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Meine Nordpolexpedition

Über den Forschungsunternehmungen der großen Völker vergißt man gern eine österreichische Tat: meine Nordpolexpedition im vorigen Jahr.

Ich war am 3. April von Kap Tscheljuskin aufgebrochen. Leider viel zu spät, wie sich zeigte. Meine Reise hatte sich verzögert, weil bei dem Tiefstand des österreichischen Kredits das Zehrgeld so schwer aufzubringen war. Ich mußte einen halbwegs günstigen Stand der Züricher Börse abwarten und geriet so in den Polarwinter, der, genau wie der Winter in den Alpen, schon Anfang Mai einzusetzen pflegt.

Dem Elend meiner Heimat entsprechend war meine Ausrüstung recht ärmlich. Unser Fahrzeug war ein kleines altes Holzschiff ›Inseparabiliter ac indivisibiliter‹, anderthalb Tonnen, das vorher jahrelang der Grammat-Neusiedler Papierfabrik zum Einweichen von Wollumpen gedient hatte. An Nahrung führten wir einige hundert Gullaschkonserven mit, aus frühern Heerbeständen, und eine Kiste Zichorienkaffee. Doch alle Mängel der Ausrüstung wurden behoben durch den eisernen Willen von vierundzwanzig Österreichern des Mittelstandes, das Banner unsrer ruhmreichen Republik auf den Nordpol zu pflanzen. Von Hause her Hungers gewohnt, durch den Frost unheizbarer Wiener Winter abgehärtet, freuten wir, ja, freuten wir uns auf die Entbehrungen, die uns bevorstanden – für uns sollte die Nordpolreise im Vergleich zur Heimat eine komfortable Erholung werden.

Im nördlichsten Hafen, Uperniwik in Grönland, heißten wir einige Hunde an Bord, die uns mitleidige Eskimos, nachdem ich ihnen den Zustand Österreichs geschildert hatte, feuchten Auges schenkten. Gerührt nahmen wir Abschied von den letzten menschlichen Wesen, um hinaus in die trostlose und doch so kristallhelle Einsamkeit zu segeln.

Ich kann den Hergang der Expedition einstweilen nur kurz schildern; eine ausführliche Darstellung bleibt meinem Hauptwerk (bei Brockhaus, Leipzig) vorbehalten.

Von meinen zweiundzwanzig Leuten gaben elf das Unternehmen schon nach zwei Tagen als zu fad auf. Die übrigen neun verlangten bald ihre Pensionierung. Ungebrochenen Mutes setzte ich die Forschungsreise mit dem mir verbliebenen einzigen Gefährten fort, dem Hauptmann-Rechnungsführer a. D. Alois Prantl.

Weihnachten feierten wir schon im Packeis. Es hatte unser Bootchen eingeschlossen und trieb uns unaufhaltsam nach Norden. Stummergeben mußten wir uns der Gewalt der Elemente überlassen, ohnmächtig, in ihr Walten einzugreifen.

In diesen Monaten ewiger Nacht war unser wahres Labsal die Bordbücherei, bestehend aus einer Nummer des ›Wiener Neuigkeits-Weltblattes‹, die unser hoher Protektor (Graf) Lamezan uns vor der Ausreise gespendet hatte. Immer wieder lasen Prantl und ich einander mit erstickter Stimme den Leitartikel vor. Bald konnten wir ihn auswendig und nahmen uns sozusagen das Wort aus dem Munde, indem der eine von uns den vom andern begonnenen Satz zu Ende sprach, oder beide den Text (er handelte von der Einrichtung einer gemischtsprachigen Bezirksbehörde zu Hohenau) im Chor aufsagten. Unsre Gedanken weilten bei unserm lieben Wien – dem alten Steffel auf dem Stefansplatz, den süßen Maderln – und wenn uns die Phantasie einen saftigen Kruspelspitz vorzauberte mit einem Glase frischen Pils, da blickten wir einander in die Augen, Prantl und ich, und stimmten eine tiefempfundene Weise an zum Lobe unsrer Kaiserstadt.

Der furchtbarste Tag war der Faschingdienstag. Die Stürme der Arktis und Antarktis schienen sich Rendezvous bei uns gegeben zu haben zu einer grauenvollen Française und tanzten rund um unser Schiffchen die vierte Tour. Das Eis türmte sich zu Bergen, preßte unser Fahrzeug ein, und wir mußten es verlassen.

Tags darauf schlug uns ein zweites Unglück und bewies uns, daß selbst in unsrer verzweifelten Lage noch eine Steigerung der Schrecknisse möglich war: ein Windstoß entriß uns unser Boot samt allen Instrumenten.

Nun, unsern Instrumenten, bestehend aus der nautischen Uhr und dem Thermometer, brauchten wir nicht nachzutrauern, da wir einerseits die kostbare Uhr schon in Hamburg auf das Leihamt gebracht hatten, andrerseits das Thermometer zerbrochen gewesen und wir auch ohne meteorologische Ablesung merkten, daß es ziemlich kalt war. Doch mit den Instrumenten war uns auch Kozenns Atlas für die Mittelstufe der österreichischen Bürgerschulen, Auflage 1880, Halbleinen, verlorengegangen, so daß wir nun in der Eiswüste ohne Orientierung blieben.

Als die Zichorienkiste verzehrt war, aßen wir unter Tränenströmen unsre treuesten Genossen, die Hunde. Noch hatten wir anfangs zwei Zwiebeln und etwas Paprika. Doch der Paprika ging zu Ende, und nun vermochte selbst Prantls hervorragende Kochkunst uns kein abwechslungsreiches Menü mehr zu zaubern. Den letzten Hund mußten wir als Pichelsteiner Fleisch zubereiten.

Wir gingen dem 21. März entgegen, wo wieder die Sonne aufgehen sollte. O Schreck, sie ging nicht auf. Ein Strahl des Nordlichts beleuchtete die hoffnungslose Szene.

Ich sagte schon, wir hatten Instrumente und Karten eingebüßt. Da merkten wir nicht, daß uns das Packeis über den Nordpol hinausgebracht hatte, in jene absolute Wüstenei, wo es keine Meridiane und Breitengrade mehr gibt. Der Kompaß, den Prantl noch von seiner aktiven Dienstzeit her an seiner Militärbluse hängen hatte, drehte sich planlos.

Dazu die unbeschreiblichen Entbehrungen. Eine einzige Dose Tapetenkleister, die Prantls Tante ihm zum Glück beim Abschied aus Wien als eisernen Vorrat zugesteckt hatte, sie schmierten wir auf das trockene Brot.

Einmal war mir fast schon gelungen, einen Seehund mit einem dargebotenen Bissen anzulocken; da erblickte er unsre Flagge, rümpfte die Nase, schüttelte sarkastisch-lächelnd den Kopf und kehrte um.

Prantl wurde in diesen Nöten irrsinnig. Er forderte stürmisch, von mir zum Bezirksvorstand von Hohenau ernannt zu werden, mit der gleitenden Lohnskala der Wiener Trambahnführer. Angesichts der Knappheit der österreichischen Staatsmittel konnte ich sein wahnwitziges Verlangen nicht erfüllen – und er proklamierte den Generalstreik der Bundesangestellten.

So hatte sich auch der letzte Begleiter von mir getrennt – ich stand allein; ohne Proviant, ohne Schlafstätte, ja, ohne Legitimationsdokumente – allein in der Öde der Polarnacht.

Hier war es, wo der Himmel ein Wunder an mir wirkte:

Ich höre am 14. April, 7 Uhr morgens, einen fernen Ton in der eisstarrenden Einsamkeit. Zuerst glaube ich an eine Elendshalluzination. Doch nein, es sind menschliche Laute.

Laute, die näherkommen. Erregt horche ich – und nehme im nächsten Augenblick eine große, vermummte Gestalt aus; sie tappt im Dunkel daher, beugt sich alsbald zu mir nieder und redet mich in einer fremden Sprache an.

Man weiß aus den Berichten der Blätter, daß es die Gouvernante Fräulein Gertrud Bräsig war, die da, auf einem Spaziergang mit ihren zwei schutzbefohlenen Kinderchen begriffen, mich in der Stunde der äußersten Erschöpfung auflas.

Sie labte mich und brachte mich zu ihrer Herrschaft, in eine Pfarre nach Rostock.

Ich war geborgen und feierte noch am selben Abend bei dampfendem Punsch meine glückliche Errettung.

– – – Habe ich auch viel Qualen durchmachen müssen, so tröstet mich die Fülle des wissenschaftlichen Materials, das ich von meiner Expedition heimbringe. Es steht in nichts gegen die Ergebnisse andrer, großartiger, reichausgestatteter Polarfahrten zurück. Man weiß dank meinen Forschungen, daß die Temperatur nach dem Pol zu bedeutend abnimmt – und eine Abart des Eisflohs, die ich entdeckt habe, wird in aller Zukunft meinen Namen tragen.


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