Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

ELFTES CAPITEL. UNTER DEM HEIMATLICHEN DACHE.

Die Geldmittel, welche ich der Freundschaft des Försters Wallmuth und Sophiens treuer Fürsorge verdankte, waren mir zu heilig, um mittelst derselben mir irgend welche Erleichterung oder Bequemlichkeit zu verschaffen. Ich wanderte zu Fuß und hatte die große Genugthuung, die ganze Strecke in wenig mehr Zeit zurückzulegen, als vor Jahren in dem Hauderer, welcher sich für verpflichtet hielt, vor jedem Dorfkruge zum Zweck des Verschnaufens ein Stündchen anzuhalten. Nur im äußersten Nothfall nahm ich Zuflucht zu meiner Baarschaft, und dennoch gedachte ich mit einem gewissen Gleichmuthe der Stunde, welche den letzten Rest der von freundlichen Händen gespendeten Unterstützungen mir abfordern würde.

»Ich bin frei!« Damit tröstete ich mich, sobald Kleinmuth den Sieg über mein kaum erwachtes Selbstvertrauen davon zutragen drohte; und dann schritt ich wieder so rüstig und hoffnungsvoll einher, wie nur je ein fahrender Handwerksbursche, welcher drei Kreuzer in der Tasche und die Mildthätigkeit seiner Mitmenschen als ein unerschöpfliches Vermögen betrachtete.

Der Tag leuchtete noch, als ich in der Nachbarschaft des heimatlichen Dorfes eintraf. In dasselbe hineinzugehen, wagte ich indessen nicht. Die in den Magazinräumen des Antiquars erlauschten mittelbaren Drohungen lebten noch zu frisch in meinem Gedächtniß. Ueberall meinte ich Fallen für mich aufgestellt zu sehen, und als wären sie meine erbittertsten Feinde gewesen, fürchtete ich am meisten, gerade bekannten und mir einst freundlich gesinnten Nachbarsleuten zu begegnen.

Wie ein Verbrecher schlich ich in weitem Bogen um das Dorf herum, bis ich an dem die Feldmark begrenzenden Waldessaum ein geschütztes Plätzchen fand. Erschöpft warf ich mich auf den weichen Rasen eines Grabenufers, um daselbst den Einbruch der Nacht zu erwarten. Vor mir lag das Dorf mit seinem grauen Kirchthurm, den Strohdächern und Storchnestern; mit seinen Linden und Obstbäumen; mit seinen Garteneinfriedigungen und den abseits errichteten Backöfen. Traurig schweiften meine Blicke über dasselbe hin. Wie oft – wie unzählige Male hatte ich nach diesem Anblick mich krankhaft gesehnt; und jetzt, da ich ihn genoß, wurde ich seiner nicht froh, so fremd erschien mir Alles und so viel kleiner.

Die runden Eulenlöcher auf den Giebeln der Scheunen und Ställe verwandelte ich sogar in Augen, die trotz ihrer Blödigkeit mit feindseligem Ausdruck zu mir herüberspähten. In den Gärten und auf den Feldern bewegten sich Menschen bei ihren letzten Tagesarbeiten. Vergeblich suchte ich mich zu überzeugen, daß da, wo zwei oder mehrere neben einander standen, man nicht von mir spreche, und da, wo ein einzelner, auf sein Geräth sich stützend, rastete, er nicht in ernste Betrachtungen über meine Flucht und die ihm fälschlich dargestellten Beweggründe zu derselben versunken sei. Der Kirchthurm bezeichnete die Stätte, auf welcher die arme Martha, meine eigene, unbarmherzig in's Elend gejagte und in Gram gestorbene Mutter schlummerte. Kaum tausend Schritte weit von ihr saß ich im Waldesschatten und durfte doch nicht hinüber, um den theuern kleinen Hügel nach langen, langen Jahren endlich wieder zu begrüßen. Meine Blicke verschleierten sich. Weniger schmerzliche Bilder herbeisehnend, kehrte ich mich dem niedrigen, hinter Obstbäumen fast versteckten Ziegeldach zu, unter welchem die fleißige Plätterin und der alle Hänge-Gensdarm friedlich bei einander wohnten. Aus dem weißen Schornstein wirbelten leichte Rauchwolken in den klaren Aether empor. Der guten Winkelliese Gewohnheiten kannte ich noch immer so genau, als hätte ich mich nie von ihr getrennt gehabt. Sie stand ohne Zweifel vor ihrem Plättbrett und handhabte das schwere Bügeleisen, als wäre in ihren fleischigen Armen die Kraft einer Dampfmaschine verborgen gewesen. Wie ihre hohe spitze Haube wohl schwankte und die Lippen sich vor Eifer zusammenpreßten! Aus demselben Feuer, welches die Bolzen durchglühte, schmorte langsam irgend ein Lieblingsgericht für ihren Miether. Oft, oft hatte ich um diese Zeit in dem heißen Plättzimmer gesessen und mir die größte Mühe gegeben, beim langweiligen Rechnen mittelst des Griffels auf der Schiefertafel jenes unausstehliche Kreischen zu erzeugen, welches die sonst nicht nervenschwache Winkelliese schließlich dennoch veranlaßte, mich mit meinen Schularbeiten in die Laube hinauszujagen, um dort unter der Aufsicht des standhaften Blech-Ulanen oder, wenn er daheim, unter der des Hänge-Gensdarm den ohrenzerreißenden Spectakel fortzusetzen, was für mich gleichbedeutend mit dem Vergessen jeglicher Verpflichtung gegen den Herrn Magister loci. Und jetzt sah ich das Häuschen, und so gern wäre ich in jenes heiße Plättzimmer hineingegangen, so gern hätte ich der guten Winkelliese nach alter Weise die Bolzen in die Gluth geschoben, auch wohl gar, um die alten trauten Erinnerungen so recht lebhaft wachzurufen, mit dem Griffel auf der Tafel gekreischt; allein ich durfte nicht, ich war ausgeschlossen, war ein Fremder geworden, welcher sich scheute, den Menschen unter die Augen zu treten.

Tiefer sank die Sonne, bis sie endlich hinter den Bäumen des Dorfes hinabtauchte. Wie um mir die Hand zu reichen, dehnten die Häuser ihre Schatten bis zu mir aus. Heimwärts zogen die Heerden, heimwärts wanderten die Feldarbeiter. Feierabend, süßer Friede überall. Hier und dort bellte ein Hund. Ich meinte, ihre Stimmen noch von früher her zu kennen. Sie schienen sich gegenseitig etwas zuzurufen von einem jungen Manne, welcher seinen frommen Lehrern entlief, seinem biederen Pensionsvater die erwiesenen Wohlthaten mit schnödem Undank lohnte, schienen zu behaupten, daß sie selbst im Allgemeinen weit besser daran seien, als Jemand, der scheu und obdachlos in der Welt umherirre und drüben am Waldessaume wie ein entsprungener Missethäter in einem Graben kauere.

Schneller verdichteten sich die Schatten. Zahlreiche Fledermäuse tummelten sich im Zwielicht. Ein Fenster nach dem andern erhellte sich, bald von gelblichen Unschlittkerzen und Thranlampen, bald von flackerndem Herdfeuer, über welchem Tiegel und an langen rußigen Ketten niederhängende Kessel dampfende Speisen bargen. Alle die alten Nachbarn erfreuten sich ihres gewohnten Obdachs, alle traten sie nach vollbrachtem Tagewerke mit einem Gefühl der Behaglichkeit über die Schwelle der heimatlichen Stätte. Nur ich allein war dazu verdammt, unter dem Schutze der Dunkelheit einherzuschleichen, argwöhnisch umherzuspähen, bevor ich wagen durfte, da vorzusprechen, wo ich in glücklicher Sorglosigkeit die wenigen Kinderjahre verlebte.

Die Brust schwoll mir vor Sehnsucht. Ich war aufgesprungen, und zwischen zwei Feldern hinschreitend, gelangte ich an den kleinen Garten, das Feld meiner ersten kindlichen Spiele, meiner ersten kindlichen Thätigkeit.

Im sommerlich transparenten Dunkel erkannte ich jeden Baum, jeden Strauch wieder. Wie war doch Alles so klein geworden! Zweige, von welchen ich einst mit einer Gerte das Obst herunterschlug, an die legte ich im Vorübergehen mechanisch prüfend und ohne Schwierigkeit die Hand, und der Stall, in welchem das Gensdarmenpferd hauste, den meinte ich mit beiden Händen aufheben und auf einen Tisch stellen zu können.

Die Hinterthür des Häuschens war nur angelehnt. Ich wollte eintreten, als ich plötzlich den unwiderstehlichen Drang fühlte, die beiden guten Alten heimlich zu belauschen, sie in ihrem patriarchalischen Wirken zu beobachten, aus ihren Bewegungen und Blicken gleichsam herauszulesen die Sehnsucht nach ihrem, vermeintlich in der Ferne weilenden Lieblinge, und dann den Ueberraschten plötzlich in die Arme zu stürzen.

Leise schlich ich um das Haus herum. In dem Gensdarmenzimmer war es dunkel, und doch mußte der Gensdarm selber zu Hause sein; zu deutlich hatte ich das geräuschvolle Kauen des Pferdes vernommen. Gleich darauf stand ich auf der andern Seite der Hausthür, behutsam durch das nächste, der erquickenden Abendluft geöffnete Fenster in das erleuchtete Gemach hineinspähend.

Die Winkelliese plättete. Der Hänge-Gensdarm saß neben dem Tisch, sein Haupt schwer auf den einen Arm stützend. Die lange Pfeife vermißte ich. Es kostete mich Mühe, nicht durch einen Jubelruf das Gespräch zu unterbrechen, in welches sich die Beiden vertieft hatten und welches, nach meiner Ueberzeugung, nur mich betreffen konnte.

»Schon immer bezweifelte ich, Herr Gensdarmenwachtmeister Hänge, daß in den Männern mehr Resolution stecke, als in den Weibern,« erklärte die Winkelliese, und das Plätteisen flog über ein gestärktes Hemde, als hätte es gegolten, ihrem alten Hausgenossen die Runzeln aus dem Gesicht zu bügeln; zugleich aber deutete das Aussprechen des ganzen Gensdarmentitels auf eine gewisse Kampfeslust, »jetzt aber sehe ich klar, wie das Sonnenlicht, wer Recht hatte. Sie wollen Soldat, Wachtmeister und obenein Gensdarm sein? Käme mir dieser Landrath mit solchen Anliegen, würde ich ihm zeigen, was es heißt, sich in anderer Leute Familien-Angelegenheiten zu mischen! Hm, Prahldaniehr! Hinter der ganzen Geschichte stecken wieder Menschen ohne Namensunterschrift, und das sind keine Menschen, sondern sind – sind gar nichts. Wenn der Jahn desertirte, so hatte das Herzenskind seinen Grund dazu; denn er braucht nichts mehr zu lernen und weiß mehr, als die Menschen ohne Namensunterschrift alle zusammengenommen. Und gehungert hat er ebenfalls, das habe ich dem armen Würmchen auf der Stelle angesehen; ein durchsichtiger Schatten ist er geworden, und wenn ich etwas bedauere, so ist's, daß er nicht gleich den ganzen Laden mit Allem, was drinnen war, in Stücke schlug – 'n schöner Doctor mit 'nem Bücherkram, und schmierige Waare obenein. Wer die wohl kauft? Hm, und mir wehren zu wollen, das Kind zu begrüßen – nur noch ein Schatten von 'nem Kinde war's – sogar 'ner rechtschaffenen Frau zum Gespött ein Papier an's Tuch zu stecken! Und recht war es, daß er desertirte; ich hätte es ebenso gemacht; und wenn er kommt, nehme ich ihn bei mir auf, und Denjenigen möchte ich sehen, der es wagt, in meinem Hause – verstehen Sie mich recht, Herr Gensdarmenwachtmeister: in meinem Hause nach ihm zu forschen!«

»Frau Winkler,« hob der Angeredete kleinlaut an, und die alte vertraute Stimme verursachte, daß ich mich noch weiter nach vorn neigte, um einen Blick in das mir abgewendete bärtige Gesicht zu gewinnen. Meine liebe Frau Winkler, Sie sprechen da über Dinge, welche Sie offenbar nicht ganz genau verstehen –«

»Nicht verstehen?« fiel die Winkelliese feindselig ein, und das Plättbrett bog sich unter der Gewalt, mit welcher sie augenscheinlich ein ihrer Phantasie vorschwebendes Gesicht unter dem heißen Eisen verstümmelte, »nicht verstehen? Und das sagen Sie mir? Aber ich begreife, Sie wollen damit andeuten, daß Sie schon viel zu lange in meinem Hause wohnten. Nun, bis zum Ersten ist es ja nicht mehr weit, und die Kündigungsfrist schenke ich Ihnen obenein. O, Herr Gensdarmenwachtmeister, ich verstehe mehr, als Sie ahnen; ich verstehe, daß Sie von den Leuten ohne Namensunterschrift sich als Spion benutzen lassen – ja, als Spion – o, betrachten Sie mich immerhin, als sei ich ein Handwerksbursche ohne Legitimation; Sie fürchte ich ebensowenig, wie Ihren Landrath – und ich wiederhole: Sie haben sich dazu hergegeben, den armen Jahn einzufangen! Aber eh' das geschieht, müssen Sie über meine Leiche stolpern – wenn das arme, arme Kind nur kommen wollte!« Ein krachender Punkt mit dem Bügeleisen auf die Knopflöcher des unglückseligen Hemdes, und ein langer fester Gedankenstrich über die Brustfalten beschlossen den Satz.

»Meine liebe Frau Winkler,« hob der Hänge-Gensdarm wieder demüthig an, »Sie sind solche verständige Frau –«

»Also doch,« meinte die Winkelliese, und ähnlich der zerknitterten Wäsche unter dem Eisen, glätteten sich ihre Leidenschaften, so daß sie gezwungen war, mit dem Schürzenzipfel über ihre Augen hinzustreichen.

»Sogar eine sehr verständige Frau,« bekräftigte der Gensdarm, »und wenn ich etwas an Ihnen lobe, so ist's Ihre treue Anhänglichkeit an den Balde und Ihre große Rechtschaffenheit, wie man nicht leicht eine zweite findet. Deshalb werden Sie aber auch mir erlauben, rechtschaffen zu sein. Ich bin Soldat gewesen, Prrohl-Dannehr! was Sie nicht von sich behaupten können, und lernte Disciplin. Jetzt bin ich vereidigter königlicher Beamter, was Sie ebenfalls nicht von sich behaupten können, und wenn ich den Befehl dazu erhielte, und Sie wären meine leibeigene Mutter –«

Hier wurde er durch die Winkelliese unterbrochen. In meinem Entsetzen, zu hören, daß man die heiligsten Banden treuer, uneigennütziger Zuneigung als Mittel zu meiner Ergreifung zu benutzen gedachte, und durchströmt von einem unsäglichen Wehgefühl, die einzige Stätte, auf welcher eine sichere Zuflucht zu finden ich hoffte, als eine Falle für mich betrachten zu müssen, war ich noch dichter vor das offene Fenster hingetreten. Ich erwog nicht, daß der Schein der Lampe mich voll traf, die Winkelliese also nur die Augen von ihrer Arbeit zu erheben brauchte, um mich sogleich zu erkennen.

Und so geschah es. Kaum aber hatte sie mich erblickt, als das Plätteisen ihrer Hand zu entfallen drohte. Die behäbige Gestalt zitterte bedenklich; das geröthete Antlitz wurde um einige Schätzungen heller, und während Hänge noch mit ihr sprach, gab sie mir mit seltener Geistesgegenwart ein unzweideutiges Zeichen, meine Anwesenheit nicht zu verrathen. Dann kehrte sie sich jenem zu.

»Herr Hänge,« unterbrach sie seine Erklärungen von Dienstpflicht und Diensteid, »ich meine es nicht böse mit Ihnen und Sie mögen vollkommen recht haben, allein jetzt erweisen Sie mir den Gefallen, sich in Ihr eigenes Zimmer zu verfügen – denn ich kann Sie nicht ansehen, ohne an den armen Jahn zu denken, und denke ich an Den, ist's mit meiner Arbeit vorbei,« und als Beweis dafür ergriff sie mit beiden Händen ihre Schürze, und ihr gutes Antlitz verhüllend, begann sie heftig zu schluchzen.

Hänge sah zu ihr empor. Was in seinem Innern vorging, ich konnte es nicht errathen; aber er erhob sich gehorsam und schritt langsam der Thüre zu. Ich selbst war in den Schatten zurückgetreten, behielt ihn aber im Auge. Sein Antlitz war noch immer dasselbe wettergebräunte, nur einige Falten mehr durchfurchten es. Dazu schimmerte sein Riesenschnurrbart weißlich, ebenso das militärisch kurz geschorene Kopfhaar. Den Ausdruck seiner Augen vermochte ich dagegen nicht zu erkennen, denn er trug das Haupt geneigt und stierte vor sich nieder, als hätte er sich gescheut, rechts oder links zu blicken und mehr zu entdecken, als ihm vielleicht lieb. Und dennoch, wie drängte es mich, ihn anzurufen, hinein zu stürzen und ihm um den Hals zu fallen. Die Gefühle, welche man im Convict mit so viel listiger Berechnung abzutödten gesucht hatte, sie waren plötzlich wieder mit verdoppelter Gewalt zu neuem Leben erwacht. Und sie mußten erwachen, indem ich ihn vor mir sah, ihn, nach dessen Anblick ich mich so oft und heiß sehnte, um mein übervolles Herz vor ihm auszuschütten und seinen Beistand zu erstehen. Ja, ich sah ihn vor mir, aber ich mußte ihm ausweichen, ihn fürchten, wollte ich nicht in meine Gefangenschaft und zu einer, alle besseren Regungen vernichtenden Strafe zurückgeführt werden, wollte ich ihm selber das biedere Herz nicht zermalmen, indem ich ihn zwang, in die Stelle meines Kerkermeisters einzutreten.

Die Winkelliese rührte sich unterdessen nicht von der Stelle. Die Thür schloß sich aber kaum hinter dem Scheidenden, da sank die Schürze von ihrem Antlitz. Doch erst nachdem auch die zweite Thür zugefallen war, kehrte ihr altgewohntes reges Leben zurück. Ihre Pantoffel flogen bis mitten in die Stube hinein, und eine Sylphide schlüpfte schwerlich jemals geräuschloser durch Schilf und Rohr, als sie, indem sie zu mir heraus eilte, schweigend und mit fieberhaften Bewegungen meine Hand ergriff und mich hastig über den dunkeln Hausflur und durch das Plättzimmer bis in ihre Schlafkammer hineinzog. Hier aber, wo nur ein durch die offene Thür dringender Lichtschein den engen Raum erhellte, kam sie wieder zur Besinnung. In den nächsten Minuten glaubte ich ersticken zu müssen, so fest schlangen sich die kräftigen Arme um meinen Hals. Es war ein Druck, in welchem sich die ganze mütterliche Angst um mich offenbarte, eine Angst, welche mich ihr nur noch theurer gemacht haben schien. Dazwischen vernahm ich das mit wildem, krampfhaftem Schluchzen abwechselnde: »Jahnchen, Angstkind – mein armes, armes Jahnchen,« daß ich selbst mit in das Weinen hätte einstimmen mögen. Und dann eilte die gute Seele hinaus, mir die Lampe zu holen, mich von oben bis unten zu beleuchten und wieder in neues Jammern auszubrechen über meinen Aufzug und die Spuren einer langen, mühevollen Wanderung. Ich selbst kam nicht zu Worten; ich vermochte nur auf dem für mich hingeschobenen Stuhl Platz zu nehmen und dann und wann mit den alten, unveränderten kindlichen Empfindungen und doch so wehevoll eine der treuen regsamen Hände zu drücken.

»Nun, tröste Dich, Jahnchen,« plauderte die Winkelliese in einem Tone, der heiter klingen sollte und deshalb doppelt ergreifend für mich war; »tröste Dich; Du bist jetzt in Sicherheit und hier herein kommt keine Menschenseele, und müßte ich Dich mit siedendem Wasser und glühenden Bolzen vertheidigen. Hier kannst Du ungestört wohnen, bis sie Deine alte Winkelliese zu Grabe tragen, und dann haben sie Dich längst vergessen; denn heute und morgen sterbe ich noch nicht, das schwöre ich Dir. Des Nachts gönnst Du Dir Bewegung im Freien, und da ist's kein Unglück, wenn Du den Tag über hier in der Kammer sitzest; und Bücher, Papier und Federn verschaffe ich Dir zu Deinem Zeitvertreib; und schlimmsten Falls kündige ich dem Hänge die Wohnung – schwer, wie's mir werden mag, ihn seinem Schicksal zu überlassen – und dann sind wir ganz allein.« »Ist unser Hänge wirklich so gefährlich für mich?« benutzte ich die erste Gelegenheit, zu fragen.

»Der Hänge ist ein Esel,«, eiferte die Winkelliese, »oder vielmehr ein Waisenknabe,« verbesserte sie gleich darauf, »ein rechtschaffener Mann bleibt er indessen trotz alle Dem, ein Mann, welcher seine eigene Mutter in's Spinnhaus transportirte, wenn an ihn der amtliche Befehl erginge. Das nennt man Disciplin. Da ihm nun befohlen wurde, Dich zu arretiren, so bist Du verloren, sobald er Dich wittert; denn solche Gensdarmen haben kein Gewissen, dagegen weit feinere Spürnasen, als gewöhnliche Menschen. Im Uebrigen achtet er mein Hausrecht; und wenn ich es wünsche, betritt er meine Wohnung nicht, ohne vorher anzuklopfen und mein ›Herein‹ abzuwarten; dazu ist er zu gebildet, und dann, Jahnchen, von wegen der Disciplin. Aber mein Gott! Du armes, armes Kind« – und hinaus schoß die gute Seele, um den angefangenen Satz mit dem Klappern von Tellern und Tiegel sehr verständlich weiter zu spinnen, und herein huschte sie wieder, um ihn dadurch zu beendigen, daß sie ein Nähtischchen für mich deckte und die für den biederen Hänge bestimmten dampfenden Speisen vor mich hinstellte.

Da half kein Sträuben, halfen keine Einwendungen. »Der Hänge hat warten gelernt,« damit beschwichtigte sie meine letzten Bedenken; dann setzte sie sich zu mir, und in demselben Athem lachend und weinend, handhabte sie Messer und Gabel und legte sie die ausgesuchtesten Bissen vor mich auf den Teller.

Gerührt beobachtete ich sie. Für Andere zu sorgen und sich selbst darüber zu vergessen, war längst ihr zur andern Natur geworden. Jetzt aber, da sie mich wieder bei sich hatte, kannte ihre Opferwilligkeit keine Grenzen mehr. Ich dachte an die Schwalben draußen in dem Nest oberhalb der Hausthür, welchen ich in meinen Kinderjahren so vielfach zuschaute, wie sie, beständig zwitschernd und plaudernd, ihrem jungen Nachwuchs bissenweise das Beste zutrugen, was ihr luftiges Reich ihnen bot. So auch die gute Winkelliese. Und als endlich ihre ferneren Einladungen erfolglos blieben, da entsann sie sich, daß noch ein Anderer auf ihre milde Hand warte, und: »Herr Hänge! Wenn's Ihnen gefällig ist,« tönte es laut über den finsteren Hausflur.

Und der Herr Hänge kam. Ich sah ihn zwar nicht, allein deutlich unterschied ich das Knistern des Sandes unter seinen grünen Plüschschuhen und das Rücken zweier Stühle, woran sich alsbald das Klirren von Gabel und Messer schloß. Ein kleines Weilchen, und zu der Beschäftigung des Essens gesellte sich ein Gespräch, welches von den beiden alten Hausgenossen mit einer so verbindlichen Zuvorkommenheit geführt wurde, wie vielleicht noch nie während der ganzen Zeit ihres Zusammenseins.

Sie suchten es in Nachgiebigkeit gewissermaßen sich gegenseitig zuvorzuthun, und gleichgültig und nichtssagend, wie die von ihnen berührten Dinge sein mochten, nicht die kleinste Bemerkung wurde von dem Einen in die Welt geschickt, ohne sogleich der vollsten Zustimmung des Andern zu begegnen. Ein Taubenpärchen hätte nicht friedfertiger sein können.

Erst nach manchen langen Umschweifen ermannte sich die Winkelliese zu der unnachahmlich heuchlerisch gestellten Frage: »Wo der arme Jahn zur Zeit weilen mag?«

»Sehr, sehr weit von hier,« hieß es mit ruhiger Würde zurück.

»Vielleicht schon über die russische Grenze?«

»Dann hätte er die verkehrte Richtung eingeschlagen,« meinte Hänge belehrend.

»Nun, dann über die amerikanische, wohin alle Welt geht?«

»Sie haben zufällig das Richtige getroffen,« versetzte Hänge so laut und ausdrucksvoll, als hätte er sich dem schwarzen Nachfolger des braunen Gefreiten oder dem Blech-Ulanen auf der Laube verständlich machen wollen, »Amerika liegt genau in der entgegengesetzten Richtung, und wenn er dahin ginge – Hm, ich habe darüber meine bestimmten Ansichten. Schade, daß ich's dem Balde nicht vorher klar machen konnte. Es wäre von großer Wichtigkeit für ihn gewesen.«

Am Geräusch erkannte ich, daß die Winkelliese aufgesprungen war, offenbar in der Absicht, mich hereinzuführen, als ihr rechtzeitig einfiel, zuvor ihren Miether noch einmal auszuhorchen.

»Wenn er vor Ihnen erschiene?« fragte sie zögernd, »was würden Sie thun?«

»Ich würde meine Pflicht thun,« entschied der Gensdarm wiederum in einem für einen weiteren Umkreis bestimmten Tone. »Ich würde ihn arretiren und zum Landrath transportiren. Seinetwegen kann ich also nur wünschen, daß er nicht vor mir erscheint, sondern nach Amerika geht – und ich habe meine bestimmten Gründe, das zu wünschen.«

Die Winkelliese war still geworden; sie mochte begreifen, daß gegen das Pflichtgefühl des Gensdarmen weder mit Güte noch mit Gewalt etwas auszurichten sei. Nur allmählich ermunterte sie sich wieder; dann aber blieben die wunderlichen Hausgenossen noch lange bei einander, mit ungewöhnlich lauten Stimmen berathend und erwägend, womit ihrem beiderseitigen Lieblinge zu helfen gewesen wäre, hätten die Verhältnisse sich günstiger gestaltet und er nicht bereits in weiter Ferne geweilt.

Ich dagegen saß in der Kammer auf dem bequemen hölzernen Armstuhl, und wie damals, als ich vor meiner Abreise nach dem Convict vom Bette aus die guten Alten heimlich belauschte, rannen auch heute, als ob ich wieder ein Kind geworden wäre, heiße Thränen mir aus den Augen.

Mitternacht war längst vorüber, als Hänge sich endlich nach seiner Wohnung hinüber begab und die Winkelliese sich mir zugesellte. Trotz ihrer ermuthigenden Trostesworte, trotz ihrer heiligen Betheuerungen, daß wir uns nicht von einander trennen würden, und trotz meines guten Willens, ihr ein heiteres Antlitz zu zeigen, während wir gemeinschaftlich im Plättzimmer eine Lagerstätte für mich herrichteten, vermochte ich den Ausdruck der Schwermuth nicht ganz aus meinem Wesen zu entfernen. Die geheimnißvollen Andeutungen des alten Hänge arbeiteten mit Gewalt in meinem Kopfe. Ich wußte, daß mein Ziel auf der anderen Seite des Oceans lag, und das Herz sank mir bei der Vergegenwärtigung der zahllosen Hindernisse, welche sich zwischen mir und jenem aufthürmten, sank mir bei dem Gedanken an die Trennung von Allen, die mir lieb und theuer und welche ich nunmehr, in beständiger Ungewißheit über ihr Geschick, hinter mir zurücklassen sollte.

Die gutherzige Winkelliese hielt mich glücklicher Weise für übermüdet. Aber sie selbst schlief gewiß schon lange, da kämpfte ich noch rastlos gegen die immer wieder auf's Neue auftauchenden düsteren Bilder meiner krankhaft erregten Phantasie.


 << zurück weiter >>