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Kapitel 17.
Der sonderbare Fischer.

Andrew sah von seiner Gartenarbeit auf. Der plötzliche Donnerschlag hatte ihn erschreckt. Er war so vertieft gewesen, daß er das herannahende Gewitter nicht bemerkt hatte. Der Himmel war von dunklen Wolken bedeckt, blendende Blitze fuhren nieder, und der Boden schien unter seinen Füßen zu zittern, als der Donner grollte. In der Stille, die dann folgte, hörte er plötzlich den Hilferuf einer Frau. Er legte seinen Spaten nieder und eilte zu der anderen Seite des Gartens. Ungefähr zwanzig Meter von der Küste entfernt sah er Jeanne in einem kleinen Boot. Sie versuchte, die großen Ruder mit ihren schwachen Händen zu regieren, aber sie kam gegen die Wellen nicht an, und die Strömung drohte sie fortzutreiben.

Schnell warf er seinen Rock ab, watete ins Wasser und erreichte sie gerade noch zu rechter Zeit. Er stieg ins Boot, nahm die Ruder aus ihren zitternden Händen und hatte sie bald sicher ans Ufer gebracht. Das Wasser tropfte von seinen Kleidern, als er ihr beim Aussteigen half.

»Aber Miß Jeanne«, sagte er ein wenig schroff, »wie kommen Sie denn dazu, sich in dieses kleine Boot zu wagen?«

Sie sah ihn ängstlich an.

»Bitte, seien Sie nicht böse. Ich wollte Sie hier auf der Insel besuchen und Sie um Ihren Rat bitten. Das Boot lag gerade an der Küste, und die Entfernung erschien mir so gering. Aber gerade, als ich abstieß, kamen diese großen Wellen. Ich habe mich entsetzlich gefürchtet.«

Der Sturm brach jetzt mit voller Gewalt los.

»Laufen Sie, so schnell Sie können!«

Atemlos erreichten sie beide das Haus, und er führte sie in sein kleines Wohnzimmer.

»Ist Ihr Freund nicht mehr hier?«

»Gestern abend ist er abgereist.«

»Ich freue mich darüber, denn ich wollte Sie allein sprechen. Hat er nicht in diesem Zimmer gewohnt?«

»Ja, ein paar Tage.«

»Haben Sie außer diesem noch ein anderes Zimmer?«

»Natürlich.« Er wunderte sich über ihre merkwürdigen Fragen.

»Wollen Sie mir das Zimmer vermieten? Ich suche Quartier und möchte gern einige Zeit hier wohnen.«

Er sah sie überrascht an.

»Aber Miß Jeanne, Sie machen doch nur einen Scherz!«

»Nein, ich meine es ernst.«

»Was sagt denn Ihre Stiefmutter zu solchen Plänen? Sie würde doch niemals hierherkommen, und außerdem sind Sie bei Mr. de la Borne zu Gast.«

»Ich will nicht länger dort bleiben«, rief sie. »Ich will überhaupt von meiner Stiefmutter fortgehen. Es ist etwas geschehen, was ich Ihnen nicht erklären kann, aber ich fühle, daß es das Beste ist, wenn ich die ganze Gesellschaft verlasse. Ich habe genug Geld, und sicher werde ich Ihnen hier keine Unannehmlichkeiten machen. Bitte nehmen Sie mich doch auf, Mr. Andrew.«

Plötzlich wurde ihm klar, daß sie noch ein großes Kind war. Ihre dunklen Augen sahen ihn nachdenklich an. Ihr ovales Gesicht war etwas gerötet von dem schnellen Lauf, und ihre schönen Locken waren vom Winde zerweht. Sie tat ihm leid.

»Liebes Kind, das ist doch unmöglich Ihr Ernst. Sie wissen doch, daß Ihre Stiefmutter Ihr Vormund ist. Sie wird niemals ihre Einwilligung zu diesem Schritt geben. Auch habe ich keine weibliche Bedienung hier. Es ist ausgeschlossen, daß Sie bei mir bleiben.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie ließ die Arme müde sinken.

»Aber hier könnte ich mich doch ausruhen und alles Böse vergessen. Hier kann ich auf die See hinausschauen, Flut und Ebbe beobachten, am Ufer sitzen und hören, wie die Lerchen in den Marschen singen. Ach, es wäre doch zu schön! Mr. Andrew, ist es wirklich nicht möglich?«

Er lächelte sie freundlich an.

»Es geht auf keinen Fall. Wenn Sie auch nur kurze Zeit hier bleiben, wird Ihre Stiefmutter Sie doch sofort wieder zurückholen, und ich würde große Unannehmlichkeiten haben. Vielleicht würde mich Mr. de la Borne aus dem Hause weisen.«

Sie sah verzweifelt aus dem Fenster. Der Himmel war düster, und Regenschauer schlugen gegen die Fensterscheiben.

»Wenn ich Ihnen sonst helfen kann, tue ich es sehr gern«, sagte er nach einer kurzen Pause.

Sie wandte sich schnell an ihn.

»Wie können Sie mir denn helfen, wenn Sie mich nicht von diesen Leuten fortnehmen? Bis vor wenigen Monaten hatte ich nicht viel von meiner Stiefmutter gesehen. Als sie mich aus dem Pensionat abholte, fuhr sie mit mir nach Paris und kleidete mich ein. Seit dieser Zeit habe ich nichts anderes getan als Gesellschaften besucht. Die Leute, die ich kennenlernte, hatten alle große, stolze Namen, aber ihr Betragen war meistens entsetzlich. Ich bin reich, das weiß ich, aber meine Stiefmutter spricht von meiner Heirat, als ob ich ein Stück Ware wäre, das man an den Meistbietenden veräußert. Ich hasse das Leben, das sie führt, und ich hasse ihre Freunde. Besonders Major Forrest kann ich nicht ausstehen. Als der Herzog von Westerham und sein Rechtsanwalt sich bei ihnen nach Lord Ronald erkundigten, haben sie ihre Fragen mit Lügen beantwortet. Ich ertrage das nicht länger. Major Forrest erzählte mir später, daß er Lord Ronald zur Station gefahren hätte. Aber ich weiß, daß er nicht imstande ist, ein Auto auch nur hundert Meter weit zu steuern.«

Andrew sah sie entsetzt an.

»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Zwei Tage vor seinem Verschwinden wollte Lord Ronald mit dem Wagen nach Sandringham fahren und konnte den Chauffeur nicht finden. Scheinbar war der Mann im Wirtshaus, jedenfalls kam er später betrunken zurück. Lord Ronald war sehr aufgebracht über ihn und entließ ihn sofort. Das Auto stand in der Wagenremise, und im ganzen Haus war niemand, der es lenken konnte.«

»Aber Major Forrest wurde doch gesehen, als er zurückkam?«

»Der Wagen wurde von der Zufahrtstraße zur Remise geschleppt. Wie er ihn überhaupt dorthin gebracht hat, weiß ich nicht, aber ich glaube nicht, daß er weitergekommen ist.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich bin an jenem Morgen sehr früh aufgestanden. Das Auto stand um acht Uhr gerade vor dem Tor. Die Spuren gingen auch nicht weiter. Außerdem habe ich den Motor angefühlt – er war kalt. Der Wagen ist überhaupt nicht benutzt worden.«

Andrew war sehr ernst geworden.

»Wenn Lord Ronald aber nicht zur Station gebracht wurde, was ist dann geschehen?«

»Das weiß ich nicht, aber ich fürchte mich. Ich kann nicht länger dort bleiben. Sie sehen mich immer so sonderbar an und schweigen plötzlich, wenn ich unerwartet ins Zimmer trete. Es ist unheimlich, Mr. Andrew.«

»Ich werde sofort zu dem Herrenhaus gehen und mit Mr. de la Borne sprechen. Ich habe einigen Einfluß auf ihn und werde der Sache schon auf den Grund kommen. Wir wollen gleich zurückkehren und Nachforschungen anstellen.«

Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück und sah ihn bittend an.

»Aber ich möchte doch nicht dorthin zurück! Warum darf ich denn nicht hier bleiben? Sie sollen sich nicht im mindesten über mich zu beschweren haben.«

»Ach, das ist doch Unsinn, was Sie da sagen. Ich bin nur ein Dorffischer und habe keine Haushälterin.«

»Das ist ein vorzüglicher Grund für mich, zu bleiben«, erklärte sie ruhig. »Ich werde die Haushälterin machen. Setzen Sie sich zu mir, wir wollen die Sache einmal in aller Ruhe besprechen.«

Aber er trat ans Fenster, denn er wollte ihr sein Gesicht nicht zeigen.

»Sie wollen mich nicht haben!« rief sie enttäuscht, stand auf und ging zu ihm.

»Ich kann Ihnen nur wiederholen«, sagte er streng, »daß Sie unmöglich hier bleiben können. Ich muß Sie sofort wieder nach Hause bringen.«

»Sofort?«

»Sobald sich der Sturm gelegt hat.« Er schaute beunruhigt nach der Uhr. »Hören Sie mir einmal zu, Miß Jeanne. Es gibt verschiedene Dinge, die Sie jetzt noch nicht vollkommen verstehen. Ich werde alles für Sie tun, was ich kann, aber Ihre Stiefmutter dürfen Sie nicht verlassen, wenn Sie keine anderen Verwandten haben, die Sie aufnehmen. Eine junge Dame in Ihrem Alter kann unmöglich allein leben, das gibt es nicht.«

Sie wandte sich mit einem kleinen Seufzer ab.

»Nun gut, Mr. Andrew. Wenn Sie nicht von mir gestört sein wollen, werde ich wieder gehen. Ich bin fertig zum Aufbruch.«

Er schaute wieder aus dem Fenster.

»Jetzt können wir noch nicht hinüberfahren. Die Flut kommt mit dem Sturm, und die Wellen gehen zu hoch.«

»Oh, das ist glänzend! Ich wünschte nur, daß wir draußen im Freien wären.«

»Aber bei dem Wind könnten Sie sich doch kaum auf den Füßen halten. Hören Sie doch!«

Andrew sah besorgt auf die Bucht hinaus und klopfte an das Barometer.

»Ich fürchte, Sie werden heute zu spät zum Abendessen kommen. Eine Stunde lang sind Sie hier wenigstens noch gefangen.«

»Ach, darüber freue ich mich doch nur!«

Es klopfte an der Tür, und der Diener trat mit einem Teetablett ein. Jeanne betrachtete ihn erstaunt.

»Hat denn der Herzog seinen Diener hier gelassen?«

»Ja, auf einige Tage«, entgegnete Andrew schnell. »Er kommt wahrscheinlich zurück. Bringen Sie noch eine Tasse.«

Der Diener setzte das Tablett nieder und verneigte sich.

»Sehr wohl, mein Herr«, erwiderte er höflich und respektvoll.

Jeanne sah ihm nach, bis er durch die Tür verschwand. War er so gut geschult, daß er diesen Mann mit derselben Achtung behandelte wie seinen eigenen Herrn?

»Ich kann also wenigstens Tee bei Ihnen trinken. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe?«

»Nicht im geringsten. Sehen Sie den großen Fisch dort, der ausgestopft an der Wand hängt? Den habe ich hier in der Nähe gefangen. Und diese ausgestopften Vögel habe ich von der Insel aus geschossen.«

»Das ist alles sehr interessant. Sie haben aber scheinbar außer Ihrem Beruf noch viel Zeit zu lesen und sich anderweitig zu beschäftigen.«

»Vielleicht hatte ich eine etwas bessere Erziehung als die meisten Leute hier.«

Der Diener brachte noch eine Tasse, und Jeanne setzte sich lachend nieder. Sie wollte nicht weiter in Andrew dringen, aber es kam ihr sehr sonderbar vor, daß ein gewöhnlicher Fischer einen silbernen Teetopf und altes Worcesterporzellan besaß und von einem Diener betreut wurde, selbst wenn dieser nicht in seinen Diensten stand.


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