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ZWÖLFTES CAPITEL. QUUM FINIS EST LICITUS, ETIAM MEDIA SUNT LICITA.

In Sturm und Unwetter nahm der Winter Abschied von der sich verschlafen regenden Natur; die Zeit war nicht fern, in welcher die Unken das Sonnenlicht suchten und das lieblich sprießende Frühlingsgrün mit ihrem melancholischen Ruf begrüßten. Was sollte er mir bedeuten? Feierliches Ertönen der Glocken zum bräutlichen Kirchgange, oder Grabgeläute? Wie lange war es her, seit ich diese Frage nicht mehr an mich richtete? Warum verfolgte sie mich plötzlich wieder so unablässig auf dem ganzen Wege vom Schlosse nach der guten Winkelliese trauter Heimstätte? Warum beobachtete ich im Vorüberfahren so besorgnißvoll die schwellenden Knospen an Baum und Strauch? Warum sah ich so lange zu den keilförmig geordneten Reihen der jubelnden Kraniche empor? Gab es wirklich Ahnungen, welche den Sterblichen auf ihm drohende Ereignisse vorbereiteten?

Und welchen Grund hatte ich überhaupt, mich schwermüthigen Betrachtungen so gänzlich willenlos hinzugeben? Waren doch erst acht Tage verflossen, seit ich meine zarte Lilie verließ, seit ich zum letzten Mal in ihr lieblich blühendes Antlitz schaute und die Thauperlen der Liebe von ihren schönen, mild glänzenden blauen Augen küßte! Acht Tage erst, und vor mir lag wieder das Häuschen, welches mein Einziges und mein Alles barg, das Häuschen, genau so behaglich eingenestelt in die ländliche Umzäunung, wie damals, genau so, wie damals, eine schmale Rauchsäule dem sie zerzausenden Winde in die Arme werfend.

Der Wagen hielt. Wie gewöhnlich eilte die Winkelliese strahlenden Antlitzes mir entgegen, wie gewöhnlich sah Frau Hannchen aus der Hausthüre nach mir aus. An dem Fenster aber erkannte ich nur Sophie.

»Wo ist Hedwig?« fragte ich mit stockendem Athem.

Ueber der Winkelliese gutes Antlitz flog es wie ein Schatten. Dann nahm sie meinen Arm, und mich nach dem Hause hinführend erzählte sie, daß Hedwigs Befinden zufriedenstellend, ein vorübergehendes Unwohlsein dagegen sie an's Bett gefesselt halte. Auch von einer Veränderung sprach sie, welche getroffen worden, und daß der Hänge-Gensdarm – augenblicklich über Land geritten – das Giebelstübchen auf dem Boden bezogen habe, sein Zimmer dagegen für unsern Liebling eingerichtet worden sei.

Kaum halb hörte ich, was sie sagte, nur flüchtig begrüßte ich Frau Hannchen, dann trat ich in die Thüre ein, welche Sophie weit für mich öffnete, so daß ich sogleich einen vollen Anblick Hedwigs gewann.

Ich athmete auf, denn nicht matt und erschöpft blickte die Theure zu mir herüber, sondern mehr, denn je, erinnernd an ein Haideröschen, welches verschämt zwischen weißen, zu einem Lager übereinander gestreuten Blüthen hervorlugt. Ach, daß ich mich über diese unheimliche Gluth täuschen konnte! Aber ich erblindete unter dem Einfluß einer unergründlichen Liebe, welche mir aus den treuen blauen Augen entgegenstrahlte, verlor die Ueberlegung bei dem hellen Klange der mir zum innigen Willkommen entgegentönenden süßen Stimme.

Hingerissen von dem entzückenden Bilde stürzte ich auf die Kniee. Die Sprache versagte mir, indem ich das theure Antlitz mit heißen Küssen bedeckte, und als ich meine Fassung erst wieder zurückgewonnen hatte, als ich die zarte schmale Hand hielt und in die lächelnden blauen Augen schaute, da wagte ich kaum zu athmen, aus Furcht, daß eins der an mich gerichteten Liebesworte mir verloren gehen könne.

»So lange habe ich in Deiner Seele für mein Leben gezittert,« erzählte sie heiteren Blickes, »denn – heute darf ich es Dir anvertrauen – recht krank fühlte ich mich zuweilen. Seit einigen Tagen dagegen ist neuer Muth in mir erwacht, und anstatt, wie früher, mit heimlicher Scheu des Frühlings zu gedenken, kenne ich jetzt nur noch freudige Zuversicht. Ich sehne mich nach dem Anblick frischen Grüns, nach schattigen Bäumen, nach Blumen und nach dem Gesange der Vögel. Mein Niederlegen war überhaupt keine Nothwendigkeit, allein ich fühle, wie die Ruhe mich kräftigt, und zu Manchem muß ich mich bequemen, um meine Mutter, die Großmutter und die gute Sophie zufrieden zu stellen.«

Ich sah um mich. Die Genannten hatten sich leise entfernt. Ich befand mich allein mit Hedwig. Diese aber lächelte über die sich vielleicht in meinen Zügen ausprägende Ueberraschung, dann fuhr sie fort:

»Einige Tage, wohl gar Wochen behaglicher Ruhe sind keine schwere Aufgabe, wenn man so überaus liebevoll gepflegt wird. Denn blicke nur um Dich, wie namentlich Sophie den Beginn des Frühlings für mich zu beschleunigen sucht. Dort in dem Glase die Weidenschößlinge mit den Sammetknospen hat sie selbst vom Bach für mich heraufgeholt. Ebenso pflanzte sie jene Veilchen für mich in Töpfe, und die Hyacinthen verdanke ich nicht minder ihrer freundlichen Fürsorge. Was sie mir aber nicht bieten kann, den Gesang der Nachtigall, warmen Sonnenschein und den Ruf des Kukuks, das schildert sie so lebhaft, daß ich Alles um mich zu haben meine. In ihrer Sprache erinnert sie dabei an Dich, und als ich darauf aufmerksam machte, behauptete sie, in der That Alles von Dir gelernt zu haben in der fernen Stadt, wenn Ihr Beide von Eurer Warte aus sehnsüchtig nach den abgelegenen Bergen hinüberschautet und Du vor sie hinzaubertest eine dicht umrankte Försterei und zwei lustige Zwillingsschwestern.«

Von Sophie ging sie darauf zu anderen Freunden und den Verwandten über, und von Jedem wußte sie nur Gutes, und Keinen gab es, welcher ihr nicht Liebes erwiesen hätte. Sogar von dem Candidaten – und ein tiefer Schmerz vibrirte in meiner Brust, als sie seinen Namen nannte – behauptete sie, daß er doch wohl redliche Absichten gehabt habe, indem er so eifrig bestrebt gewesen, freilich zum Ueberfluß, mein Bild recht farbenfrisch in ihrem Herzen zu erhalten, und daß es nur ihrer eigenen Einfalt zuzuschreiben sei, wenn sie Dieses oder Jenes mißverstanden habe oder über Manches unklar geblieben sei. Sie erläuterte dies mit einer so heiligen Unschuld, mit einer so rührenden Aufrichtigkeit, daß ich um die Welt ihren Glauben nicht hätte erschüttern mögen. Aber auf andere, weniger peinliche Dinge lenkte ich das Gespräch, betheuernd, daß ich vollständig unabhängig sei und daher bis zu ihrer gänzlichen Genesung nicht mehr von dannen gehen, sondern in ihrer Nähe bleiben würde.

Wie da ihre freundlichen Augen hell aufleuchteten und ihre zarten Hände die meinigen so fest umschlossen! Ich aber lächelte ihr zu und sorglos klangen die Worte, welche ich an sie richtete, während mein Herz bange zitterte und es bald wie flüssiges Erz, bald wie Eiseskälte durch meine Adern strömte.

Der stete Wechsel der Farbe der Rose mit derjenigen der Lilie, die Liebe und Nachsicht für Andere, vor Allem der ätherische Ausdruck ihres überirdisch schönen Antlitzes und der Ton ihrer Stimme, die bereits aus unbekannten, fernen lichten Höhen zu mir zu dringen schien, dies Alles zerstörte nur zu bald den ersten ermuthigenden Eindruck. Ich ahnte, ich wußte, daß meine arme zarte Lilie der rauhen Erde nicht mehr angehöre, freundliche Engel thränenden Blickes bereit standen, auf einen Wink von oben sie mir zu entführen, sie aufzunehmen in ihren Kreis, sie fortan nur noch wirken zu lassen als holden Schutzgeist eines verzweifelnden Sterblichen, in schmerzlichen Träumen sich anschmiegend an sein gebrochenes Herz.

Willig räumte ich endlich meine Stelle der treuen Sophie ein. Doch anstatt der Winkelliese, Frau Hannchen und dem heimgekehrten Hänge-Gensdarm Rede zu stehen, eilte ich in's Freie hinaus. Niemand gab es, welchem ich meine Besorgnisse hätte anvertrauen mögen, Niemand, in dessen Macht es gelegen hätte, mir den leisesten Trost zu spenden. Mit einem gewissen Widerwillen gedachte ich sogar etwa an mich gerichteter ermuthigender Worte. Vater und Schwester, das Gespensterschloß mit seinen Bewohnern und die Försterei, selbst die Theuren unter dem Dache der guten Winkelliese und diese selbst, Alle, Alle hatte ich sie vergessen, für Keinen hatte ich einen Gedanken in meinem rasenden Schmerz, um Niemand kümmerte ich mich, um nichts, was in irgend eine Beziehung zu meiner Zukunft gebracht werden konnte. Meine einzigen Vertrauten waren die kahlen Fluren, die von winterlichen Stürmen zerzausten nackten Bäume, die am Himmel einherjagenden zerrissenen Wolken und die schwarze feuchte Erde, welche ich krampfhaft mit den Händen aufwühlte, um meine Thränen in ihr zu vergraben.

Doch wie ich am ersten Tage gewissermaßen ein Doppelleben führte, wie ich schwankte zwischen sorgfältig verheimlichter Verzweiflung und künstlich zur Schau getragener Heiterkeit, so verstrich ein Tag nach dem anderen.

O, diese Tage! Hinweg, hinweg, über sie! Verstanden würden meine Schilderungen nur von demjenigen, welcher die bleiche Lilie so kannte, wie ich, der sie so liebte, wie ich sie noch heute liebe, sie bis in die Ewigkeit hinein lieben werde!

Ach, jene Tage, wie fließt beim Rückblick auf sie Alles ineinander! Sprießendes Frühlingsgrün und goldener Sonnenschein; süßer Veilchenduft und zierlich belaubte Birkenreiser; durch offene Fenster hereinströmender milder Abendhauch, Kukukruf und lieblicher Nachtigallengesang, Alles um sich zu vereinigen, einem Engel der Liebe und der Unschuld den Abschied von der Erde zu erleichtern, ihn vorzubereiten auf den leisen Kuß eines zögernd, jedoch sicher nahenden Todes.

Und Hedwig? Je mehr ihre Kräfte schwanden, um so zuversichtlicher wurden ihre Hoffnungen, um so dankbarer begrüßte sie Alle, Alle, die herbeieilten, um noch einmal in ihre verklärten Augen zu schauen, um so heiterer gedachte sie der kommenden glücklichen Tage. Sie war die Einzige, welche nicht errieth, weßhalb man ihre Nähe suchte, die Einzige, der entging, daß ihre Kräfte langsam versiegten, ihr Athem sich verkürzte und ihre Stimme immer mehr den sanft klagenden Ausdruck einer im schönsten Liebesfrühling im Tode verstummenden Nachtigall erhielt. Und dennoch mußten zu Zeiten traurige Ahnungen ihre Seele durchziehen, es offenbarte sich, wenn sie meine Hände hielt, wenn sie lange und sinnend mir in die Augen schaute, Thränen ihre Blicke verschleierten und ihre bebenden Lippen wie unbewußt flüsterten: »Armer Indigo!« Und ich mußte dazu lächeln, mußte die eigenen Thränen zurückdrängen, durfte mich nicht über sie hinwerfen, nicht jammernd ausrufen: »Hedwig! Hedwig, mit Dir will ich sterben, nur an Deiner Seite, in Deinen Armen meine letzte Ruhestätte finden!« Das waren die schwersten, die entsetzlichsten Minuten meines Lebens!

Ja, Todesahnungen, sie waren ihr gewiß nicht fremd, als sie eines Tages bat, mit dem Haideröschen allein gelassen zu werden, sie waren ihr nicht fremd, als sie lange zu der theuren Zwillingsschwester flüsternd sprach und ihr so Manches anvertraute, was kein Anderer, selbst ich nicht wissen durfte. Nein, sie waren ihr nicht fremd, das sah ich, als Hannchen endlich wieder heraustrat und die Farbe des Marmors ihr kummervolles Antlitz bedeckte, das begriff ich wieder, als ich auf dem plötzlich glühenden Antlitz meiner armen Hedwig den Ausdruck eines unendlich süßen Friedens, einer stillen Zufriedenheit gewahrte. Das Haideröschen hatte sich vorübergehend in eine Lilie, die Lilie sich in ein träumerisch lächelndes Haideröschen verwandelt. Seit jener Stunde hörte ich nie wieder das klagende: ›Armer, armer Indigo.‹

 

Die Unken im See waren erwacht. Vom Thurme der alten Dorfkirche schallte feierliches Geläute über die grünenden Fluren hin. Neben dem einsamen Grabhügel der armen Martha war eine neue Gruft geschaufelt worden. Kindergesang und Myrthengewinde! Heiße Thränenströme und fromme Worte des Trostes und der Ergebung in einen höheren Willen! Milde Frühlingslüfte und goldener Sonnenschein!

Ein dumpfer, markerschütternder Ton – – – die Feder versagt mir den Dienst; ich neige das Haupt. Wie damals schwellt ein unendliches Wehgefühl meine Brust; Thränen verlöschen meine Schrift. Ich schließe die Augen und wie damals steht Alles wieder vor mir. Glockengeläute und Unkenruf dringt zu mir herüber, Kindergesang und schmerzliches Schluchzen; lauter aber und deutlicher wiederholt es in meinem Herzen: ›Armer, armer Indigo!‹

 

Ein Jahr und darüber ist entflohen. Was weder Vater noch Schwester gelang, was die selbst bis in's Herz hinein getroffene, treue Winkelliese und der biedere Hänge, als ich in meiner Verzweiflung die Einsamkeit ihrer Häuslichkeit suchte, vergeblich erstrebten, was die mit tiefem Verständniß meinen Schmerz gleichsam pflegende arme Sophie zu bewirken erfolglos alle ihre Kräfte aufbot: Männliche Fassung in's Leben zu rufen und mein gänzlich gebrochenes Gemüth wieder aufzurichten, das wurde allmählich erzeugt, als die unabweisliche Nothwendigkeit an mich herantrat, wenn auch nicht für mich, so doch für Andere, schaffend und wirkend Geist wie Körper anzuspannen.

Meine Thätigkeit begann mit der Uebersiedelung von dem Waldschloß nach der ländlichen Besitzung meines Großvaters. Dort aber gab es so viel zu überlegen, so viel zu ordnen und sogar zu verheimlichen oder mindestens vorsichtig zu umhüllen, daß meine geistigen Kräfte dadurch vollständig in Anspruch genommen wurden. Die Vermögensverhältnisse waren zerrüttet, tief verschuldet war die einst so reich gesegnete Herrschaft. Die Jesuiten wußten sehr wohl, was sie bezweckten, als sie weder Mühe noch Kosten scheuten, einen armen, namenlosen Waisenknaben zu einem der Ihrigen zu machen. Ungeheure Summen waren durch die schlauen Intriguen des ihnen dienenden Candidaten meinem Großvater entzogen worden. Nur durch die weisesten Maßregeln konnte die Besitzung überhaupt noch gehalten werden. Ein Versuch zur Wiedererwerbung des geraubten Gutes wurde nicht unternommen. Selbst wenn von Seiten der geschäftskundigen frommen Väter eine Handhabe zum Vorgehen gegen sie gelassen worden wäre, hätte ich mich doch nie entschließen können, vor dem Gesetz den Namen der ohnehin schon so tief gebeugten Thekla, der Schwester meiner eigenen todten Mutter, in Verbindung mit den unbegreiflich schlau berechneten Transactionen der Jesuiten zu bringen.

 

Ein Jahr und darüber ist entflohen, und überall machen sich bemerklich die Erfolge mühsamen Waltens, Ringens und Kämpfens. Die Gefahr der Entäußerung des Waldschlosses ist abgewendet, und freier athmen wir auf in dem geräumigen luftigen Landhause. Nur mein Vater wohnt in der Stadt, wo er zurückgezogen seiner Kunst lebt, welche ihm, zumal er nebenbei Malunterricht ertheilt, ein behagliches Auskommen sichert. Doch wenn Niemand wagen würde, ihm irgend welche Erleichterung anzubieten, so hindert ihn das nicht, mit freudiger Genugthuung seine Kinder die ihnen von Seiten ihrer Mutter zustehenden und bereitwillig und herzlich eingeräumten Rechte und Vortheile genießen zu sehen. Er verkehrt viel in dem Landhause, und je öfter er erscheint, um so mehr beruhigt er sich über die Trennung von seiner geliebten Will o' the Wisp, welche, ohne auch nur eine Probe ihrer kindlichen Heiterkeit zu verlieren, gewissermaßen das Leben der Tante Thekla bildet. Ich glaube, wäre die irrlichtartig lebhafte Martha nicht, die arme scheue Tante Thekla hätte sich schon nach den ersten Wochen in's Grab gelegt.

 

Ein Jahr und darüber ist entflohen. In dem Gespensterschloß haust als Glücklichster aller Glücklichen der alte Fröhlich, der treuherzige, ramponirte Gelehrte. Ein altes Ehepaar, welches für Lüftung der düsteren Räume und Pflege des kleinen Gartens sorgt, bildet seine Hausgenossenschaft und verhütet als solche, daß er eines guten Tages, ohne es selbst zu ahnen, bei seinen Sanscrit-Forschungen eines elenden Hungertodes stirbt.

Seine nächsten Nachbarn sind die zahlreichen Mitglieder einer neuen Försterfamilie, welche, nicht beeinflußt durch an jenen freundlichen Erdenwinkel sich knüpfende trübe Erinnerungen, häufig zu seinem Aerger, aber auch zu seinem Segen, auf meinen ausdrücklichen Wunsch seine Einsamkeit unterbrechen und gewissermaßen die Spinngewebe der Gelehrsamkeit von seinem kindlichen Gemüthe fegen.

Wallmuth erhielt auf seinen Wunsch einen anderen Försterposten. Ein Schweizerhäuschen ist es zwar nicht, welches er jetzt bewohnt, dagegen ein größeres Gehöft, welches ihm neben seinem Gehalte, einen höheren Ertrag sichert. Die Wanderung eines Viertelstündchens, und Frau Hannchen und das Haideröschen werden von der Winkelliese und dem Hänge-Gensdarm und von Sophie in dem bekannten trauten Häuschen willkommen geheißen.

Ein Jahr und darüber ist entflohen, und wie so oft, stehe ich auch heute mit dem Haideröschen auf dem Dorffriedhofe. Nassen Auges blicken wir auf zwei sommerlich mit Rasen und Blumen geschmückte Grabhügel. Süß duftende Rosen und Lilien drängen sich in Fülle dem warmen Lichte entgegen, wie um zu erzählen von den Schläferinnen, deren letzte Ruhestätte sie freundlich beschatten.

Ich habe meinen Arm um das liebe Haideröschen geschlungen; auch gesprochen habe ich zu ihm; allein ich weiß nicht mehr was. Aber zu seinem treuen Herzen muß es gedrungen sein, denn willig duldet es meine Umarmung und reichlicher fließen seine Thränen.

»Haideröschen,« flüstere ich tief bewegt, und ich meine, daß meine Worte von den beiden Schläferinnen unter den Grabhügeln gehört und gesegnet werden müßten, »Du liebes, getreues Haideröschen, ich habe Dich nie darum befragt, allein darf ich heute erfahren, was meine gestorbene Lilie einst Dir anvertraute?«

»Du darfst es,« antwortet das Haideröschen, und es blickt mich an mit Augen, in welchen ein ganzer Himmel der Aufrichtigkeit und der Treue sich spiegelt, »ja, jetzt, aber auch jetzt erst darfst Du es, obwohl ich nie anders glaubte, als daß ich es als ewiges Geheimniß mit in's Jenseit hinübernehmen würde. Ja, Indigo – und ich nenne Dich so, weil sie Dich stets so nannte – ich vertraue es Dir an aus vollem Herzen, mit reiner Freude, Wort für Wort und hier Angesichts der beiden heiligen Gräber.

»›Hannchen,‹ sprach sie zu mir leise, während sie meine Hände mit schwindenden Kräften drückte, ›ich weiß, daß ich sterben, daß ich von meinem armen Indigo scheiden muß. Mögen Alle sich die größte Mühe geben, mich über meinen Zustand zu täuschen, es gelingt ihnen nicht. Meine ernste Stunde naht, und wenn sie mir erschwert wird, so geschieht dies durch den Gedanken an ihn. Der arme Indigo, wo wird er Trost finden? Das ist es, was mich so schmerzlich bewegt, daß es mich die größte Mühe kostet, bei seinem Anblick nicht in laute Klagen auszubrechen. Höre daher, Hannchen: Wie er uns als Kinder nicht von einander zu unterscheiden wußte, wie er nach der Einen haschte, wenn ihm die Andere fern, seine Liebe zu gleichen Hälften zwischen uns getheilt war, jede Einzelne von uns ihm stets Beide ersetzte, so bist Du dazu bestimmt, auch nach meinem Tode für uns Beide zu stehen, das weiß ich. Versprich mir daher, Hannchen – und Dein Versprechen wird mir das Sterben erleichtern – daß, wenn die Stunde gekommen sein sollte, in welcher er in seiner Vereinsamung zu Dir eilt und bei Dir Trost sucht, Du sein theueres Haupt an Deine Brust ziehst und ihm gelobst, ihm Das sein zu wollen, was ich so gern, so namenlos gern ihm gewesen wäre.‹ Und so thue ich es, Indigo, ich thue es hier, indem ich die beiden Theuren dort unten zu Zeugen meines Gelöbnisses anrufe,« und schluchzend zieht das Haideröschen mein Haupt zu sich nieder, »Du lieber, lieber Indigo, aus vollem Herzen und mit allen meinen Kräften will ich darnach trachten, Dir Das zu sein, was ihr, der Unersetzlichen, Dir zu sein nicht beschieden gewesen.«

Sie küßt mich, und wie von einem und demselben Gedanken beseelt, sinken wir auf die Kniee und pflücken wir von den die Hügel umkränzenden Vergißmeinnicht.

Welch' unvergeßliche Minuten! So wehevoll und doch so unbeschreiblich süß!

Als wir uns endlich wieder erheben, tauschen wir die Sträußchen mit einander aus, und Arm in Arm, und mit Empfindungen, als wären wir eben vom Tische des Herrn fortgetreten, die Herzen zu voll, um Worte zu finden, wandeln wir dem heimatlichen Häuschen zu.

Der neu verzinnte Blech-Ulan blitzt im Sonnenschein. Schweigend treten wir in das Zimmer, in welchem die Winkelliese und Sophie kräftig ihre Arme rühren. Der Hänge-Gensdarm ist zufällig anwesend. Einen Blick wirft Sophie auf uns, und in der ihr gutes Antlitz überströmenden Gluth offenbart sich ihre innige, aufrichtige Freude. Einen Blick wirft die Winkelliese auf uns, und sie steht wie erstarrt. Dann eilt sie in die Kammer, um ein Weilchen in ihr Kopfkissen hineinzuweinen; gleich darauf aber stürmt sie wieder herein. Zuerst küßt sie mich, dann das Haideröschen, dann Sophie und endlich sogar, zum erstenmal in ihrem Leben und ganz in Ehren, den bestürzten Hänge-Gensdarm, ihn mit einer fast bedrohlichen Resolution fragend, ob er noch immer bezweifle, daß es ein guter Gedanke von ihr gewesen, den armen Jungen aus dem Torfmoor zu retten.

Draußen ruht heller Sonnenschein auf Wald und Flur. Die Atmosphäre zittert, indem zugleich erwärmte Luftschichten einander begegnen. Im klaren Aether jubeln Lerchen. Durch die geöffneten Fenster strömen Resedadüfte, welche die beiden unveränderlichen Buchsbaumherzen vor der Thür entsenden.

Wiederum sind Jahre entflohen, und ein alterndes Haupt hat sich schlafen gelegt. Mein Großvater weilt nicht mehr unter uns. Er ist eingegangen, wie ein zäher, festgewurzelter Stamm, dessen Mark die Zeit allmählich dörrte, der aber noch bis zum letzten Augenblick bald hier, bald dort ein frischgrünes, kurzlebiges Zweiglein treibt. Er hatte die freudige Genugthuung, zu beobachten, daß seine Herrschaft auf dem besten Wege war, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, ihren alten erloschenen Glanz zurückzuerhalten. Der achtzehnte Januar war kein Schreckenstag mehr für ihn gewesen; er erweckte wohl schwermüthige Betrachtungen, allein das Bittere, Marternde wurde ihm geraubt durch die Einwirkung einer seinen späten Lebensabend freundlich erhellenden Umgebung. Der alte Seltsam, diese ehrwürdige Hausreliquie, hatte ihn noch am Tage vor seinem Dahinscheiden auf den grünenden Fluren seiner Besitzung umhergefahren.

Jahre sind entflohen, und wenn ein gütiges Geschick mich sichtbar begünstigt, so sind doch meine ernstesten Versuche gescheitert, alle durch die Fesseln der Liebe Verbundenen näher zusammenzubringen. Mein Vater lebt nach wie vor in der Stadt von den Erträgen seines Fleißes, und unter manches gelungene Kunstwerk setzt er nach wie vor sein unveränderliches Monogramm.

Will o' the Wisp, wie meine Schwester noch immer genannt wird, hat sich von mir getrennt, um als Gattin dem Manne ihrer Wahl zu folgen. Sie ist glücklich. Thekla weilt bei ihr, um nicht, wie sie mit einem schwermüthigen Lächeln behauptet, ohne Seele einherzuwandeln. Noch heute steht die ewig heitere Will o' the Wisp in Briefwechsel mit einem gewissen James Tucker, ihrem früheren Gespielen. Ihrem Einfluß ist es zu verdanken, daß der ehrliche Bursche mit echt amerikanischer Energie sich über den Stand eines Holzflößers und Farmerknechtes emporarbeitete. Zur Zeit befindet er sich als Buchhalter im Geschäft der Firma Bechler. Dadurch, daß der professionirte Philanthrop seine Milly ehelichte, ist der Name O'Cullen, bösen Angedenkens, auf dem besten Wege, gänzlich in Vergessenheit zu gerathen. In jedem seiner wunderlichen Briefe kann Bechler mir nicht oft genug wiederholen, daß er nicht nur ein glücklicher und sehr gut situirter Mann, sondern auch äußerlich ein ganzer Gentleman geworden. Seitdem er weiß, daß die Bechlerin, wie er sie gern nennt, nach seinem Tode sich in das schwärzeste Schwarz kleidet, sind die beliebten Florschleifen seinem Gedächtniß entschwunden.

Wie die Eltern meines Haideröschens, sind auch die alte Winkelliese und der Hänge-Gensdarm durch nichts zu bewegen, ihren langjährigen Wohnsitz mit einem anderen zu vertauschen. Die Winkelliese, obwohl in's Greisenalter getreten, behauptet resolut, noch zehn bis fünfzehn Jahre das Bügeleisen schwingen zu können, zumal sie in Sophie eine liebevolle Gehülfin gefunden, welche nach ihrem Tode das Geschäft weiter führt. Der Hänge-Gensdarm ist dagegen in den Ruhestand versetzt worden, und zwar – nach einem geheimen Uebereinkommen zwischen dem Herrn Landrath und mir – in Ansehung seiner tadellosen langjährigen Dienstzeit, mit vollem Gehalt. Sogar die Rationen für ein Pferd bezieht er zu seinem namenlosen Erstaunen weiter. Da er das Reiten aufgegeben hat und Gemüse- und Blumengärtner bei seiner alten Hauswirthin geworden ist, gewähren ihm dieselben einen hübschen Zuschuß für kleine außergewöhnliche Lebensbedürfnisse. Er braucht also nicht zu knausern, und knausert auch nicht, was daraus hervorgeht, daß eines Tages zu der Winkelliese Entsetzen der verzinnte Blech-Ulan verschwunden war, und nach zwei Wochen, zu ihrem freudigen Erstaunen über und über vergoldet, eben so geheimnißvoll seinen alten Posten wieder eingenommen hatte. Ernste Kündigungen zum nächsten Ersten kommen zwischen den greisen Hausgenossen jetzt gar nicht mehr vor, und wenn wirklich bei dem Einen oder dem Andern einmal ein derartiger Gedanke auftaucht, so gewinnt doch stets wieder die Oberhand das Bewußtsein: ›Auf seine alten Tage den Leuten kein Schauspiel geben zu dürfen.‹

So sehen die beiden treuen, langjährigen Hausgenossen mit behaglicher Ruhe die Tage an sich vorüberziehen, und zwischen ihnen vermittelt liebevoll und zuvorkommend ihre gemeinschaftliche Freundin Sophie. Die arme Sophie, sie hätte sich keine Heimstätte wünschen können, welche ihren Neigungen entsprechender gewesen wäre.

Wie mein und des Haideröschens Weg uns oft nach jenem trauten, an Erinnerungen so reichen Erdenwinkel hinführt, so empfangen auch wir abwechselnd Besuch bald von dem Einen, bald von dem Andern. Leider halten sie nicht sehr lange bei uns aus; höchstens eine Woche. Diese Zeit genügt der Winkelliese, gemeinschaftlich mit Hedwig den Wäschevorrath zu zählen und mit den entsprechenden Kräutern zu durchschießen; dem Hänge-Gensdarm aber, nach und nach die Cavallerie der ganzen Herrschaft die Revue passiren zu lassen. Eine Woche, und spornstreichs eilen sie wieder dahin zurück, wo sie sich für unentbehrlich halten.

Jahre sind entschwunden, und um mich her schießen neue Haideröslein empor. Lieblich, wie die verheißenden Knospen erglühen mögen; mit ihnen allen wetteifert noch immer mein eigenes Haideröschen. Beglückt und vertrauensvoll sehen wir in die Zukunft. Aus dem Kampfe der Vernunft und der freien Naturlehre gegen verfinsternden Jesuitismus sind ernste, das Gemüth mit Frieden erfüllende Anschauungen hervorgegangen. Obwohl mit Glücksgütern reich gesegnet, erleidet unsere gewohnte einfache Lebensweise keine Aenderung. Innige Liebe kettet uns an die Erde und an Alle, die zu uns gehören; innige, unverwelkliche Liebe reicht von uns bis in die Wohnungen der Seligen hinein. Eng in einander verschlungen sind die Erinnerungen an das Verlorene und die Dankbarkeit für das von einem gütigen Geschick uns Erhaltene, eng verschlungen, wie die bedeutsamen Zeichen des geheimnißvollen Monogramms.

 

Meine Erzählung ist zu Ende; ich scheide von ihr, wie von einem liebgewonnenen Freunde, zumal Erfahrungen aus dem eigenen ereignißreichen Leben vielfach deren Unterlage bilden. Dankbar erkenne ich an, einen wesentlichen Theil meiner Informationen über die Jesuitenerziehung einem Werkchen: ›Der Jesuitismus, treu nach der Natur gezeichnet von einem bekehrten Jesuiten‹, Leipzig, Otto Wigand, 1872. entnommen zu haben. Einer gewaltigen, alle Schichten der Bevölkerung unwiderstehlich durchdringenden Strömung folgend, bin ich in meinen Schilderungen mit rücksichtsloser Offenheit zu Werke gegangen. Ich scheute nicht die Mißbilligung Derjenigen, welche wirklich gegeißelt wurden, nicht den Tadel Anderer, welche sich vielleicht gegeißelt wähnen. Mit Gleichmuth ertrage ich Beides. Wenn aber auch nur Einer diese Blätter befriedigt aus der Hand legt, nur Einer die von mir gewählte Form nachsichtig beurtheilt und, um des wenigen Besseren willen, zahlreiche Mängel übersieht, nur Einer die mit ernstem Willen verfolgten Zwecke gutheißt und ihnen freundlich Gedeihen gönnt und wünscht – dann, und zwar dann nur allein und in diesem besonderen Falle rufe ich aus vollem Herzen mit dem gelehrten Jesuitenpater Busenbaum:

»Quum finis est licitus, etiam media sunt licita!«


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