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ERSTER BAND.

ERSTES CAPITEL. DER HÄNGE-GENSDARM.

Nacht ruhte auf Wald und Moor. Kaum merklich wirkte nahe dem Erdboden das Licht des tief verschleierten Mondes. Seufzend strich der Herbstwind durch düstere Tannenwipfel und Laubholzkronen. Mit sich führte er schweren, übel duftenden Nebel. Die von ihm getragenen Dunstbläschen senkten sich eilfertig auf immergrüne Nadeln und welke Blätter. Perlenschnüre bildeten sich an Grashalmen und zarten Spinngeweben. Das herbstliche Rauschen des Laubes war längst erstickt in der durchdringenden Feuchtigkeit. An dessen Stelle trat das eigenthümliche Brausen der in Schauern niederrasselnden Tropfen, sobald ein heftigerer Windstoß die Zweige vorübergehend von ihrer Last befreite. Zu dem Seufzen und Brausen gesellte sich der schrille Ruf des südwärts wandernden Regenpfeifers und der Kronschnepfe. Hin und wieder bellte verdrossen ein Fuchs. Denselben Ausdruck der Verdrossenheit hätte mm dem Geräusch zuschreiben mögen, mit welchem die Hufe eines in dem gewundenen Waldwege bedachtsam einherschreitenden Pferdes das schlüpfrige Erdreich trafen oder in den Regenpfützen plätscherten.

Roß und Reiter fielen in einen einzigen schwarzen Schatten zusammen. Nur mit Mühe unterschied man, daß ersteres, wie um den Weg zu prüfen, vor dem gelockerten Zügel den Kopf senkte. Der Reiter dagegen, eingehüllt in einen weiten Mantel, hatte die Arme verschränkt. Er schien sich um nichts weniger, als um die von dem Pferde verfolgte Richtung zu kümmern. Das eigenthümliche Klirren, mit welchem ein Cavalleriesäbel sich in den Koppelringen wiegte und gelegentlich gegen den Steigbügel oder den bespornten Stiefel schlug, verrieth den Soldaten. Wäre es Tag gewesen, so hätte für einen gewöhnlichen Menschen der Anblick des messingbeschlagenen Helmes, der unter dem Mantel hervorragenden blauen Streifen an den grauen Beinkleidern, oder der grünen, blau eingefaßten Schabracke genügt, unwillkürlich in die Tasche zu greifen und die Jagdkarte, den Hausirschein, das Wanderbuch oder jede andere Legitimation pflichtschuldigst zur gestrengen Einsicht bereit zu halten.

Sonstige besondere Kennzeichen waren: Zwei starke buschige Augenbrauen, die – eine natürliche Folge beständigen wüthenden Stirnrunzelns – sich in einer dicken Falte über der verdächtig gerötheten Nase vereinigten. Ferner und hauptsächlich ein braunrother Schnurrbart von solcher Länge und Stärke, daß Mund und Kinn spurlos in ihm verschwanden; dann aber zwei blaue Augen, die vor vierzig Jahren, als der vierschrötige Hänge-Gensdarm noch friedlich in der groben Küchenschürze seiner ehrenwerthen Mutter an einer Brodkruste die ersten Zähne prüfte, kaum harmloser in die Welt hineinschauten, als jetzt, wenn er in seltsam verbindlichem Tone irgend einem obdachlosen Vagabonden den Paß abverlangte.

Die Bezeichnung ›Hänge-Gensdarm‹ verdankte er übrigens nur dem verzeihlichen Umstande, daß schon seine Vorfahren auf den Namen ›Hänge‹ hörten und man im alltäglichen Leben den Titel, anstatt vor diesen Namen, freundschaftlich, wie auf dem Porzellanschildchen an seiner Thür, hinter denselben stellte und Beides in ein Wort zusammenzog. Die von ihm ausgeführten Exemtionen beschränkten sich wenigstens im Allgemeinen auf nichts Schlimmeres, als daß er ordnungsliebend seinen Rock an einen Nagel, die Tabakspfeife in seinen Mundwinkel und den Futterbeutel vor die Nase seines Braunen hing.

Dieser Braune, durch den militärischen Grad ›Gefreiter‹ ausgezeichnet und ein so kräftiges, wohlgeschultes Pferd, wie nur je eines im königlichen Dienst einen Gensdarm über die Fluren trug, vertrat zugleich die Stelle eines getreuen Freundes bei dem früheren Ulanen-Wachtmeister, zumal dieser unbeweibt geblieben war und daher Niemand besaß, vor dem er sein Herz hätte vertrauensvoll öffnen können. Und zu sagen gab es doch Mancherlei, was nicht vor die Oeffentlichkeit gehörte, indem selbst der am besten gestellte Gensdarm nicht auf Rosen tanzt und mehr oder minder von den Ansichten und Launen seines allmächtigen Herrn Landrath abhängig ist.

So auch in jener feuchten Herbstnacht, als der gute, erprobte Gensdarm Hänge durch den schauerlichen Wald ritt und der hinterlistige Wind gelegentlich eine Ladung schwerer Nebeltropfen von den Tannenwipfeln löste und rasselnd auf seinen hohl klingenden Helm niedersandte.

»Gefreiter, 's ist und bleibt ein harter Dienst,« hob er an, theils zur eigenen Unterhaltung, theils um den Braunen zu erinnern, daß er sich in guter Gesellschaft befinde, »und geschähe es nicht um des Königs Brod und des lieben Landfriedens willen, möchte Gensdarm spielen wer Lust hat. Fünfzehn Thaler monatlich und eine Ration ist zu viel, um dabei zu verhungern, und zu wenig, um anständig leben zu können. Nebenbei ist's keine Kleinigkeit, alle die Nasen und Monita einzustecken, wenn der Herr Landrath selber Dummheiten begangen und sich festgefahren haben.«

Mißtrauisch, wie befürchtend, daß seine hochverrätherischen Aeußerungen von den Bäumen weiter getragen werden könnten, spähte er um sich. Der Braune schnaubte, um die kalten Nebeltropfen aus seinen Nüstern zu entfernen; Hänge aber, das Schnauben auf seine eigene Art übersetzend, fuhr alsbald wieder fort:

»Heute bin ich's indessen vielleicht selber, der die Dummheit begeht; denn nöthig hatten wir's nicht, so spät noch zu satteln. Prrohl-Dannehr! Jeder Schulbube kann, um 'nem Manne des Gesetzes einen Streich zu spielen, den Zettel geschrieben haben. ›Wenn der Herr Hänge ein großes Unglück verhüten will, möge er sich ohne Zeugen und ohne Zeitverlust nach dem Hummelberge im Torfmoor begeben‹; hm, 's klingt recht verdächtig, Prrohl-Dannehr, wie's im Katechismus jedes Fähndrichs obenan steht, namentlich das Herr. Wahrscheinlich 'ne Schmugglergesellschaft oder 'ne Falschmünzerbande und eine außerordentliche Gratification stände uns Beiden in Aussicht. Glückt's, so fahren der Herr Landrath aus der Haut, weil er selber nicht an der Spitze stand. Schlägt's fehl, so ist ein Monitum mir gewiß, weil man ohne Befehl des Herrn Gestrengen handelte.«

Das Pferd schnaubte wieder. Hänge, zufrieden mit der unverkennbaren Billigung seiner Ansichten, klopfte des Thieres Hals, worauf er weiter erzählte:

»Den Wisch hätte ich ihm allerdings zeigen können, allein dann war's vorbei mit dem ›ohne Zeugen‹. Außerdem hätte der Umweg zu ihm mindestens zwei Stunden Zeit gekostet. Mag's also kommen wie's will: Wir sind auf dem Posten, und 's erste Mal wär's nicht, daß wir uns um nichts und wieder nichts 'ne halbe Nacht um die Ohren schlagen.«

Hier blieb der Braune plötzlich auf einer kleinen Lichtung vor einem Kreuzwege stehen. Hänge warf einen Blick um sich, entfernte zuerst mit der rechten Hand, dann mit der linken die Wassertropfen aus den entsprechenden Hälften seines Riesenschnurrbartes, worauf er ›Halbrechts‹ commandirte, ohne indessen mit den auf dem Sattelknopf rastenden Zügeln nachzuhelfen.

Der Braune, den leichten, gleichsam unbewußten Druck des linken Spornstiefels vor dem Sattelgurt, den des rechten hinter demselben fühlend, bog alsbald, wie wenn er Verständniß für das Wort besessen hätte, in die anempfohlene Richtung ein und gleich darauf wölbten sich die hohen Tannenwipfel wieder über Beiden.

Die veränderte Richtung schien eine gewisse Wirkung auf den Ideengang des Hänge-Gensdarm auszuüben; denn er nahm seine Mittheilungen an das Pferd nicht wieder auf. Vielleicht, daß er sich im Geiste mit seiner zwölf Jahre zurückliegenden Ulanenlaufbahn beschäftigte, oder den Zeichen lauschte, welche ihm die Nähe des Moors verkündeten.

Melancholisch strich der Wind zwischen den immergrünen Zweigen hindurch; bald hier, bald dort brauste es geheimnißvoll, als ob ein Heer luftiger Waldgeister in toller Laune die Bäume geschüttelt und hinterlistig einen tüchtigen Regen auf die auseinander stäubenden Genossen niedergesandt hätte. Hinter dem einsamen Reiter lag der Wald in nächtlicher Stille, Vor ihm wurden die Stimmen der Kibitze deutlicher. Die bevorstehende Wanderung und der Abschied von den liebgewonnenen Brutstätten machten sie unruhig. Auch Enten meldeten sich mit lautem Geschnatter. In den Torfgräben auf braunem stagnirenden Wasser rastend, schienen sie ihre Befriedigung über den zurückgelegten Tagesmarsch vorlaut in die Welt hinaus zu schreien, sich gegenseitig vor den unter dem Schutze des Nebels umherschleichenden Raubthieren zu warnen oder die einfältigen Reiher zu verhöhnen, welche, auf einem Fuße stehend, ihr Schläfchen hielten.

Nach wenigen Minuten öffnete sich der Wald und vor dem Reiter lag das umfangreiche Moor.

Obwohl heller, als zwischen den Bäumen, beschränkte sich auch hier die Aussicht auf einen nur geringen Umkreis. Wie ein bleigrauer Vorhang schwebte es über der sumpfigen Niederung. Mit dem Nebel aber vereinigte sich der Duft stehender Gewässer und in Fäulniß übergegangener Pflanzenstoffe. Ein Gifthauch schien sich der verdichteten Atmosphäre beigesellt zu haben.

»Nun, Gefreiter, jetzt zeige, daß Deine Augen jünger sind, als die Deines Herrn,« ermahnte der Hänge-Gensdarm den Braunen. Dann warf er den Mantel von dem Säbelgefäß zurück, und die Zügel ergreifend, ritt er in das Moor hinein.

Er befand sich auf einem von Gräben eingefaßten, etwas erhöhten Wege, der einst mit bedeutendem Kostenaufwands nach den Torfgräbereien angelegt wurde. Seitdem diese aber ausgebeutet und weiter abwärts neue eröffnet worden waren, hatte sich Niemand mehr um den Weg gekümmert. Es war also gerechtfertigt, wenn Hänge den Braunen warnte, nicht in einem der halb zugewucherten morastigen Seitengräben zu versinken oder mit einer der zahlreichen morschen Brücken einzubrechen.

Etwa zehn Minuten mochte er vorsichtig einhergeritten sein, als er vor einer Bodenanschwellung eintraf, welche sich inselartig über die Niederung erhob. Dort stieg er ab, und das Pferd am Zügel führend, schritt er in der alten Richtung so lange weiter, bis zu beiden Seiten von ihm sich mehrere heuschoberähnliche Erhöhungen von dem grauen Nebelschleier trennten. Er kannte sie alle; denn schon mehrfach hatte sein Dienst ihn dorthin geführt, wenn es galt, Wilddieben oder Schmugglern nachzuspüren. Jede einzelne war früher eine Arbeiterwohnung gewesen und höhlenartig aus Pfählen, Zweigen und feuchter Torferde errichtet worden. Bis auf zwei oder drei lagen indessen alle bereits wieder in Trümmern. Ein mattes Licht, welches ihm durch die verdichtete Atmosphäre hindurch aus der Thüröffnung einer der noch erhaltenen Baulichkeiten entgegenschimmerte, belehrte ihn, daß die geheimnißvolle Botschaft ihm nicht ohne besondere Veranlassung übermittelt worden war. Denn wer auf jener verrufenen Stätte übernachtete, der hatte unfehlbar seine triftigen Gründe, und schwerlich die ehrenwerthesten, die Nähe und Gesellschaft anderer Leute zu meiden.

Mit solchen Gedanken und befremdet, daß sein Erscheinen an dem abgelegenen Orte unbeachtet blieb, warf Hänge die Zügel zur Erde – für den Gefreiten die Mahnung, nicht von der Stelle zu weichen – worauf er, um dem klirrenden Schleppen vorzubeugen, den Säbel in die linke Hand nahm und, sich tief bückend, durch die leere, ausgebröckelte Thüröffnung in die Höhle eindrang.

Als er sich aufrichtete, bohrte die Spitze seines Helmes sich in die niedrige Decke, einen Regen von Staub und Ruß auf ihn niedersendend. Durch diesen Regen hindurch aber spähte er argwöhnisch im Kreise, um auf gute Gensdarmenart den Charakter seiner Umgebung, wenn möglich, auf einen einzigen Blick kennen zu lernen.

In dem Winkel, in welchem über einem kaum fußhohen Herde ein dürftiger Rauchfang in's Freie führte, brannte ein kleines, vor Kurzem erst mit dürren Zweigen und Torfrestchen sorgfältig genährtes Feuer. Dasselbe verbreitete nur spärliche Helligkeit; es dauerte daher längere Zeit, bevor Hänge die unstät tanzenden Schatten von den sie erzeugenden Gegenständen zu trennen vermochte.

Vor ihm, hingestreckt auf ein Lager von Haidekraut, ruhte eine weibliche Gestalt. Die eine Hand auf's Herz gelegt, die andere seitwärts auf dem Haidekraut rastend, schien sie zu schlafen. Ein kaum dreijähriger Knabe benutzte ihren Arm als Kopfkissen und schlummerte gesund und fest. In regelmäßigen Pausen hob und senkte sich die kleine Brust unter dem über ihn ausgebreiteten Deckentuch.

Ein Weilchen betrachtete Hänge die rührende Gruppe mit den Augen eines Gensdarmen. Weiber und Kinder hatten dem alten Junggesellen von jeher eine gewisse Scheu, wohl gar Widerwillen eingesteht. Hier aber schwand der Unterschied; er sah nur eine obdachlose Person; vermuthlich eine Landstreicherin, vor sich, und den Säbel mit Geklirr aufstoßend, um die schlafende Fremde zu ermuntern, griff er zugleich nach Brieftasche und Bleistift zur vorläufigen Vernehmung.

Doch die Frau rührte sich nicht; sie schien nicht minder fest zu schlafen, als der Knabe in ihrem Arm.

Hänge blicke schärfer auf das ihm zugekehrte Antlitz. Es war so bleich und regungslos, daß das grausamste Gensdarmen-Herz dadurch zum Mitleid hätte gestimmt werden müssen. Auch der frühere Ulane-Wachtmeister wurde unruhig, und wenn er kurz zuvor durch kriegerisches Rasseln die stille Schläferin zum Bewußtsein ihrer furchtbaren Lage zu bringen suchte, so schlich er jetzt auf den Zehen nach dem Feuer hin, um durch Auflegen von Reisig größere Helligkeit zu erzeugen. Als er sich aber der stillen Frau wieder zukehrte und zu beiden Seiten des leicht geöffneten Mundes einen eigenthümlich starren, schmerzlichen Zug entdeckte, da wußte er, daß der Donner von zehn Feldschlachten sie nicht mehr wach gerufen hätte. Doch gewissenhaft und vorsichtig, wie er in allen Dingen war, bücke er sich tief, und mit dienstlicher Ruhe legte er seine breite Hand auf die marmorweiße Stirn.

»'s ist vorbei mit ihr,« murmelte er, indem er sich wieder erhob und mit der rechten Hand die beiden Schnurrbarthälften ausstrich und die aufgefangenen Nebeltropfen durch eine flinke Bewegung seitwärts in's Feuer schleuderte, »todt, und zwar schon seit Stunden, denn sie ist kalt und starr, Prrohl-Dannehr, besser war's, ich hätte den Herrn Landrath avertiret, denn dies ist offenbar ein verantwortlicher Criminalfall.«

Seine Blicke hafteten auf einem Papierstreifen, welcher auf der Brust der Todten lag. Gehalten wurde er durch das Gewicht eines Goldstückes. Er hob Beides empor.

»Zu meinem Begräbniß,« las er die mit Bleistift flüchtig niedergeschriebenen Worte; »für mich ein Stückchen Erde, für den Knaben die Barmherzigkeit guter Menschen!«

»Das klingt wie Selbstmord,« fügte er mit dem ruhigen Ausdruck einer tadellos arbeitenden Maschine hinzu, »und dennoch – seit Stunden todt und daneben ein Feuer, welches vor einer halben Stunde angeschürt wurde – Prrohl-Dannehr, das ist verdächtig und – ich wünsche, der Herr Landrath wären selber hier.«

Mit peinlicher Sorgfalt legte er Zettel und Goldstück genau wieder so hin, wie sie zuvor gelegen hatten, dann schlug er die Brieftasche auseinander, und die Spitze der Bleifeder zwischen dem Borstengitterwerk des Schnurrbartes hindurch an die Zunge schiebend, traf er Anstalt, ein vorläufiges Signalement aufzunehmen.

»Figur: Anscheinend groß für ein Frauenzimmer,« schrieb er nieder, nachdem er mit wenigen Worten die Umstände vermerkt hatte, unter welchen er die Todte gefunden. »Kleidung: Sehr abgetragen, aber von feinen Stoffen, wie in einer Trödelbude erstanden. Haar: Dunkelbraun und sehr stark. Gesicht: Gewöhnlich.« – Die Hand fuhr mit der Bleifederspitze wieder zwischen den beiden Schnurrbarthälften hindurch. »Gesicht: Gewöhnlich,« sprach er zweifelnd, und sinnend hefteten sich die dienstlich düster beschatteten Augen auf das bleiche Antlitz.

Schon manches liebe Mal während seiner Gensdarmen-Laufbahn hatte der grimmige Hänge Signalements von todten und lebendigen Menschen aufgenommen, und nie war er in Verlegenheit um eine passende Bezeichnung gewesen. Physiognomien von Männern, namentlich von recht verwahrlosten Strolchen beschrieb er am liebsten und meisterhaft bis in die kleinsten Einzelheiten hinein. Bei Frauen und Kindern dagegen, von welchen er als alter Junggeselle gar nichts zu verstehen vorgab, half er sich stets mit dem geschmeidigen und vielsagenden ›gewöhnlich‹ aus. So auch hier. Nachdem aber diese Bezeichnung unter seiner Hand entstanden war, glaubte er, sich einer groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht zu haben, und schnell durchstrich er sie wieder.

»Gewöhnlich – gewöhnlich,« murmelte er, während die Bleifederspitze sich verzweiflungsvoll zwischen seinen Lippen drehte und die buschigen Brauen eine Art Wetterdach über der gerötheten Nase bildeten, »Prrohl-Dannehr, wenn das gewöhnlich ist, giebt's nichts Ungewöhnliches mehr in der Welt.«

In seiner Verlegenheit seufzte er tief auf.

»Ich wollte, der Herr Landrath wären hier,« sprach er vor sich hin, und je länger er das bleiche Antlitz betrachtete, um so mehr glätteten sich die furchtbar dienstlichen Gensdarmenzüge, »nein, das ist nicht gewöhnlich; denn gewöhnliche Frauenzimmer sehen nicht aus, wie – wie geschliffener Marmelstein, und solch' lange schwarze Wimpern findet man ebenfalls nicht alle Tage. Welche Farbe wohl die Augen haben?«

Sich niederbeugend näherte er seine Hand dem stillen Antlitz mit einer Vorsicht, als hätte er, ohne den leicht zerstörbaren Kelch zu schädigen, ein Männertreublümchen pflücken wollen. Leise, ganz leise schob er das eine Lid etwas zurück, dadurch ein erloschenes, tiefblaues Auge bloßlegend.

»Ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich,« lispelte er, wie um die arme Schläferin nicht zu wecken. Dann drückte er sanft das Lid so weit niederwärts, daß die langen schwarzen Wimpern wieder auf der kalten Wange ruhten.

»Augen: Blau,« schrieb er in die Brieftasche, und als sei er dadurch unbefangener in seinem Urtheil geworden, fuhr er fort:

»Mund: Klein. Nase: Gebogen. Alter: Ungefähr dreiundzwanzig Jahre. Besondere Kennzeichen: Hände und Füße ungewöhnlich klein. Gesicht« – wiederum stockte die Hand mit der Bleifeder und wiederum betrachtete er ernst das schöne, Wehmuth erzeugende Antlitz.

»Wenn doch nur der Herr Landrath hier wären,« brachen seine Empfindungen sich endlich wieder Bahn, »er würde vielleicht dictiren: Gesicht: Schön und zart, wie 'n Engel, und dabei ein ganzes Magazin voll des bittersten Herzeleids auf demselben. Hm, hm, arme Frau, auch Dein Gesicht muß einst frisch und heiter gewesen sein; und nun liegst Du da, als hätten Noth und Elend Dir's Herz abgestoßen.«

Er klirrte mit dem Säbel, strich den feuchten Schnurrbart, und unter der Bleifeder entstand zum zweiten Male: ›Gesicht: Gewöhnlich.‹

Nachdem auf diese Art der Hänge-Gensdarm den Sieg über den Wachtmeister Hänge davongetragen hatte, kehrte er sich dem Knaben zu, die ihn verhüllende Decken behutsam zurückschlagend.

Friedlich schlummerte das Kind im Arme des Todes. Die lodernden Flammen schmückten das lebenswarme Gesichtchen mit glühenden Reflexen, den vollen runden Formen in erhöhtem Grade den Charakter strotzender Gesundheit verleihend.

Die Bleifeder schwebte über der Brieftasche des Hänge-Gensdarm; bevor sie aber das Papier berührte, nahm der Wachtmeister Hänge den Helm von seinem Haupte, worauf er sehr eifrig das kurze Borstenhaar zuerst hinter dem einen, dann hinter dem andern Ohre rieb.

»Die Sache geht nicht,« fuhr er plötzlich, wie zu der todten Frau sprechend, auf und der Helm bedecke wieder so herausfordernd seinen Scheitel, und die Schuppenketten schmiegten sich so kriegerisch an seine Wangen, als wäre in der nächsten Minute das Signal zum ›Einhauen‹ zu erwarten gewesen; »nein, 's geht nicht, Prrohl-Dannehr! Wachte das Kind auf und fände seine Mutter todt – und die Mutter ist's unstreitig – so liefe es davon, um vor Schreck zu sterben oder in 'nem Torfgraben elendiglich zu Grunde zu gehen. Wer aber für das Malheur verantwortlich gemacht würde, das wäre kein Anderer als der Gensdarm Hänge. Aber was thun? Selber kann ich das Ding nicht tragen.«

Wie von einem guten Gedanken beseelt, tupfte er sich mit dem Finger auf die Stirn, dann sich kurz umkehrend, trat er in's Freie hinaus.

»Ist Jemand hier herum, der Auskunft über die todte Frau und deren Kind zu geben vermag?« rief er laut in die Nacht hinein.

Nicht einmal ein Echo antwortete. Nur Kibitze meldeten sich in der Ferne und vereinzelte Enten.

»Ich frage zum zweiten Male!« fuhr er drohender fort, »denn es muß Jemand in der Nähe weilen! Von selbst brennt kein Feuer, und ein Todter legt keinen Zettel auf die eigene Brust!«

Wiederum nur geisterhafte Kibitzrufe.

»Keine Antwort?« schloß der Hänge-Gensdarm nunmehr unbarmherzig; »gut, so werde ich das Weitere veranlassen. Ueber den Wurm wird ex officio verfügt werden; außerdem hat das Gericht einen langen Arm und weiß Jeden zu finden!«

Todtenstille ringsum. Ein stärkerer Windstoß wirbelte den Nebel um die verlassenen Heimstätten. Die Kibitze schienen zu klagen. Wie um seine Hartherzigkeit zu stählen, rasselte Hänge mit dem Säbel; einige aufmunternde Worte richtete er an den geduldigen Braunen, dann verschwand er wieder im Innern der Hütte.

»Du mußt mit,« redete er das schlummernde Kind unwirsch an. »Du mußt mit,« wiederholte er leiser, sogar sanft, als der Knabe im Schlafe zusammenschrak. »O, du lieber, guter Gott, wären doch der Herr Landrath selber hier!« seufzte er kleinlaut, »der hat Familie und weiß mit Kindern umzugehen.«

Seine Blicke ruhten wieder auf dem abgehärmten Antlitz der schönen todten Frau. Dasselbe übte einen seltsamen Zauber auf ihn aus. War ihm doch, als ob bei der flackernden Beleuchtung die bleichen Lippen sich regten, ihn um Barmherzigkeit anflehten für den verwaisten Liebling.

»Die Winkler fährt aus der Haut,« sprach er nach einer Weile mit unverkennbarer Scheu vor sich hin; »allein ich werde ihr zeigen, was ein Mann im Dienste seiner Majestät des allergnädigsten Königs bedeutet,« ertönte es etwas lauter und entschlossener durch den düsteren Raum.

Dann kniete er nieder. Seine harte Hand glitt schmeichelnd – offenbar eine unwillkürliche Bewegung – über die erkalteten Wangen der jungen Todten, worauf er zwar entsetzlich unbeholfen, jedoch überaus behutsam den Knaben in die über ihn hingebreitete Decke hüllte.

Das Kind war übermüdet oder auch gewohnt, im Schlafe getragen zu werden. Es leistete daher keinen Widerstand und duldete sogar mit einem Ausdruck traumhafter Zufriedenheit, daß der Hänge-Gensdarm es auf den Arm nahm und den braunen Lockenkopf an seine Schulter lehnte.

»Armes Weib,« richtete er noch einmal seine Worte an die Todte, »dieser Wurm, mag er Dein Kind sein oder nicht, kommt in gute Hände, – oder – ich behalte ihn selber –,« er erschrak, als hätte er mehr gesagt, wie er verantworten konnte. Wie seine Verlegenheit verbergend, schritt er nach dem Feuer hinüber. Um jede Gefahr für die zum größten Theil brennbaren Torfwände zu beseitigen, scharrte er die noch hellglühenden Kohlen mit dem Fuße in ein rundes Häufchen zusammen und mit etwas gedrückter Haltung begab er sich in's Freie hinaus.

»Ich wollte, der Herr Landrath wären hier,« flüsterte er über den schlaftrunkenen Knaben hin, indem er ihn sanft auf den Rand der niedrigen Hüttenbedachung legte.

Der Braune war zu ihm herangetreten. Leicht schwang er sich in den Sattel. Ein Weilchen ordnete er an seinem Mantel und Säbel, dann ritt er dicht neben die Hütte, und sich seitwärts überlehnend, hob er den Knaben vor sich auf's Pferd.

Dieser schlief noch immer fest. Ohne Schwierigkeit vermochte er daher ihn bequem zu betten. Der kleine Körper ruhte in halbsitzender Stellung auf seinem Schooße. Den rechten Arm hatte er um ihn geschlungen, dadurch dem Haupte einen sicheren Halt gewährend. Gegen den feuchten Nebel aber schützte das schlummernde Kind der behutsam über es hingezogene und zugeknöpfte rauhe Soldatenmantel.

»So wird's gehen, Gefreiter, so wird's gehen,« sprach Hänge dem Braunen freundschaftlich zu, sobald dieser sich langsam in Bewegung gesetzt hatte, »und in anderthalb Stunden sind wir zu Hause. Aber die Winkler, die Winkler,« seufzte er tief aus schwer bedrängtem Herzen, »wenn das Weib nur eine Probe von Achtung vor des Königs Majestät Uniform hätte! Das wird eine Attacke werden, Prrohl-Dannehr!«

In seiner Verlegenheit hätte er gewiß gern die kurzen Borsten hinter beiden Ohren zugleich gerieben; allein in der linken Faust hielt er die Zügel, und die rechte hatte genug zu thun, den schlafenden Knaben vor unsanften Erschütterungen zu bewahren.

Gleich darauf war er auf dem alten Torfwege im grauen Nebel verschwunden.

Gedämpft hallte der Hufschlag des vorsichtig einherschreitenden Pferdes noch zu den Hütten herüber, da schlüpfte eine Gestalt geräuschlos in denselben Raum hinein, welchen der Hänge-Gensdarm eben erst mit dem Kinde verlassen hatte. Eine kurze Bemühung, und die Flamme loderte wieder empor.

Ein Mann, schlank, jedoch kräftig gebaut und gekleidet in einen abgetragenen Reiseanzug, trat neben die todte Frau hin, sorgfältig darauf achtend, daß sein Schatten sie nicht bedeckte, also auch ihn selber die unstäte Beleuchtung traf. Eine graue Jagdmütze war tief über das schwarze Haar und die weiße Stirn gezogen. Das todtbleiche Antlitz mit dem schwarzen, ungeordneten Vollbart hatte er tief geneigt, die Hände, unverkennbar nicht an schwere Arbeit gewöhnt, vor sich gefaltet. Lange stand er so da, die dunkeln Augen regungslos auf das im Tode noch so schöne Antlitz gerichtet. Die Lippen hatte er zusammengepreßt, wie um mit Gewalt einen lauten Ausbruch seiner Empfindungen zu unterdrücken.

Aber gerade in dieser beängstigenden Regungslosigkeit offenbarte sich ein so tiefes, unheilbares Seelenleiden, eine so unendliche Last der Sorgen und des Grames, als hätte er sich am liebsten neben die allen irdischen Qualen entrückte junge Frau hingestreckt, um vereinigt mit ihr, unerkannt und unbeweint, von fremden Händen der letzten Raststätte auf irgend einem beliebigen Friedhofe übergeben zu werden. Seine Augen blieben trocken, aber sie rötheten sich, wie um eine Thränenfluth über die geliebte Leiche zu ergießen.

Plötzlich durchlief ein Schauder seine Gestalt. Sich mit einer heftigen Anstrengung emporrichtend, stierte er wild um sich. Seine Zähne knirschten aufeinander, die eine Hand erhob sich über die Todte hin, wie ein Phantom von ihr abwehrend. Ein Fluch schwebte auf seinen Lippen; bevor derselbe aber laut wurde, brach er wieder in sich zusammen.

»Nicht hier, nein, nicht hier in Deiner Nähe,« flüsterten die bebenden Lippen; dann kniete er nieder. Hastig ergriff er die hagere weiße Hand, welche auf dem erkalteten Herzen ruhte. Der Arm war bereits ungelenkig geworden; nur schwerfällig folgte er dem auf ihn ausgeübten Druck. Er betrachtete das Maal, welches ein Trauring auf dem vierten Finger ausgeprägt hatte.

»Nicht einmal dies Liebeszeichen durfte ich Dir lassen,« sprach er leise, wie unbewußt. »Es würde Dich verrathen und wer weiß in wessen Hände übergehen. Und es kann die Zeit kommen, in welcher ich gezwungen bin, es für Brod hinzugeben. Das Maal ist deutlich genug, um die ›arme Unbekannte‹ gegen einen bösen Verdacht zu schützen, Deinen Knaben aber vor jedem Makel zu bewahren; darum verzeihe mir. Und leben muß ich – sogar lange leben, um an Andern zu sühnen, was ein unbarmherziges Geschick an Dir verbrach.«

Sanft legte er die Hand auf ihre alte Stelle zurück, und sich noch weiter über die Entschlafene hinneigend, nahm er, wie es liebkosend, deren bleiches Antlitz, zwischen seine Hände. Kein Laut verließ dabei seine Lippen, aber tief seufzte er und schwer, so schwer, als hätte er verzweiflungsvoll gegen eine Ohnmacht angekämpft. Dann küßte er den bleichen Mund zweimal innig und lange. Diese Berührung schien ihm seine volle Kraft zurückzugeben, denn er erhob sich mit einer heftigen entschiedenen Bewegung. Einen flüchtigen Blick warf er auf den durch das Goldstück beschwertes Papierstreifen und festen Schrittes begab er sich nach dem Feuer hinüber. Wie der Hänge-Gensdarm vor ihm gethan, so beschränkte auch er die Gluth auf einen allmählich erkaltenden Aschenhaufen, und ohne sich nach der in der Dunkelheit verschwimmenden Todten umzuschauen, entfernte er sich.

Draußen wendete er sich sogleich der äußersten Grenze der alten Arbeitercolonne zu. Vor einer der letzten der zerfallenen Hütten angekommen, trat er in einen von dem schwarzen Erdreich gebildeten Winkel. Als er wieder im Freien erschien, beschwerte eine an breitem Riemen befestigte Reisetasche seine Schulter. In der rechten Hand führte er einen Wanderstab; die Linke unterstützte eine Last, welche er mittelst eines Plaids vor sich mit seinem Oberkörper vereinigt hatte. Mehrfach neigte er sein Haupt zu derselben nieder, besorgnißvoll lauschend auf den Athem eines Kindes. Ohne Säumen schlug er den einzigen, aus dem Moor führenden Weg ein. Sein Schritt war schnell und fest, gleichsam der Ausdruck des eisernen Willens, welcher ihn beseelte. Bald aus dieser, bald aus jener Richtung meldeten sich die wanderlustigen Kibitze; er achtete nicht auf ihren Ruf, noch auf das vorlaute Geschnatter der Enten. Seine linke Hand ruhte so auf der seinen Nacken beschwerenden Last, daß er den Schlag eines kleinen, kleinen Herzens deutlich fühlte.

Der Hänge-Gensdarm war unterdessen tief in den Wald eingedrungen, mit größerer Vorsicht, denn jemals, das Roß auf dem schlüpfrigen Wege zügelnd und heimwärts lenkend. Er hatte nicht einmal Zeit, die mit besonderer Vorliebe auf seinen triefenden Schnurrbart niederschlagende Feuchtigkeit zu entfernen. Ueber ihm brauste und seufzte es in den sich schwerfällig wiegenden Tannenwipfeln. Vor den geistigen Blicken des alten Reiters schwebte das trübe Bild einer schönen todten Frau.

Er, der sonst mit unbesiegbarer Scheu jeder Berührung mit Kindern auswich, hielt jetzt selbst ein solches vor sich auf dem Sattel. Eine Arbeit, welche für die geringste Tagelöhnerfrau ein Spiel gewesen wäre, verursachte krampfhaftes Ziehen und Reißen in dem Arme des ängstlichen alten Junggesellen. Aber er klagte nicht. Nur gelegentlich fand ein schwerer Seufzer seinen Weg zwischen dem Borstengitterwerk vor seinen Lippen hindurch, und: »Die Winkler, die Winkler; das wird eine entsetzliche Attacke werden,« tönte es leise und verzweiflungsvoll über die triefende Mähne seines geduldigen Braunen hin.


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