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Kapitel 18.
Jeannes Verschwinden.

Gegen Abend legte sich der Sturm, aber die See ging noch sehr hoch. Die Wogen brachen sich donnernd an dem Ufer der kleinen Insel. Andrew war vor die Tür getreten und sah stirnrunzelnd zum Festland hinüber. Die Entfernung betrug kaum hundert Meter, aber es war unmöglich, die Fahrt jetzt zu wagen. Jeanne stand lächelnd an seiner Seite.

»Oh, das ist herrlich! Freuen Sie sich nicht, wenn Ihnen der Wellenschaum ins Gesicht spritzt, Mr. Andrew?«

»Das ist sehr schön, aber ich bin neugierig, wie wir hinüberkommen.«

»Vorläufig geht es nicht. Sie müssen mich eben aufnehmen, ob Sie nun wollen oder nicht.«

»In einer halben Stunde haben wir den Höhepunkt der Flut, dann wird das Wasser schnell fallen.«

»Hoffentlich nicht! Ich glaube vielmehr, daß wir noch ein Wetter bekommen.«

»Sie werden auf Ihr gewohntes Abendessen verzichten müssen!«

»Das macht nichts«, erklärte sie fröhlich. »Es gibt ja doch immer nur dasselbe. Ich sehe schon, daß wir beide hier wundervoll soupieren werden.«

Es schien tatsächlich ein neues Wetter aufzuziehen.

»Wir wollen lieber hineingehen«, sagte Andrew. »Es regnet schon wieder.«

Sie klatschte in die Hände und sprang leichtfüßig zum Haus zurück. Im Wohnzimmer ließ sie sich in einen Sessel fallen und faltete die Arme hinter dem Kopf.

»Kommen Sie doch hier auf den Teppich zu mir und erzählen Sie mir Geschichten von Fischen und Abenteuern, die Sie im Sturm erlebt haben. Das ist alles neu und interessant für mich, auch wenn es Ihnen unbedeutend erscheint.«

Er fügte sich in das Unvermeidliche, und sie plauderten miteinander, bis die Dämmerung hereinbrach. Sie wußte viel und doch wenig. Plötzlich begann sie fröhlich zu lachen.

»Ich möchte nur die Gesichter sehen, wenn sie jetzt bei Tisch auf mich warten. Ich kann mir gut vorstellen, welche Angst die guten Leute ausstehen.«

»Ach, ich hatte sie ganz vergessen. Warten Sie einen Augenblick.«

Er trat wieder hinaus. Die See tobte stärker als je, und der Gischt der Wogen am Ufer spritzte höher als das Dach des Hauses. Er ging wieder zum Wohnzimmer zurück.

»Ich fürchte, daß ich Sie heute abend nicht mehr zum Festland zurückbringen kann. Die See ist noch zu bewegt, und es sieht nicht so aus, als ob sich die Wogen bald legen würden.«

Jeanne klatschte in die Hände.

»Ich möchte ja auch lieber hier bleiben als fortgehen. Wollen wir uns nicht einmal in der Küche umsehen, was wir zum Abendbrot haben? Ich habe im Pensionat ganz gut kochen gelernt, aber ich hatte noch nie Gelegenheit, meine Kenntnisse zu zeigen.«

»Der Inhalt meiner Speisekammer steht ganz zu Ihrer Verfügung. Aber ich muß jetzt gehen.«

»Sie wollen gehen?« fragte sie verwundert. »Wenn ich die Insel nicht verlassen kann, können Sie es doch auch nicht!«

»Ich werde hinüberschwimmen, um Ihre Stiefmutter zu benachrichtigen.«

Sie wurde plötzlich ernst.

»Aber das ist doch viel zu gefährlich! Sie müssen hier bleiben. Ich bin nicht daran gewöhnt, daß man mich allein läßt. Ich würde mich hier furchtbar einsam fühlen. Bitte gehen Sie nicht fort.«

»Miß Jeanne, auch wenn Sie es nicht verstehen, müssen Sie mir glauben, daß ich Sie unmöglich als meinen Gast bis morgen hier behalten kann. Sie können die Insel nicht verlassen, also muß ich gehen. Ich werde bald drüben sein, es ist nicht so schwierig. Im Dorfe ziehe ich trockene Kleider an und gehe dann ins Herrenhaus.«

»Wenn Sie mich zur Rückkehr nach Hause zwingen, dann laufe ich bei der nächsten Gelegenheit fort. Und wenn Sie mich nicht haben wollen, werde ich andere Leute finden, die mir ein Zimmer vermieten.«

»Ich bin nicht Ihr Vormund. Aber tun Sie bitte nichts Unüberlegtes, bevor ich Ihnen berichtet habe, was Ihre Stiefmutter sagt.«

»Aber Sie handeln doch unüberlegt!« erklärte sie. »Ich kann Sie unter keinen Umständen bei dem Sturm fortlassen. Ich fürchte mich – die See sieht heute abend so grausam und düster aus.«

Er ging lachend hinaus.

»Ich gebe jetzt dem Diener noch einige Anweisungen, dann gehe ich. Sie müssen klingeln, wenn Sie etwas wünschen. Der Diener kann Ihnen auch Ihr Zimmer zeigen, falls Sie sich legen wollen.«

Sie begleitete ihn ans Ufer. Als er seinen Rock auszog, zitterte sie vor Angst.

»Ach nein, das geht nicht. Wenn Ihnen etwas zustößt!« sagte sie leise. »Tun Sie es bitte nicht. Ich bin wirklich traurig, daß ich hergekommen bin.«

Er lächelte etwas geringschätzig, als er ins Wasser ging. Sie beobachtete, wie sein Kopf auftauchte und dann wieder verschwand. Ihr Herz schlug wild. Einmal verlor sie ihn ganz aus der Sicht und schrie auf. Aber bald darauf kam er wieder an die Oberfläche.

Einige Minuten später sah sie, wie er drüben das andere Ufer erreichte und an Land watete. Er blieb einen Augenblick stehen und winkte ihr. Sie warf ihm eine Kußhand zu, aber er tat, als ob er es nicht gesehen hätte, und wandte sich dem Dorfe zu.

Nachdem er aber beobachtet hatte, daß sie ins Haus gegangen war, änderte er plötzlich die Richtung und ging zum Herrenhaus. Er benutzte den rückwärtigen Eingang und gelangte unbemerkt zu seinem Zimmer.

*

Das Essen war vorüber, und die kleine Gesellschaft saß bei Kaffee und Zigaretten zusammen, als die Zofe herunterkam und ihrer Herrin etwas zuflüsterte.

»Hat jemand von Ihnen Jeanne gesehen?« fragte die Prinzessin erschrocken. »Das Mädchen sagt mir eben, daß sie nicht im Hause ist.«

»Ich dachte, sie hätte Kopfschmerzen«, entgegnete Cecil schnell.

»Ich auch«, antwortete die Prinzessin. »Sie scheint aber weggegangen zu sein, und bis jetzt ist sie nicht zurückgekommen.«

Cecil sprang auf.

»Wir wollen sofort zu dem Dorf hinunterschickten und die Marschen absuchen lassen. Es gibt dort viel gefährliche Plätze, besonders bei einem solchen Sturm wie jetzt. Klingeln Sie doch bitte einmal, Forrest.«

In diesem Augenblick trat Andrew ein und schloß die Tür hinter sich.

»Das ist nicht nötig«, sagte er. »Ich kann Ihnen sagen, wo Miß Le Mesurier ist.«


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