Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIERTES CAPITEL. DIE SCHWESTER.

Als ich in die enge Malerwerkstatt eintrat, war Zäuner eifrig beschäftigt, aus einer alten Farbenkiste eine Anzahl Zeitungen hervorzusuchen und neben sich auf ein Bänkchen zu legen.

»Es thut weh, Gräber, vor welchen man sonst nur trauernd kniete, öffnen zu müssen, um aus ihnen Beläge für die Wahrheit hervorzuziehen,« redete er mich alsbald an, »doch das Geschick will es so, und da mag es denn geschehen mir zur Beruhigung und Ihnen zum Frommen. Vielleicht gelingt es mir, Sie zu überzeugen, wie wenig rathsam, wie gefährlich sogar es ist, sich Anderen als willenloses Werkzeug hinzugeben. Sie stellten sich mir als meinen Sohn vor; ich traue Ihnen zu, daß es in dem guten Glauben geschah, daß Sie nicht ahnten, wie leicht es mir gewesen wäre, Sie als einen Betrüger zu entlarven. Solches würde ich freilich nicht über mich gewinnen um der Aehnlichkeit willen, welche Sie mit längst dieser Erde Entrückten tragen und welche Sie in meinen Augen gleichsam heiligt.

»Ja, ich hatte einen Sohn, einen lieben Sohn mit klaren Augen, mit Augen so blau, wie die seiner unvergeßlichen Mutter; mit Augen, welche die Ursache, daß eine theuere Entschlafene zärtlich schmeichelnd den Namen Indigo mit seinem wirklichen Namen Wilibald verschmolz. Mütter nennen im Uebermaß des Entzückens ihre Kinder ja gern mit allen nur denkbaren Namen, nur nicht mit dem richtigen. Der richtige erscheint ihnen nicht gut genug für ihre Herzensfreude; wer möchte es ihnen verargen? Denn die holden Tage ungetrübter junger Mutterschaft, sie verwehen wie ein Hauch.«

Hier bedeckte Zäuner sein Antlitz mit beiden Händen. Der Schmerz der Erinnerung schien ihn übermannen zu wollen. Ich zitterte vor den Enthüllungen, welche, wie ich nunmehr zuversichtlich glaubte, alle meine Zukunftsträume vernichten mußten. Als er endlich die Arme schlaff niedersinken ließ, meinte ich, in das Antlitz eines Todten zu schauen.

»Sie gaben vor, Indigo zu heißen,« hob er mit einem erzwungenen Lächeln des Argwohns an.

»Ich wurde so genannt seit meiner frühesten Kindheit,« wagte ich einzufallen.

»Gut, gut,« versetzte Zäuner ruhig, »Ihre Schuld ist es nicht, wenn man Sie so nannte, und ich besitze am wenigsten das Recht, Einsprache dagegen zu erheben. Vielleicht wissen Sie sogar von braven Menschen zu erzählen, welche sich Ihrer erbarmten und die verlassene Waise mit aufopfernder Treue pflegten, allein es ist besser, Sie ersparen sich diese Mühe. Was auch immer Sie erlebten, was auch immer der Zufall oder vielmehr schlau überlegende Köpfe gefügt haben mögen: In der Gewalt der Sterblichen liegt es nicht, nach Willkür Dahingeschiedene in's Leben zurückzurufen, Todte in die Geschicke noch Lebender eingreifen zu lassen. Sie sehen diese Zeitungen; es ist ein verschwindend kleiner Theil derjenigen, in welchen wohl drei Monate hindurch täglich ein und dieselbe Nachricht auf dem amerikanischen Continente verbreitet wurde. Als ich die Kunde zum erstenmal entdeckte, mochte sie bereits seit zehn Wochen das Land durchlaufen haben, um immer nur kalten theilnahmlosen Blicken zu begegnen, zehn Wochen, bis sie endlich vor zwei Augen lag, welche sich im rasenden Schmerz vorwurfsvoll gen Himmel kehrten und heiße Thränen auf das gefühllose Papier, auf die ihnen, wie schadenfroh entgegenstierende, mit fetter Schrift gedruckte Nachricht niedersandten.

»Ich nahm das Blatt, welches mir als Leichenstein galt; ich sammelte alle Blätter, deren ich habhaft werden konnte und die durch ihren Inhalt eine Art Heiligthum für mich wurden. Wer die Kosten der Veröffentlichung trug, ich weiß es nicht. Wohl aber ahne ich, daß es Leute waren, welche in ihrem starren Hochmuthe sich erhaben über alle Naturgesetze wähnten, Leute, die es mit teuflischer Befriedigung erfüllte, das letzte Band, welches mich und meine Tochter an den alten Continent fesselte, von einem grausamen Geschick schnöde zerrissen zu sehen. Doch was damals als eine willkommene Fügung erschien, vielleicht betrachtete man es später als einen, wenigstens bis zu einem gewissen Grade mißlichen Umstand. Ich wiederhole: Es mögen sich drüben Augen geschlossen haben, welche in der letzten Stunde Entscheidungen zu Gunsten Verstorbener trafen, und darum mußten die Todten wieder aufleben und Sie wurden an mich abgeordnet.«

»Niemand schickte mich,« benutzte ich wieder bange eine in der Erzählung des alten Herrn eingetretene Pause, »mein eigenes Sehnen, mein eigenes Verlangen trieben mich. Sogar gegen den Willen meiner Beschützer oder vielmehr Gebieter suchte ich das Weite.«

»Armer junger Mann,« erwiderte Zäuner traurig, »ich verzeihe Ihnen den Schmerz, welchen Sie durch das Aufreißen alter Wunden mir bereiten. Ich verzeihe Ihnen, weil Sie augenscheinlich im besten Glauben handeln und durch die unausbleibliche Enttäuschung auch Sie schmerzlich betroffen werden. Doch Sie mögen sich mit dem Gedanken trösten, daß es zu Ihrem Besten dient, daß es dazu dient, diejenigen, welche Sie bisher als Ihre Freunde betrachteten, in ihrem wahren Lichte, als Ihre erbittertsten Feinde vor Sie hinzustellen. Diese Feinde aber, o, sie waren, einst – nein, sie sind es noch heute – meine unermüdlichen Verfolger. Und wie hätte ich, ein argloser, vertrauender Mann, ihnen Widerstand leisten sollen? Wäre es der starre Hochmuth allein gewesen, der feindlich gegen mich auftrat, ich hätte ihn verlacht; jedoch eng verbunden, wie er war, wenn auch unwissentlich, mit jenen, in das Kleid der Frömmigkeit gehüllten finsteren Verächtern aller göttlichen und menschlichen Gesetze, mußte ich unterliegen, mußten meine physischen und geistigen Kräfte im nutzlosen Kampfe nur zu bald erlahmen, mußte eine Familie, deren Ansprüche nicht höher reichten, als ihr Glück in Frieden zu genießen, elendiglich zu Grunde gehen. Ja, es ist ein furchtbares Ganzes, wenn diese beiden Mächte: Nur durch die Geburt gerechtfertigter Hochmuth und heuchlerische Frömmigkeit sich zu einem bestimmten Zweck mit einander verbinden. Gehen ihre Interessen doch in den meisten Fällen Hand in Hand. Ueber ausreichende Mittel gebieten beide Theile; wo aber bei jenen Erbpächtern der Loyalität, deren Lippen von Treue und Unterthänigkeit überfließen, der Geist mangelt; wo die krankhafte Sucht: die Rechte Anderer hohnlachend in den Staub zu treten und sich von dem Mark der Mitmenschen zu mästen, das Denkvermögen beschränkt, da ist der Jesuitismus aller Glaubensbekenntnisse gern bereit, seinen Gecken und Bewunderern mit scharfem Verstande auszuhelfen, deren Hochmuth und Gewinnsucht aber zu seinem eigenen Gunsten auszubeuten und vereinigt mit ihnen im Höllenchor in die Welt hinauszusingen: Ad majorem Dei gloriam!«

Von ergreifender Wirkung waren auf mich diese in einer Art von Paroxismus ausgerufenen Worte. Verehrung vor dem weißen Haupte und Achtung vor dem in seinem ganzen Wesen sich ausprägenden Seelenschmerz übertäubten wiederum alle anderen Empfindungen, so daß ich nicht wagte, die plötzlich eingetretene Stille zu einer Erwiderung und einer genaueren Darstellung meiner Lage zu benutzen. Die bereits in's Leben gerufenen Zweifel aber gewannen dadurch an Schärfe, daß Zäuner ein Zeitungsblatt entfaltete und sich anschickte, mir eine Stelle aus demselben vorzulesen.

»Acht oder neun Jahre sind es her,« bemerkte er, bevor er die Blicke auf die Schrift senkte, ich lebte damals noch in New-York, wo ich durch Schildermalen nothdürftig für mich und meine Tochter das tägliche Brod erwarb, da wurde eines Abends meine Aufmerksamkeit durch eine Anzeige in diesem mir zufällig in die Hände gerathenen Blatte gefesselt. Was ich beim Lesen des durch großen Druck mir in die Augen fallenden Artikels empfand, vermeide ich, eingehender zu schildern. Ebenso enthalte ich mich fernerer Erklärungen betreffs der Verhältnisse und Personen. Geht doch aus Ihrem Auftreten hervor, daß Sie mit Allem hinlänglich vertraut gemacht wurden, um mich zu verstehen.«

Dann las er:

»Aufruf an Herrn Wilibald, welcher vor acht Jahren nach Amerika ausgewandert sein soll und seitdem kein Lebenszeichen von sich gab! Der Knabe, welcher von dem Gensdarm Hänge in einer Torfhütte neben der Leiche seiner Mutter gefunden, mitgenommen und bis zu seinem zwölften Jahre gepflegt wurde, ist einer bösartigen Kinderkrankheit erlegen.«

»Eine Lüge, eine schamlose Lüge ist es!« rief ich entsetzt über das frevelhafte Spiel aus, welches man, scheußlichen Zwecken huldigend, mit den Gefühlen eines Vaters getrieben hatte, »eine unerhörte Täuschung!« wiederholte ich, »denn jener Knabe blieb nicht nur am Leben, sondern wurde auch nie von einer Krankheit heimgesucht!«

Aufmerksam betrachtete Zäuner mich nach diesem Ausbruch meiner Erschütterung.

»Sie scheinen ein ehrenwerther junger Mann zu sein,« erwiderte er zögernd, »in Ihrem Ausdruck liegt wenigstens Wahrheit. Doch woher schöpfen Sie die Ueberzeugung, daß mit Ihnen selber nicht ein gewissenloses Experiment gemacht wurde? Und dann, welchen Zweck hätte man haben können, mir, dem in der Ferne Weilenden, fälschlich den Tod meines noch lebenden Sohnes zu verkünden? Als ich den Knaben jenem alten Soldaten überwies, da wußte ich, wessen Händen ich ihn anvertraute, und beruhigt zog ich von dannen. Er war bekannt als ein Mann ohne Fehl, der nie geduldet haben würde, in seinem Namen ein falsches Gerücht zu verbreiten. Wenn ich dagegen scheinbar meinen Sohn vergaß, wohl durchdachte Pläne mich hinderten, vor Ablauf einer bestimmten Frist ihm wieder näher zu treten – woher hätte ich auch die Mittel dazu nehmen sollen – so hätte ich doch nie bis heute gesäumt, Alles – alles in meinen Kräften Stehende aufzubieten, mich ihm zuzugesellen oder ihn auf die eine oder die andere Art zu mir herüberzuschaffen. Doch er war todt und damit das letzte zwischen mir und der Heimat bestehende Band vernichtet – nein, noch nicht das letzte!« rief er leidenschaftlich aus, indem er den Vorhang von dem Bilde fortriß und mich vor dasselbe hinschob, »nein, eine Beziehung besteht noch, eine, die so unvergänglich ist, wie die Liebe, welche ich noch immer für eine Verstorbene hege, unvergänglich, wie die Trauer, mit welcher ich einer kleinen, wohl neben sie gebetteten Leiche gedenke, und die ich Beide hier Angesichts dieses Bildes und gehört von dem Allmächtigen, als die armen Opfer sträflichen Hochmuthes und jesuitisch frömmelnder Habgier bezeichne. Blicken Sie hin, junger Mann, auf die Gestalten, die so tief in mein Herz eingegraben sind, daß ich aus der Erinnerung ihnen eine sprechende Aehnlichkeit zu geben vermochte,« und seine Stimme wurde erregter, klagender, »betrachten Sie die junge Mutter; sie war zu gut, zu edel für diese Welt, allein der Todesengel hätte sie in milderer Weise von dannen rufen, seine Hand sanfter auf ihr treues Herz legen können, anstatt daß es vor Kummer und Gram brach! Ja, es brach vor Jammer, brach ihrem Gatten zur Verzweiflung, ihren Kindern zum entsetzlichen Unglück, ihren Verderbern dagegen – ha, blicken Sie nur hin auf die drei in den Schleier eines Traumes gehüllten Gestalten, sie sind es – zum ewigen unauslöschlichen Fluche! Ja, zum Fluche! Denn nicht vergebens zog ich mit meiner Tochter mich in diesen verborgenen Erdenwinkel zurück, nicht vergebens schaffte, sparte und darbte ich gemeinschaftlich mit dem lieben Kinde, bis mein Haar vollständig erbleichte! Nur noch einige Jahre – und der Allmächtige wird meine Kräfte so lange erhalten – nur noch einige Jahre, und ich will vor sie hintreten, die einst einen Engel unbarmherzig von der Thür des eigenen elterlichen Hauses wiesen! An der Seite meiner Tochter will ich hohnlachend vor sie hintreten, ihnen zeigen diese, meine einzige bedeutende Arbeit, ihnen erklären, wie eine von unauslöschlichem Rachedurst geführte Hand ein solches Meisterwerk zu schaffen vermochte, und mich weiden an ihrem Entsetzen, wenn ich sie die Mörder meines Weibes und Kindes nenne, sie darauf vorbereite, daß dieses Stück Familienleben seinen Umzug durch alle Städte halten, von Ausstellung zu Ausstellung wandern wird, mit der Angabe eines Preises, welcher gleichbedeutend mit ›Unverkäuflich!‹ Ha, das soll die Rache sein, welche ich einst in meiner Verzweiflung Angesichts einer verrätherisch geopferten jungen Mutter schwor, die nach unsäglichen Leiden nicht zwischen seidenen Pfühlen, wie zu ruhen sie seit ihrer frühesten Kindheit gewohnt gewesen, sondern auf einer Streu von Haidekraut, auf feuchter Erde und umgeben von düsteren Torfwänden ihrem Schöpfer die reine Seele zurückgab! O, Martha, Martha! warum wiesest Du mich nicht von Dir, anstatt den Schmeichelworten des Vermessenen zu lauschen und die Schwüre seiner ewigen Liebe und Treue zu erwidern! Martha, Martha! Deine Liebe war Dein Verderben! Mir aber, dem Zeugen Deiner namenlosen, mit himmlischer Ergebung getragenen Qualen und Leiden, mir blieb die einzige, die letzte Aufgabe der Vergeltung!

»Gehen Sie jetzt, junger Mann,« kehrte Zäuner sich nunmehr mir wieder zu, und auf seinem bleichen Antlitz ruhte eine Welt des bittersten Schmerzes, »gehen Sie hin zu Denjenigen, welche Sie an mich absendeten, und hinterbringen Sie ihnen, was Sie hier sahen. Erzählen Sie ihnen, daß, wie der Holzwurm Tag für Tag bohrt und, wenn auch langsam, doch sicher die schwersten Planken zerstört und das gewaltigste Schiff dem Untergange weiht, ich ähnlich schaffte und arbeitete an meiner Rache; daß der Tag nicht fern, an welchem ich Rechenschaft von Denjenigen fordere, welche sich berufen glauben – doch gehen Sie, gehen Sie jetzt!« rief er heftiger aus, indem er mit zitternder Hand auf die Thüre wies, »kein Wort mehr will ich von Ihnen hören, keine Entschuldigung, keine Erklärung! Gehen Sie und blicken Sie nicht so seltsam – Alles ist Lug und Trug. Die Worte, welche von hinterlistigen Feinden Ihnen eingeprägt wurden, die Augen, die mich an Jemanden erinnern – doch fort jetzt! Gehen Sie hin und rühmen Sie sich, Jemand in Verzweiflung gesehen zu haben, der es bisher verschmähte, fremde Menschen zu Zeugen seines Grames zu machen.«

So sprechend warf er sich auf das Bänkchen vor der Staffelei, und sein Antlitz in beide Hände vergrabend, schien er nur noch seinem Schmerz leben, die ganze übrige Welt von sich ausschließen zu wollen.

Ich begriff, daß ich, gewaltig und unwiderstehlich, wie es mich zu ihm hinzog, in seiner jetzigen Stimmung dennoch vergeblich um Gehör flehen würde. Zu unzweideutig hatte er das krankhafte Verlangen kundgegeben, allein zu sein. Zwischen andringenden Thränen hindurch warf ich noch einen Blick der innigsten Theilnahme auf ihn, dann kehrte ich mich erschüttert der Thüre zu. Meine Ueberzeugung hatte sich befestigt, die letzten Zweifel waren verschwunden. Wie aber sollte es mir gelingen, Zugang zu einem Herzen zu finden, um welches der in tiefer Einsamkeit mit einer gewissen Wollust gehegte und unablässig genährte Gram und ein schlummerndes, auf furchtbaren Erfahrungen begründetes Mißtrauen eine undurchdringliche Rinde gezogen hatten?

Indem ich mit unsicheren Bewegungen und vollständig rathlos in's Freie hinaustrat, erblickte ich Will o' the Wisp und wie süßer Trost und freundliche Hoffnung grüßte mich ihr holdes Bild. Sie saß auf demselben Holzstamm, auf welchem ich kurz zuvor sie und ihren Vater erwartet hatte. Den Charakter des zwischen diesem und mir geführten Gespräches schien sie errathen zu haben, denn als ich mich näherte, erhob sie sich, mit unverkennbar ängstlichem Ausdruck in meinen offenbar leidenschaftlich erregten Zügen spähend.

»Er ist sehr, sehr zu beklagen!« hob sie sichtbar besorgt an, wie sich fürchtend vor meinen, ihre ganze liebe Gestalt umfangenden Blicken; »aber noch nie hörte ich ihn in solcher Weise zu einem Fremden sprechen, und daß es geschah, erscheint mir fast als ein Ihnen zu Theil gewordener Vorzug, welcher ihm selbst freilich manche traurige Stunde, manche schlaflose Nacht einträgt.«

Ich hatte ihre Hände ergriffen und innig blickte ich in die zu mir aufschauenden blauen Augen. Doch wo beginnen, um das zu offenbaren, was meine Brust bis zum Zerspringen füllte.

»Martha,« hob ich endlich an, und das Erschrecken des freundlichen Kindes bewies, daß ich nicht irrte, als ich es mit dem Namen unserer gemeinschaftlichen Mutter anredete, »Martha, ein heiliger Schmerz ist es, welcher ihn dort in dem Häuschen erschüttert, unsere Aufgabe aber ist es, seinen Gram zu verscheuchen, die zuversichtliche Hoffnung auf einen freundlichen Lebensabend in ihm zu erwecken.«

Widerstandslos und wie einer höheren Gewalt gehorchend, duldete Will o' the Wisp, daß ich sie in den schattigen Pfad hineinzog, wo wir uns bald außerhalb der Hörweite Zäuners befanden. Dort aber vermochte ich nicht länger an mich zu halten. Dicht vor sie hintretend, legte ich meine Hände auf ihre Schultern. Was ich dachte und fühlte, in meinen Zügen mußte es sich ausprägen, denn Will o' the Wisp lächelte zwar befangen, jedoch zutraulich. Meine Begegnung mit ihrem Vater und der Umstand, daß ich sie mit ihrem wirklichen, von einem Fremden gewiß seit lange nicht gehörten Namen anredete, schienen mir ihr Herz geöffnet zu haben.

»Kennst Du die Bedeutung des Bildes, welches unter den Händen Deines armen Vaters entstand?« fragte ich. »Hat er Dir je erzählt von Deiner früh verstorbenen Mutter, von einem Knaben –«

Die Stimme versagte mir. Will o' the Wisp zitterte so heftig, daß ich fürchtete, sie unter meinen Händen zusammensinken zu sehen. Ihre guten Augen vergrößerten sich, wie um andringenden Thränen freien Raum zu gewähren, und ihr liebliches Antlitz dem meinigen nähernd, legte sie ihre ganze Seele in einen einzigen zwischen Furcht und Hoffnung schwankenden Blick.

»Du bist mein Bruder!« rief sie unter hervorbrechenden Thränen aus, indem sie ihre Arme weit ausbreitete und meinen Hals umschlang; »mein einziger, mein eigener Bruder. Wilibald,« schluchzte sie, mich krampfhaft an sich pressend, »mein Bruder, der Sohn meines Vaters, der Sohn meiner Mutter, und wir sind nicht mehr allein!«

»Dein Bruder,« antwortete ich tief ergriffen, meine Lippen auf die unschuldreine Stirne pressend; es war Alles, was ich hervorzubringen vermochte.

Abendliche Kühle senkte sich auf die herbstlich schillernde Landschaft. Hoch über uns zwischen buntgefärbtem Laub spielten die Strahlen der tiefstehenden Sonne. Wie lange noch, und sie tauchte hinab in die sich westlich ausdehnenden Fluren, an den stillen Mond und die ihn umringenden, geheimnißvoll funkelnden Sterne die Herrschaft abtretend. In meiner Seele war dagegen ein neuer Tag angebrochen. Ich war nicht mehr allein auf der weiten, weiten Welt; zu den Sorgen um die eigene Wohlfahrt waren mir von einem versöhnten Geschick andere, heiligere, aber mit jenen Hand in Hand gehende zuerkannt worden, die Sorgen für eine Schwester, für ein Wesen, über welches sich einst die einsame Schläferin auf dem Friedhofe des heimatlichen Dorfes mit demselben wehmüthigen Entzücken hinneigte, wie über mich, den als Erstgeborenen Begrüßten!

›Martha, Wilibald!‹ wie klang es so freundlich, so verheißend, so erinnerungsvoll!

Arm in Arm wandelten wir auf dem gewundenen Pfade der Colonie zu, Arm in Arm und langsam, wie um dadurch die enteilende Zeit zu zügeln und in ihrem Lauf zu hemmen. Will o' the Wisp, oder vielmehr Martha, plauderte so kindlich unbefangen, wie sie es nie anders kennen gelernt hatte, und so vertrauensvoll, als wäre erst ein Tag verflossen, seitdem wir zum letzten Mal gemeinschaftlich am Herzen unserer Mutter ruhten. Mir dagegen wurde es schwerer, mich in die neue Lage zu finden, und oft, oft blieb ich stehen, um sinnend in das mir zugekehrte holde Antlitz zu schauen, mich zu überzeugen, daß ich kein Traumleben führe, sondern in der That berechtigt sei, die liebliche Waldelfe Schwester zu nennen, gewissermaßen verpflichtet, das mir entgegengetragene offene Vertrauen mit dem rückhaltlosesten Vertrauen zu erwidern.

Um uns her lispelte es in den Baumwipfeln und riefen die befiederten Waldsänger der scheidenden Sonne ihren letzten Gruß zu, und wie die sorglosen Vögel, so erzählte auch Will o' the Wisp von unserem Vater, wie er mühsam um's tägliche Brod gearbeitet und trotzdem ausreichend Zeit erübrigt habe, sie zu belehren und zu unterweisen. Was man sonst noch von einem jungen Mädchen aus den gebildeteren Ständen verlangt, war ihr freilich fremd geblieben; doch hatte sie bei ihrem Umherstreifen in der Nachbarschaft, überall, wo man sie als einen gern gesehenen Gast willkommen hieß, vielfach Gelegenheit gefunden, freundlichen Gefährtinnen und sorglichen Hausfrauen Manches abzulauschen, was sie dann in ihrem eigenen kleinen Hausstande nach besten Kräften verwerthete. Ihrer sich häufig wiederholenden Abwesenheit hatte der Vater nie ein Hinderniß in den Weg gelegt. Frei war sie gewandert, wohin es sie zog, bis sie endlich jene zuversichtliche Selbstständigkeit erlangte, welche es ihr ermöglichte, mit heiteren Einwendungen die letzten väterlichen Besorgnisse einzuschläfern und sogar unter dem Schutze ihres Gespielen James Tucker in einem leichten Kahne ihre Geschäftsreisen bis nach New-York hinunter auszudehnen.

Unbemerkt und ahnungslos war sie von einem munteren Kinde zu einer lieblichen Jungfrau herangereift. Wie der in wunderbarer Farbenpracht schillernde Colibri seine Lieblingsblumen, so hatte sie die umrankte Blockhütte umschwärmt, als ihr Lockenhaupt kaum bis an des Vaters Handgelenk reichte. Wie ein bald nach dieser, bald nach jener Richtung hin verschwindender Falter umschwärmte sie dieselbe noch heute, so oft sie bei ihm erschien, des Vaters Auge erfreuend, so oft ihr unstäter Flug sie davonführte, in seinem Herzen die ruhige, gleichsam lächelnde Hoffnung auf baldiges Wiedersehen wach erhaltend. Und als ich von meiner Begegnung mit dem Vater sprach, wie leicht erschien es ihr da, ihn zu überzeugen, das Mißtrauen aus seiner Seele zu bannen, mir eine Stätte unter seinem Dache und in seinem Herzen zu bereiten! Ihre freundlichen Hoffnungen wagte ich nicht zu trüben, keine Einwendungen zu erheben gegen die Pläne, welche sie entwarf, uns einander näher zu bringen; allein, je vertrauter wir mit einander wurden, je freier ich in Folge dessen meine Gedanken anderen Dingen, als der anfänglich mein ganzes Sein umfangenden Gegenwart zuwendete, um so drohender erschienen mir die Gewitter, welche noch ringsum meinen Horizont verfinsterten, um so gefährlicher die Nähe derjenigen, von welchen ich wußte, daß sie das Aeußerste aufbieten würden, mich von meinen Angehörigen fern zu halten, und deren weit reichender Macht ich bisher nur wie durch Wunder entronnen war.

Von meinen Besorgnissen äußerte ich zu Will o' the Wisp keine Silbe. Nur darauf drang ich mit freundlichen Schmeichelworten, daß sie den Vater auf meinen am folgenden Tage sich wiederholenden Besuch vorbereiten möge. Weiter hinaus reichten meine eigenen Pläne nicht, und sie konnten es nicht, bevor ich festen Fuß gefaßt, die Ansichten und den Rath eines Vaters als sichere Stützpunkte gewonnen hatte.

Bis an den Waldessaum, von wo aus wir die im bläulichen Mondlicht friedlich daliegende Colonie zu überblicken vermochten, begleitete mich Will o' the Wisp, und gemeinschaftlich legten wir denselben Weg bis an die Lichtung zurück, auf welcher ich Tags zuvor O'Cullen in seinem Verkehr mit ihr beobachtete. Dort aber trennten wir uns, und wenn je die Namen Bruder und Schwester einen freundlichen Wiederhall erweckten, so geschah es an jenem Abend, als wir von den beiden äußersten Grenzen der Lichtung aus uns gegenseitig den letzten Scheidegruß zusandten. Der Zwischenraum zwischen uns vergrößerte sich schnell.

»Gute Nacht, Schwester Martha! Gute Nacht Will o' the Wisp!« rief ich zum letzten Mal rückwärts.

»Gute Nacht, Bruder Wilibald! Gute Nacht, Indigo!« drang es silberhell durch's Dickicht zu mir herüber.

Der Whip – poor – Will trieb wieder sein gewöhnliches Spiel.

»Will – o' th' – Wisp!« tönte es weit vor mir melancholisch; »In – di – go!« bald auf der einen, bald auf der andern Seite. Es schienen zwei Vögel zu sein, welche mit eigenthümlich menschenähnlicher Stimme während des unstäten Umherschweifens ihre jedesmalige Stellung zu einander verriethen.

»Will – o' th' – Wisp!« hell und durchdringend in der Nähe. »In – di – go!« weit abwärts, gleichsam das Echo bildend.

Ich vergegenwärtigte mir die freundliche, irrlichtartige Erscheinung, welche ich fortan Schwester nennen sollte. War sie es nicht selber, welche mich als holder Schutzgeist umschwebte? War sie es nicht, die mir Kunde gab von der Sicherheit der Umgebung?

»In – di – go!« schienen die zitternden Strahlen des Mondes mir aus weiter, weiter Ferne zuzutragen.

»Will – o' th' – Wisp!« vermischte es sich hoch über mir in den Wipfeln der Bäume mit dem unablässigen Gezeter lustiger Baumgrillen.

»Bei Gott, Mr. Indigo, wenn Ihr zu weiter nichts Lust habt, als Eure Zeit mit Spaziergängen zu verbringen, hättet Ihr lieber da bleiben sollen, wo Ihr hergekommen seid!« ertönte dicht vor mir O'Cullens widerwärtiges Organ.

Erschrocken blieb ich stehen. Kaum dreihundert Schritte weit mochte ich mich von der Landstraße und doppelt so weit von der Colonie befinden.

»Dann seid Ihr wohl gar im Begriff gewesen, mich zu suchen?« fragte ich, einen sorglosen Ton erzwingend.

»Das bin ich, bei der süßesten Jungfrau Maria,« hohnlachte der Irländer, und da ich mich wieder in Bewegung gesetzt hatte, kehrte er auf seinem Wege um, zugleich auf meine rechte Seite tretend, »und alle Ursache, mich nach Euch umzuthun, hatte ich obenein, denn die letzte Elle Band und der letzte Hemdenknopf sind verkauft, und morgen in aller Frühe begeben wir uns heimwärts.«

»So bitte ich Euch um die kleine mir noch zustehende Geldsumme,« versetzte ich entschlossen, »dann, meine Habseligkeiten ein Weilchen in Eurem Hause aufzubewahren und allein zu reisen.«

»Verdammt will ich sein, wenn ich das thue,« erwiderte O'Cullen mit aufflammender Wuth, seine Stimme jedoch vorsichtig dämpfend, als hätte er die Nähe eines auf der Landstraße schnell herbeieilenden Wagens gescheut; »oder glaubt Ihr etwa, ich sei ein Kind, mit welchem man Verstecken und Suchen spielt?«

»So behaltet das Geld,« entgegnete ich ebenfalls heftiger, »ja, behaltet es, wenn Ihr meint, daß es Euch Segen bringt; hofft Ihr indessen, mich zu zwingen, Euch zu begleiten, so täuscht Ihr Euch. Ich bleibe hier, und nichts in dieser Welt kann mich dazu bewegen, einen Schritt gegen meinen Willen zu thun.«

»Nichts?« fragte O'Cullen röchelnd und zugleich krallte seine linke Hand sich in meinen rechten Oberarm ein, wie ich so oft beobachtete, daß er bei der armen Milly gethan, »also wirklich nichts? Aber bei der ewigen Verdammniß, Mann, so sagt wenigstens 'nen Grund dafür, wenn ich Euch nicht für den durchtriebensten Schurken halten soll, welcher jemals heimlich die Kasse seines Brodherrn bestahl.«

Dieser unvorhergesehene Angriff und der mir verursachte unerträgliche Schmerz wirkten so verwirrend auf mich ein, daß ich im ersten Augenblick nichts zu antworten vermochte und, gleichsam willenlos dem auf mich ausgeübten Zwange nachgebend, stehen blieb.

»Ihr werdet mir Rechenschaft ablegen für Euer Verfahren,« rief ich endlich aus, indem ich mich vergeblich bemühte, meinen Arm dem eisernen Griff des Irländers zu entziehen und seinen Gesichtsausdruck zu unterscheiden.

»Hund von einem Deutschen,« schnaubte O'Cullen drohend, »Du möchtest die Leute von der Landstraße herbeirufen? Wie Du mein Weib verführtest und meine Geschäftsangelegenheiten ausspionirtest, möchtest Du mich jetzt – als – einen –«

Mehr vernahm ich nicht. Ich sah wohl, wie des Irländers Arm schnell, wie der Blitz, die Luft durchschnitt; indem ich aber dem nach mir geführten Schlage auszuweichen suchte, fühlte ich auch schon auf meinem Scheitel einen dröhnenden Schmerz, welcher mir die Besinnung raubte. Den Angstschrei, welchen ich ausstieß, erstickte ein zweiter Schlag, der indessen die Thätigkeit des Geistes auf eine Secunde wachrief. Zu Boden sinkend hatte ich eine flüchtige Empfindung des Sterbens. In meinen Ohren brauste es, dazwischen glaubte ich, verwirrt rufende menschliche Stimmen zu unterscheiden; dann, das Gefühl des Schwebens und Drehens, und völlige Bewußtlosigkeit bemächtigte sich meiner.


 << zurück weiter >>