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Der Gamsbock

Seit hundert Jahren oder länger ist die Gams nicht mehr Standwild in der Sächsischen Schweiz.

Desto größer war der Schrecken, als letzten Mittwoch, beim Verladen des Zirkus Tomaselli auf dem Dresdner Güterbahnhof, eine Kiste mit lebendigen Raubtieren die Rampe hinabfiel – zerbrach – und ehe man sichs versehen hatte, jagte in mächtigen Sätzen gerade Tomasellis stärkster Gamsbock davon, über die Neustadt hinaus nach Nordosten.

Man muß der Polizeibehörde anerkennend bescheinigen, daß sie ihren Mann stellte: mit allen Mitteln der Technik – Rundfunk, Fernsprecher, Kino – wurde die Bevölkerung unterrichtet und gewarnt; rasch war die Hiobspost in die fernsten Stadtteile gedrungen, in die letzte Arbeiterwohnung. Ein Erlaß des Oberbürgermeisters mahnte die Einwohner zur Besonnenheit; sie sollten die Heimstätten nicht verlassen, gefaßt und guten Mutes die Vorkehrungen der Behörden abwarten, die entschlossen den Kampf mit der Bestie aufnehmen werden, um ihn zweifellos bald mit Erfolg zu beenden.

Grade in solchen Augenblicken zeigt sich, welchen Wert die dem deutschen Bürger anerzogene Disziplin darstellt, wie wichtig es ist, daß der gemeine Mann des Vertrauens voll sei in die Energie und Umsicht der Obern:

Die Stadt war wie ausgestorben; Schulen, Läden, Ämter geschlossen; doch wie lähmend auch der Alp der Ereignisse auf Dresden lastete – nirgends nur die leisesten Zeichen von Kopflosigkeit.

Ich war sicher, daß um diese Zeit – zwei Stunden nach Entspringen des Gamsbocks – schon sämtliche Abteilungen der Schupo und Reichswehr plangemäß, wohlbewaffnet das Weichbild nach dem Ausbrecher abstöbern – dennoch wollt ich mir nicht versagen, meine kolonialen Jagderfahrungen in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen. Flink war die Elefantenbüchse aus dem Futteral geholt, das bewährte Bowiemesser umgeschnallt – mit Zeltbahn, Rucksack, reichlichem Patronenvorrat machte ich mich nach Loschwitz auf. Der Jägerinstinkt sagte mir: dahin müsse der Gamsbock sich gewendet haben.

Und mein Spürsinn hatte auch diesmal nicht getrogen: am Elbeufer machte ich alsbald die Tränke der gewaltigen Raubkatze aus – die Fährte wies deutlich nach den Felszinnen des Weißen Hirsches.

Ein Herzschlag Überlegens genügte: im Hui waren die Kletterschuhe angetan – und schon stieg ich den nie vorher von Menschenfuß betretenen Kamin der Drahtseilbahn empor.

Ein wahres Wunder, daß sich eine Wand in solcher Nähe der Landeshauptstadt ihren jungfräulichen Charakter hat bewahren können. Umso schlimmer für mich: Die Griffe vielbenutzter Steilhänge pflegen, dank häufiger Erprobung, sicher zu sein – hier aber, wo Sturm, Regen und Frost von Jahrtausenden ihr zerbröckelndes Werk getan hatten, wollte jeder Stein sorgfältig auf seine Festigkeit geprüft, jeder zollbreite Tritt gefunden und umständlich versucht sein. Oft bot eine Schwelle der Drahtseilbahn der tastenden Hand des Besteigers einen kaum fingerbreiten Halt. Und unten lauerte mit gierigem Rachen der Abgrund, die Elbe, der Tod.

Die Loschwitzer Drahtseilstrecke ist die gefürchtetste Lawinenbahn weit und breit. Immerfort donnerte es mir zu Häupten, mit schrecklichem Tosen fuhren die Wächten über mich weg zu Tal.

Um elf etwa hatte ich den Grat des Weißen Hirsches erklommen, mit zwei großen Sprüngen das Eingangstor des Sanatoriums erreicht.

Der Portier hatte sich in seine Hütte verkrochen – er kam zitternd hervor, als ich mich durch lautes Pochen und Weidmannsheil-Rufe als Entsatz zu erkennen gab. – Bereitwillig gab der Portier Auskunft:

Ja, der Gamsbock hauste hier oben und hielt die Gegend in Furcht. Kommerzienrat Hirsekorn aus Neiße, Gast des Sanatoriums, taub und fast gelähmt, hatte den Alarm überhört, war ahnungslos, schlafend im Sonnenbad zurückgeblieben; blutdürstig schlich sich der Gamsbock an sein Opfer und knabberte ihm hinterrücks die Ohren ab. Als der Kommerzienrat erwachte und über sich des Untiers schäumende Nüstern, die gefletschten Reißer sah – in dieser furchtbaren Sekunde ist Hirsekorn ergraut.

Sofort wandte ich mich nach dem Sonnenbad.

Gegen den Wind pirschend, vernehme ich plötzlich deutliche Standlaute: also ist auch schon ein andrer Weidmann am Werk! Umso gewisser bin ich auf der richtigen Fährte.

»Geduld! Geduld!« wispere ich mir zu – so stürmisch mein Herz dem Abenteuer entgegenschlägt. Nur jetzt keine Übereilung, die all die bisherigen Mühen und Gefahren um ihren Lohn betrügen könnte!

Ruhig warte ich die Dämmerung ab – und bei Büchsenlicht krieche ich Schritt um Schrittchen näher nach der Stelle, wo der Standlaut, das Brechen von Gezweig die Anwesenheit des Wildes zu verraten scheinen.

Ich luge behutsam aus – und was zeigt sich dem geschulten Späherblick des Weidmanns?

Da umkreist Agathel, Hans Reimanns Dackelhündin, einen Busch und gibt mörderisch Hals. – Also muß auch der beliebte Dialektdichter in der Nähe sein!

Richtig ist, wie sich später zeigte, Hans Reimann auf die Kunde von seines Vaterlandes Nöten aus Charlottenburg aufgebrochen, um, ähnlich wie ich, Herz und Hand für das Volkswohl einzusetzen.

Wir begrüßen einander mit leisen Winken – ein Zwinkern hier und dort genügt, uns über unsre Zusammenarbeit zu verständigen: aus beiden Richtungen, Treiber zugleich und Jäger, werden wir den von Agathel als Standort der Beute gezeichneten Busch umzingeln.

Es ist uns nicht gleich gelungen, Halali zu machen. Agathel in ihrem ungezügelten Eifer hatte fürs erste nur eine Schnepfe verbellt. Ich ließ dem jüngern Kollegen den ersten Schuß. Es war ein Blattschuß, die Schnepfe roulierte im Feuer und gab reichlich Schweiß.

Ohne uns weiter aufzuhalten, stürmten wir beide in das nun ohnehin aufgescheuchte Revier – und an der Ecke der Wandelhalle gelang es mir, den Gamsbock im Sprung zu erlegen. Hans Reimann gab ihm den Fang.

Die Kunde von dem Geschehnis hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Im Nu gewann die scheintote Stadt ihr Leben wieder: die Bogenlampen leuchteten auf – die Elektrische kreischte – Menschenmengen fluteten auf und nieder – der Strich auf der Prager Straße entfaltete sich.

Die Dankbarkeit der Bevölkerung war – man kann es nicht anders ausdrücken – war überströmend:

Die Gepäckträger des Hauptbahnhofs hoben Reimann und mich auf die Schultern. Der Herr Oberbürgermeister überreichte uns einen Kranz mit weißgrüner Schleife und taufte sämtliche Straßen und Plätze ringsum mit unsern Namen. Der Ministerpräsident beglückwünschte uns – für den Schutzverband der Deutschen Schriftsteller, Gau Sachsen, sprach Kurt Martens.

Hans Reimann hatte sich ausgebeten, Decke und Gehörn als Trophäen durch die Stadt tragen zu dürfen. Ich willigte gern ein: man muß als Autor – nicht wahr? – jüngere Talente neidlos fördern.


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