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Kapitel 15.
Begegnung.

Jeanne ging an dem sandigen Ufer entlang und erstieg einen rasenbedeckten Hügel. Dort warf sie sich ins Gras und schaute auf die See hinaus. Am fernen Horizont gingen Himmel und Wasser ineinander über. Sie atmete erleichtert und befreit auf. Hier waren Frieden und Ruhe!

Nach kurzer Zeit entdeckte sie Andrews kleines, flaches Boot. Er hielt direkt auf ihren Hügel zu, legte an und kam näher. Sie setzte sich aufrecht und lud ihn mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen.

»Mr. Andrew, Sie sind wirklich sehr aufmerksam. Wenn ich mich bedrückt fühlte und mich gern mit Ihnen unterhalten wollte, waren Sie immer da. Heute kommen Sie zu mir. Das ist ein gutes Zeichen.«

»Sie haben recht«, gab er zu. »Ich habe seit mehr als einer Stunde mit dem Fernglas nach Ihnen ausgeschaut. Ich wollte mit Ihnen sprechen.«

»Wegen gestern abend?« fragte sie ernst.

»Nein, darüber nicht.«

»Wußten Sie denn, wer Ihr Gast eigentlich war?«

»Ja, ich vermutete es. Ich will offen zu Ihnen sein, Miß Jeanne. Ihre Stiefmutter und dieser Major Forrest sind mir sehr unsympathisch, aber trotzdem geht der Herzog meiner Meinung nach zu weit, wenn er annimmt, daß die beiden mit dem Verschwinden seines Bruders etwas zu tun haben.«

»Oh, ich freue mich, daß Sie das sagen. Es ist alles so schrecklich. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen, weil ich immer darüber nachdenken mußte.«

»Lord Ronald wird wahrscheinlich bald wieder auftauchen. Wir wollen nicht mehr über ihn sprechen.«

»Wovon wollen wir uns denn unterhalten, Mr. Andrew?«

»Von uns selbst, oder vielmehr von Ihnen. Wir stehen wohl beide etwas außerhalb des Lebens, das Ihre Freunde führen.«

Er zeigte mit seiner großen, braunen Hand nach dem Herrenhaus hinüber.

»Sie sind noch ein Kind, zu jung, um alles zu verstehen, und zu jung, um sich Ihre Freunde auszusuchen oder zu wissen, wer Ihre Feinde sind. Ich bin ein etwas rauher Mensch und gehöre nicht zu diesen Leuten. Ich lebe mein Leben für mich. Aber wir Außenseiter sehen manchmal mehr, als den anderen lieb ist. Ist die Prinzessin von Kara Kely wirklich Ihre Stiefmutter?«

»Natürlich. Sie heiratete meinen Vater, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sie hat mich während meiner Schulzeit öfters besucht. Voriges Jahr hat sie mich aus dem Pensionat abgeholt. Warum fragen Sie denn so merkwürdige Dinge?«

»Weil ich sie für einen absolut ungeeigneten Vormund für Sie halte. Sagen Sie mir doch, was diese Leute den ganzen Tag im Herrenhaus treiben, oder was sie taten, bevor Engleton das Haus verließ? Etwas Vernünftiges unternehmen sie doch überhaupt nicht. Das ist kein Leben für eine junge Dame wie Sie. Man sagt, daß Sie die Erbin eines großen Vermögens sind. Stimmt das?«

Sie betrachtete die Spitzen ihrer braunen Schuhe.

»Ja, ich soll eins der größten Vermögen Europas besitzen. Niemand weiß eigentlich, wie reich ich bin. Ich habe das ganze Vermögen geerbt, als ich sechs Jahre alt war, aber es ist so sicher angelegt, daß niemand etwas davon anrühren kann, bis ich volljährig bin. Es ist natürlich durch Zins und Zinseszins dauernd angewachsen.«

»Wann sind Sie volljährig?«

»In einem Jahr.«

»Bis dahin wird Sie Ihre Stiefmutter sicher irgendeinem verkrachten Menschen verkauft haben. Haben Sie denn keine anderen Verwandten, Miß Jeanne?«

Sie lachte leise vor sich hin.

»Sie sind sehr merkwürdig. Ich mag meine Stiefmutter ganz gern, und ich halte sie für eine sehr kluge Frau.«

»Klug mag sie sein, aber sie hat keinen guten Charakter. Man kann einen Menschen vorzüglich nach seinem Umgang beurteilen. Aber weder sie noch Major Forrest sind geeignete Gesellschafter für ein junges Mädchen.«

Sie lachte wieder.

»Sie tun mir doch nichts zuleide. Mr. de la Borne und Lord Ronald haben mir natürlich Anträge gemacht, aber das tut doch schließlich jeder junge Mann, wenn er erfährt, wer ich bin. Meine Stiefmutter wird nicht dulden, daß sie mich weiter belästigen. Ich werde die Gesellschaften während dieser Saison mitmachen, wir werden ein großes Haus in London führen, und ich suche mir dann einen Mann nach meiner eigenen Wahl aus.«

Andrew schaute auf das Meer hinaus. Sie beobachtete ihn heimlich von der Seite.

»Mr. Andrew«, sagte sie leise, »ich möchte doch zu gerne –«

Plötzlich brach sie ab, und er sah sie fragend an.

»Nun, was möchten Sie denn gerne?«

»Sie sollten nicht so sonderbare Kleider tragen und nicht den Dialekt dieser Fischer sprechen. Auch wäre es sehr schön, wenn Sie mehr Geld hätten. Dann könnten Sie auch mit uns verkehren, und ich würde Sie häufiger sehen. Möchten Sie nicht auch gern kommen, wenn wir ein schönes Haus in London haben?«

Er lachte laut.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich jemals am gesellschaftlichen Leben teilnehme. Ich bleibe lieber hier bei meinem kleinen Boot und meinem Fischfang. Viel lieber segle ich in die Buchten und lasse mir den Nordwind ins Gesicht blasen, als daß ich in London mit Lackschuhen herumsteige.«

Sie seufzte.

»Ich fürchte auch, daß man Sie vom gesellschaftlichen Standpunkt aus als hoffnungslos betrachten muß.«

»Das ist sicher richtig. Wir Leute auf dem Lande haben starke Vorurteile. Wir glauben, daß alles Elend und alle Schlechtigkeit, die die schöne Welt verderben, von den Städten und dem Leben dort herrührt. Es ist also natürlich, daß wir sie möglichst meiden. Wir halten uns nicht für besser als andere Menschen, aber wir fühlen uns hier glücklicher als auf gepflasterten Straßen und zwischen Fabrikschornsteinen. Wir lieben den würzigen Seewind und den warmen Sonnenschein, und wir freuen uns am Vogelgezwitscher und an den bunten Blumen. Das liegt uns nun einmal im Blut, daran können wir nichts ändern. Manchmal lauschen wir auch dem Ruf der anderen Welt, aber sobald wir ihm folgen, werden wir ruhelos und unglücklich. Und nach kurzer Zeit kehren wir meistens zu unserem alten Leben zurück. Man kann nun einmal nicht gegen seine Natur.«

»Nein. Aber es gibt doch nun auch Menschen, die in Städten geboren sind, es gibt sowohl Kinder dieses überzüchteten künstlichen Lebens als auch Kinder der Natur. Sehen Sie mich an!«

Er betrachtete ihr blasses Gesicht, ihre klaren, wundervollen Augen, ihren schönen Hals, ihre einfache und doch so elegante Kleidung.

»Wer sagt mir, daß ich kein Stadtkind bin? Verbringe ich nicht einen großen Teil meines Lebens bei künstlichem Licht? Esse ich nicht zu jeder unmöglichen Zeit unpassende Speisen? Erfreue ich mich nicht an Büchern und Gedanken, die Sie als dekadent bezeichnen würden? Zwei Tage, eine Woche würde ich es hier aushalten, aber nach einem Monat würde ich mich wahrscheinlich schon langweilen.«

»Und doch verlangen Sie nach Wahrheit und hassen alles Gekünstelte und Gezierte. Warum pflegen Sie diesen Zug nicht? In Ihrem innersten Herzen wissen Sie, was Wahrheit ist. Hören Sie mich. Jeder reiche Mann kann die Existenz vieler Menschen aufbauen oder zerstören. Sie traten fast wie eine Gottheit in die menschliche Gesellschaft ein. Ihr Reichtum ist ein großer Vorzug. Was Sie tun, wird man stets für richtig halten, und was Sie verurteilen, wird falsch sein. Es ist für Sie selbst und für andere sehr wichtig, daß Sie den richtigen Weg wählen.«

Sie fühlte sich plötzlich sehr niedergeschlagen. Tränen traten in ihre Augen, und sie sah von ihm fort.

»Wer könnte mir den rechten Weg zeigen, und wer hilft mir, daß ich ihn finde?«

»Sicher nicht diese Freunde, die nächtelang Karten spielen. Auf keinen Fall Ihre Stiefmutter und ihre Bekannten. Denken Sie einmal darüber nach. Selbst der Schwächste braucht sich nicht auf die Hilfe anderer verlassen. Es gibt nur einen sicheren Rat: Vertrauen Sie auf sich selbst. Halten Sie sich an das Gute in Ihrem Charakter. Sie wissen, was gut und was böse ist. Schwanken Sie nicht.«

Sie sah ihn an und lachte fröhlich. Ihre Stimmung war plötzlich wieder umgeschlagen.

»Das mag alles für Sie stimmen, Sie sind ein großer, starker Mann, und Sie sehen so aus, als ob Sie sich Ihren Weg durchs Leben mit der Keule bahnen könnten. Aber was kann ich als schwaches Mädchen tun? Ich brauchte jemand, der für mich die Keule schwingt!«

Es dauerte einige Zeit, ehe er sich zu ihr wandte. Ihr Mund lachte, aber in ihren Augen lag ein ernster und sehnsüchtiger Zug. Plötzlich sprang sie auf und lehnte sich an ihn.

»Was reden wir für dummes Zeug!« rief sie, warf sich in seine Arme und küßte ihn. Dann eilte sie wie ein Wirbelwind davon.


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