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Großmutter lügt

Die Ziege ist ein genäschiges Tier; sie knabbert die zartesten, die süßen Triebe der Bäume ab, die sprießenden Spitzen der Halme; ihr ist kein Sprung zu kühn, ein würziges Mäulchen Gras zu erhaschen. Du mußt ihr nur einmal, ein einzigesmal Zucker gereicht haben oder auch nur einen Bissen gesalzenes Brot – und sie wird dir entrennen, dir nachrennen, dich beschnuppern, anbetteln und lecken. Sie wird sich dem nächsten Fremden ebenso vertraulich und innig-belästigend anschmiegen, weil sie auch bei ihm Salz und Zucker vermutet, und sich alsbald von ihm abwenden, wenn er sie enttäuschte, um zu dir, ihrer alten Liebe, zurückzukehren, weil sie bei dir einer freigebigern Begrüßung gewärtig ist. Eine feile Dirne, ein liebenswertes Ding, solch eine Ziege.

In Jankowatz auf den weißen Felsen ob dem tiefdunkeln See, da wohnte eine Familie von Hirten. Er ein schweigsamer, in sich gekehrter Mann – sie eine überfleißige, nichts denkende Wirtin. Die Schwiegermutter, der Hirtin Mutter, war bei ihnen.

Dorthin kam nie ein Mensch. Sommers hausten die drei einsam auf dem Fels mit ihren Ziegen, braunroten Ziegen – und unter ihnen in der Tiefe rauschte ein Meer von Tannenwäldern – mitten darin der dunkle, ewig unbewegte, blinde See. Man war dem Himmel so nahe wie der Erde – und der Himmel allein mit seinen jagenden Wolken, seiner strahlenden Bläue schien das Leben dieser Menschen zu bestimmen; denn die Erde bestand aus Fels und Wäldern und See allein und änderte sich nicht.

Vor Winter stiegen die drei mit ihren bimmelnden Herden vom Felsenhorst nieder nach Ljubin: zu einer Zeit, wo die Ljubiner Bauern ihrerseits schon wieder ein gut Stück weiter hinab ins Tal gezogen waren; so daß die drei Ziegenhüter und Hüterinnen auch die langen Monate im Schnee so allein blieben wie den grünen Sommer.

Die Jankowatzer Hirten hatten ein Töchterchen, das war mit Ziegenmilch und Sonnenschein genährt. Keine andre Kost erzeugt so pralle Backen: Kinder, die bei Sonnenschein und Ziegenmilch aufwachsen, haben feuerklare Augen und heiße, wirklich selbstleuchtende Wangen, die vor Kraft und Gesundheit zu bersten drohen; sind neugierig wie Ziegen, anhänglich, naschhaft und behend – kleine Meister im Klettern – und tragen braunrote Zöpfchen, an jeder Schläfe eins. – Ich weiß nicht, warum das so ist; aber es ist so.

Der Hirt, verschlossen wie er war, kümmerte sich den Teufel um das Kind, ließ es ins Leere plappern. Die Hirtin hatte viel andres zu tun, als auf abertausend Fragen Antworten zu geben. Das Töchterchen aber wollt alles kennen und beschnuppern; wie eben Ziegen sind. Da hielt sich das Kind an die Großmutter.

Diese Großmutter war, scheint's, nur für ihre Enkelin auf Erden; fütterte die Enkelin, legte sie schlafen, hätschelte das Kind am Morgen, flocht ihm die Zöpfchen und fütterte es wieder. Eine aufrechte, erstaunlich junge Frau – heiter, seltsam unschuldig und mädchenhaft – dabei so klug wie niemand sonst im weiten Kreis. Sie mußte ihr Leben in einer andern, bewegten, fremden und noch größern Welt begonnen und verbracht haben; denn sie wußte alles; warum man den Unken einen Napf Milch vor das Höhlchen stellen soll: damit sie nicht das Heu anzünden; warum die Hexen just auf Böcken reiten; wie die Zwerge hausen, wie sie ihr Holz spalten und wo sie es stapeln ... alles, alles wußte Großmutter und kargte nicht, es die Enkelin zu lehren.

Daß die Unken das Heu anzünden, hatte die Kleine selber miterlebt – wie anders konnte der Schober damals in Brand geraten sein, vor dem harten Winter? Die alte Unke ist scheu und schuldbewußt vom Ort der bösen Tat betreten in den Sumpf gehupft. – Die Hexen hatte die Kleine mehr als einmal durch die Wolken rasen sehen um den Felsen, in grollenden Nachtgewittern. – Und Zwerge, oh, die Zwerge sägten jeden Morgen Holz unten im dritten Tal im Schatten der Bäume, am hellichten Tag, und fuhren es heim auf winzigen, hochbeladenen Wagen, mit winzigen Pferdchen. Weit, weit unten im dritten Tal, am hellichten Tag. – Es wären »doch die Ljubiner Bauern,« murrte der Vater.

Eins aber, was die goldne Großmutter wieder und wieder erzählte, das wollte der Kleinen nimmermehr in den Kopf: daß es bei den Menschen nicht nur Ziegen, sondern Kühe gebe. Kühe, die weiß und rot gefleckt sind, zehnmal größer als Ziegen – Tiere, die zwar Milch gleich den Ziegen spenden, nur viel mehr – und muh! muh! rufen, statt zu meckern. Im Schlaf und im Wachen – im Traum, der vom sinnenden Schauen ins Waldeswogen gar nicht sehr verschieden war – immer sah die Kleine nur diese zehnmal größern weiß und rot gefleckten Riesenziegen und hörte ihr Muh-Muh. Sollt es wahrhaftig sein? Kann es so große, schöne Tiere geben?

Monate, vielleicht ein Jahr quälte sich die Enkelin mit Neugier und ... mit Zweifeln. Ja, mit Zweifeln. An Gott und Satan, an Wunder mochte sie willig glauben – selbst an Eisenbahnen und Städte, die drunten liefen und lägen. Ja. – An Kühe aber? Nein. Da irrte sich Großmutter. Da irrte sie ganz gewiß.

– – – Und eines Abends, als die zarte alte Frau am buntesten ihr Märchen ausgemalt hatte von den Riesenziegen – ohne zu ahnen, wie tief es die Enkelin aufrührte, im Innersten; als der Schlaf das kleine, raschelnde Lager von Buchenblättern floh und gigantisches, weiß-rot geflecktes Fabelvieh die Einbildung der Kleinen irr umtobte – da faßte das Kind einen gigantischen Entschluß und führte ihn in der frühesten Dämmerung aus:

In Großmutters viel zu weiten, schweren Schuhen schlurfte und klapperte die Kleine zu Tal. Sie schritt nicht wie andre Leute – geradeswegs – sondern wie ein Wiesel oder eine Eidechse: Husch! eine Strecke – und dann eine Pause zum Atmen und Besinnen geduckt im Versteckchen: Husch! und husch! von Lauer zu Lauer.

So kam sie in ein fernes, unbekanntes Land.

– – – Als sie gegen Mittag sterbensmüde wiederkehrte, da waren die Wangen tränenüberströmt. Die Tränenströme rannen zwischen Furchen Staubes.

Nichts. Keine Kühe gesehen. Nur Menschen und Ziegen. Es gibt keine Kühe. – Eine Weltanschauung, ein Glaube war erwürgt, vernichtet, zerstoben: Großmutter lügt.


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