragte nach dem gebotenen Häring. Der Häring stand, sauber geputzt, von der sorglichen Wirtin garniert, auf dem Tisch bereit.

Ziegengebäude verzehrte ihn und sprach:

»Frau Rummel, diesmal – ich schwöre Ihnen – diesmal solls das allerallerletztemal gewesen sein. Ich habe beschlossen und werde es halten: ich bin solid. Mit zwanzig Mark in der Tasche – das ist doch nicht zuviel? – gehe ich vom Hause weg, werde abendessen – und in längstens zwei Stunden bin ich wieder da.«

»Wanns nur wahr is, Herr Zie … naa, Herr von Gehricke!« entgegnete bekümmert die Wirtin.

»No, nacher schaun S' mir halt zu!« antwortete Gehricke – (seine Sprache hatte, wie man bemerken kann, durch langjährige Übung schon Lokalkolorit angenommen.) »Überzeugen S' Ihnen selber!« – Gehricke steckte ostentativ zwanzig Mark ein.

Und ging. In seine Stammbude ›Zum Pfälzer‹.

Als er den Pfälzer gestärkt verließ – da wandelte ihn eine ganz, ganz kleine Schwäche an. Um ihrer Herr zu werden, würde es, meinte er, genügen, in der Torggelstube ein einziges Gläschen Cognac zu nehmen. – Er hat kein Geld? Nun, die Marie in der Torggelstube kennt ihn.

Und schon betrat er – leider – die Torggelstube. Er wandte sich an Marie mit den Worten:

»Ich komme vom Pfälzer.«

Über die tiefere Bedeutung dieser Einleitung soll später abgehandelt werden.

Die Nächte in München sind sehr windig – der Wind bringt die besten Vorsätze ins Schwanken; daher der Stadtname München: vom altgriechischen mynomai = vorschützen, zaudern. – Die Rauhheit des Klimas wieder erklärt den gesteigerten Schnapskonsum.

Und als Gehricke gegen elf – nun schon ausgeglichenern Gemüts – das Lokal wechselte, lautete sein Gruß in der Odeonbar:

»Ich komme aus der Torggelstube.«

Um eins huschte Gehricke ins Tabarin:

»Ich komme aus der Odeonbar« – während er um zwei den Ober bei Benz anschrie:

»Verehrliches Ziegengebäude! Ich komme von Kathi Kobus.«

– – – – – Um sechs am Morgen – vom ›Club der Zukunft‹ (der in den Privaträumen der Kinodiva Hoheisl wirkt), nahm Gehricke ein Auto und schärfte dem Automedon ein, gegen Abend den Fuhrlohn abzuholen …

»I woaß scho, Herr Assessor,« versicherte der Wackere. Er kannte ja seinen Kunden.

– – – Gegen Abend, wie es ihm befohlen war, fuhr Automedon beim Ziegengebäude vor, Schwabing, Seestraße 18 – und Gehricke stieg ein zum schwersten Werk des Tages, dem ›Rückwärtskruch‹. Als welcher sich folgendermaßen abzuspielen pflegt …

Gehricke fragt den Wagenlenker:

»Woher bin ich gekommen?«

»Von der Fräuln Hoheisl, Herr Assessor.«

Der Motor knattert, die flinken Räder schnurren.

Bei Fräulein Hoheisl zahlt Ziegengebäude seine Zeche und fragt:

»Woher bin ich gekommen?«

»Aus dem Bühnenclub.«

So muß Gehricke, von Prinzipien gepeitscht, von Haarweh gequält, alle Stationen seines gestrigen Kreuzwegs zurückschreiten – alle Stationen, nicht eine bleibt ihm erspart: muß überall seine Schulden bezahlen …

– – – bis er nach langlanger Wanderung von Maries süßen Lippen das erlösende Wort vernimmt:

»Sie sind vom Pfälzer gekommen, Herr Assessor!«

Nun weiß er, daß der Rückwärtskruch vollendet ist; denn im Pfälzer hat er regelrecht bezahlt.

– – – »Ach,« seufzt Gehricke so manchesmal, »wie lange werde ich die Strapazen dieses Daseins noch ertragen können?«

Und seine Sehnsucht ist öfter, als man glaubt, im stillen Allenstein, wo die Entfernungen kürzer, die Spirituosen wohlfeiler, die Versuchungen kleiner – gradezu negativ sind.


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