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NEUNTES CAPITEL. WOCHEN, MONATE UND JAHRE.

Ein Tag wie Jahre und Jahre wie ein Tag!

Aehnlich einem einförmigen Gewebe, in welchem keine Zeitrechnung möglich, dehnen jene Wochen, Monate und Jahre meines Aufenthaltes im Hause des Antiquars sich vor den rückwärts schweifenden Blicken aus.

Wie der aus unbegrenzter Freiheit hinter eiserne Stäbe gebannte Vogel die Lieder vergißt, welche er einst aus voller Brust in den sonnigen Aether hinaussang; wie der in endlosen Steppen aufgewachsene Mustang, indem er dem schmerzhaften Druck des auf der heißen Zunge ruhenden Eisens Folge geben und den Reiter tragen lernt, in vielen Fällen den feurigen Geist einbüßt, welcher seinen Gliedern so lange Kraft, seinen Bewegungen Anmuth verlieh, so verwandelte ich mich in dem neuen Verhältniß binnen kurzer Frist in eins jener bedauernswerthen Geschöpfe, deren Leben ein Vegetiren, ein nach fremdem Willen geregeltes Drehen eines, einer Maschine eingefügten unscheinbaren, wohl gar überflüssigen Rädchens genannt zu werden verdient. Von der ungebundensten Freiheit zu endlosem harten Zwange verdammt, nie aufgemuntert durch freundliche Blicke oder Worte der Theilnahme und des Lobes, nur geführt und gelenkt durch unerbittliche Strenge und schwere Strafandrohungen welkte schnell die kindlich frische, über meine Jahre weit hinausreichende Willenskraft. Ein weiches, zu jeglichem Widerstande unfähiges Stück Wachs in den mit kluger Voraussicht und nach bestimmten Formen knetenden und modelnden Händen, verlor ich den Muth und die Lust, mich zu fragen, ob ich glücklich oder unglücklich sei. Nur dem angeborenen gesunden Keim, welcher sich im heimatlichen Dorfe unter den eifersüchtig wachsamen Augen des getreuen Hänge und der resoluten Winkelliese überraschend kräftig entwickelte, verdankte ich, daß der Körper, obwohl der ohne Unterlaß geknechtete eigene Gedanke endlich in Scheintod versenkt wurde, nicht ebenfalls zu einem Schatten zusammenschrumpfte.

Ein Tag wie Jahre, Jahre wie ein Tag!

Trübe Dämmerung umhüllt jenen Zeitabschnitt; trübe Dämmerung, spärlich durchwoben von Lichtpunkten, bei welchen heute die Gedanken gerne rasten, die damals aber das ganze Leben bedeuteten. Die Tage knabenhafter Spiele, die Tage, in welchen der Körper zu eng für übersprudelnden Jugendmuth zu werden scheint, der Jüngling in tollem Einherstürmen die wachsende Kraft seiner Glieder erprobt und übt, die lernte ich nie kennen. Unter dem auf mich ausgeübten Druck wagte ich kaum, sie für mich herbeizusehnen oder Andere um ihre Freiheit zu beneiden. Mit Rücksicht auf mich selbst waren Ursachen und Wirkung mir unbekannte Dinge. Die eiserne Strenge, unter welcher ich unter anderen Verhältnissen geseufzt hätte, wurde mir zur Gewohnheit; ebenso ein unermüdlicher Fleiß, welcher ursprünglich kaum in meiner Natur lag, bei meiner klaren Fassungsgabe aber bewirken, daß ich alle Mitschüler nicht nur weit hinter mir zurückließ, sondern auch diejenigen bald überholte, welche anfänglich meines Alters und meiner geringen Kenntnisse halber mich verhöhnten.

Ein Tag wie Jahre; Jahre wie ein Tag!

Die blassen, scheuen Gestalten, deren Anblick mir einst Furcht einflößte, mich mit bangen Ahnungen erfüllte, wie bald zählte ich zu ihnen! Die natürliche Eitelkeit des heranwachsenden Jünglings wurde erstickt durch häßliche, gewöhnlich ausgewachsene Kleidungsstücke; verbannt blieben Freundschaftsbündnisse durch den stets rege gehaltenen, mit schlauer Berechnung geschürten Argwohn, mit welchem Einer den Andern betrachtete. Denn wo nur hinterlistigen Angebern und Denuncianten Lob gespendet, außerdem Jeder streng angewiesen wird, mit nie erschlaffender Aufmerksamkeit über die geheimsten Regungen seiner Mitschüler, sogar über die im Traume gesprochenen Worte zu wachen, wie könnte da freundliches Vertrauen seinen Platz finden? Statt dessen wuchern üppig Haß, Neid und Rachsucht, die wiederum in ihrer Wechselwirkung einen unbeschreiblichen Grad von Selbstbeherrschung und Heuchelei erzeugen.

So wurde auch mein Fleiß getragen von sträflichem Ehrgeiz. In demselben Maaße aber, in welchem in mir das krankhafte Sehnen erstarkte, dereinst verachtungsvoll auf meine früheren Peiniger niederzublicken, verschärfte sich mein Verstand, erhöhte sich mein Eifer. Wohl empfand ich – was ich indessen keiner Seele anzuvertrauen wagte – die gänzliche Vernachlässigung der Länderund Völkerkunde und vor Allem der mich zauberisch verlockenden Naturwissenschaften, allein ich empfand sie weniger bitter, weil ich reichen Ersatz in der Musik zu finden meinte. Und selbst auf diesem Felde wurde der jugendliche, sich nur noch matt sträubende Geist gefesselt! Denn kaum entdeckte man die vielleicht ungewöhnlichen Anlagen, kaum offenbarte sich meine Neigung, die lieblichsten und zugleich wehmüthigen Erinnerungen an meine sorglosen Kinderjahre in bald rauschende, bald süß verhallende Melodien zu kleiden, da war es nur noch die Orgel, deren freie Benutzung man mir gestattete, um in feierlich getragenen Accorden und Chorälen gewissermaßen die letzten Spuren einer glücklicheren Vergangenheit, die letzten heiteren Hoffnungen zu vernichten und düstere Betrachtungen an deren Stelle zu setzen.

Wenn meine Altersgenossen die wenigen Mußestunden, welche auch ihnen nur gegönnt waren, in heimlich und daher um so strenger überwachten Scheinspielen verbrachten, schloß ich mich von ihnen ab. Ich liebte es, ungestört über meinen Büchern zu sitzen oder in gewaltig brausenden Melodien mich gleichsam zu berauschen. Ach, diese Melodien, sie trugen den unheimlichen, drohenden Charakter meiner Umgebung; sie wurden endlich der getreue Ausdruck meiner eigenen kränkelnden Empfindungen. Auf ihnen schwamm träumerisch der gelähmte Geist; planlos wiegte er sich auf den Schwingungen der Töne, wo ihm das Denken mit unbegreiflich feiner Berechnung abgewöhnt und demnächst unter logisch erscheinenden Deuteleien untersagt worden war.

So gelangte ich allmählich und, wie ich fälschlich meinte, aus mir selbst heraus, dahin, wohin man mich haben wollte, wohin ich aber weder durch freundschaftliche Vorstellungen, noch durch Gewaltmaßregeln hätte gebracht werden können: Ich sehnte mich danach, den Aufenthalt im Hause des Antiquars mit dem in dem Convict zu vertauschen; nicht mehr als halbes Mitglied, als Stiefmitglied betrachtet, sondern mit meinen Mitschülern auf die gleiche Stufe gestellt zu werden. Meine Aufnahme aber war gleichbedeutend mit dem Beginn der beiden Probejahre, nach deren Ablauf ich zu den einfachen Gelübden zugelassen werden sollte. Stillschweigend hatte man mich zum Geistlichen bestimmt und in die Bahnen eines solchen hineingedrängt; ohne Murren und Klagen beugte ich mich unter das mir auferlegte, gleichsam unmerklich schwerer werdende Joch. Ich nahm es hin, wie etwas Selbstverständliches, wie den Wechsel der Jahreszeiten, wie das Anbrechen des Tages, wie das Hereinsinken der Nacht. Mich kümmerten weder der Zweck noch der Inhalt der Gelübde; zu sehr war ich gewöhnt, Andere für mich denken, entscheiden zu lassen. Man schmeichelte meinem Ehrgeiz, indem man die Zulassung als einen seltenen Vorzug hinstellte, und das war mir genug. Ebenso gleichgültig war mir die Art der Gottesverehrung. Meine Religion bestand in einem mir in unbestimmten Formen vorschwebenden höheren Ziele, in dem dumpfen Vertrauen, daß die Zeit Alles aufklären müsse, und in der heimlichen Hoffnung, vielleicht dereinst selbst diejenigen zu tyrannisiren, zu welchen ich jetzt nur scheu emporzublicken wagte.

Zur Beichte wurde ich, unter wiederholter Hinweisung auf ›geistige Freiheit‹ nicht getrieben. Man sah voraus, daß ich eines Tages diesen, dann aber um so wichtigeren Schritt aus mir selbst heraus thun würde. Man begnügte sich damit, daß ich nie eine Messe versäumte, mich bekreuzigte, wie Alle in dem Convict, vom Director herunter bis zum skelettirten Pedell. Daß ich, von Mißtrauen erfüllt, von meinen nicht minder argwöhnischen Mitschülern mich absonderte, erfuhr nie den leisesten Tadel; im Gegentheil, mittelbar billigte man meinen Hang zur Einsamkeit und die Wortkargheit, welche ich sowohl in dem mir widerwärtigen Familienkreise des Antiquars, wie in der Anstalt selbst in den Freistunden zur Schau trug. Und so mußte denn nothgedrungen der Jugendfrohsinn Abschied von mir nehmen, so daß ich schließlich nur noch vegetirte, wie eine am finsteren Ort bleich und mechanisch dem fernen Licht entgegenstrebende, vereinsamte Wanze, deren verkrüppelte Blüthenknospen lange vor ihrer Entwicklung sterben und abfallen. Aber gerade dadurch wurde es erleichtert, meine Phantasie beständig zu überreizen, bis sie endlich nur noch im Stande war, krankhafte Bilder zu entwerfen, sich an Ueberschwänglichem, Unvernünftigem, wenn auch Gleißendem zu ergötzen.

Wie oft, wie sehr oft, wenn übermannt von Widerwillen gegen des heuchlerischen Antiquars christlich-fromme Angehörigen – die arme Sophie zählte ich nicht mehr zu diesen – oder erfüllt von Verachtung alles Dessen, was sonst das Blut in den Adern eines unverdorbenen Jünglings schneller umtreibt, schlich ich nach der Kirche hinüber, in welche ich auf einem Umwege durch ein mir willig geöffnetes Pförtchen hineingelangte, und wie oft blieb ich nach beendigtem Gottesdienst allein zurück, um mich ungestört der stillen feierlichen Einsamkeit in dem umfangreichen Raume zu erfreuen!

Stundenlang verharrte ich dann wohl auf derselben Stelle. Wie von einem Rausch umfangen, erzeugt durch den betäubenden Weihrauchduft, vergegenwärtigte ich mir die auf den Knieen liegenden Zuhörer und den Segen spendenden Priester mit dem Allerheiligsten in den hoch erhobenen Händen. Meine Augen waren noch geblendet von den glitzernden, farbenreichen Meßgewändern, das Ohr noch erfüllt von den tiefen, feierlichen Tönen der Orgel – welche selbst zu spielen man mir zuweilen sogar großmüthig gestattete – erfüllt von dem geheimnißvollen Klingen des Glöckleins und dem ergreifenden › O, Santissima!

Daß ich auch hier strenge überwacht wurde, woher hätte ich es wissen sollen? Woher ahnen, daß sich an meine Person wichtigere Beziehungen zu Anderen knüpften? Ich beobachtete wohl mehrfach den einen oder den andern Priester, welcher im abgelegensten Theil des Seitenschiffs in inbrünstigem Gebet kniete; doch wie ich für ihn nicht auf der Welt zu sein schien, gewöhnte auch ich mich leicht an seine Gegenwart, so daß er mich in meinen Betrachtungen nicht störte. Sein Beispiel wirkte sogar erhebend auf mich ein; ich bewunderte die Selbstverleugnung eines Mannes in der Blüthe seiner Kraft, wie er sich demüthigte und seinen einzigen Genuß im stillen Gebet suchte. Ich wollte ihm nacheifern, vermochte indessen nur, mich zu einer Stimmung zu erheben, wie sie der Genuß des Opiums erzeugen soll. Und dennoch, wie süß war dieser Rausch, wie verlockend und tröstlich erschien er mir im Vergleich mit den Stunden, welche ich außerhalb der Kirche im Verkehr mit anderen Menschen lebte!

Still kauerte ich in einem Winkelchen der Bank, von wo aus ich das Hauptschiff mit dem Altar und dem Schrein des Allerheiligsten übersah. Meine Blicke streiften ahnungsvoll die düsteren Beichtstühle, in welchen so manches bedrängte Gemüth vor dem strafenden und verzeihenden Priester reuig das Bekenntniß seiner Fehler und Sünden ablegte.

Von den Beichtstühlen aber wanderten die Blicke nach dem Hochaltar hinüber, wo sie auf dem Bilde der schmerzensreichen Gottesmutter hafteten. Drei Schwerter hatten ihr Herz durchbohrt. Ihr Antlitz, beschirmt von einer goldenen Strahlenkrone und eingerahmt von goldigem Haar, neigte sie den Bänken zu. Ein eigenthümlicher Ausdruck irdischer Verzückung ruhte in ihren großen Augen; ich glaubte, daß sie mir bis in's Herz hinein schauten, eine helle Flamme in demselben entzündend. Ich hätte zu ihr hinstürzen, meine glühenden Lippen auf die kalte Leinwand pressen und in dieser, meine feurigste Verehrung bekundenden Stellung in's Jenseit hinüberschlummern mögen. Mit ähnlichen Blicken, meinte ich, daß Sophie, meine unglückliche Freundin, zuweilen in meiner Seele forsche, wenn sie ernst sich mir zuneigte, mich belehrend und tröstend. An dem lebenden Menschenbilde wie auf der starren Leinwand, hier wie dort waren diese Blicke mir ein Räthsel.

Aus den Wolken, zwischen welchen die heilige Jungfrau schwebte, lugten goldgelockte Engel. Sie erinnerten mich an die beiden holden Zwillinge, wenn sie tändelnd zwischen dem lichtgrünen Buschwerk hervorbrachen und die Umgebung der Försterei mit ihrem Jubel erfüllten. Wo waren jene Tage geblieben? Traumartig schwebten sie mir vor, bis ich endlich mich daran gewöhnt hatte, ihrer nur als eines lieblichen, unwiederbringlichen Traumes zu gedenken. Aber auch das Gespensterschloß vergegenwärtigte ich mir und dessen seltsame Bewohner. Indem die Jahre vorüberrauschten und meine Anschauungen sich, wenigstens nach einzelnen Richtungen hin, klärten, ward es mir erleichtert, eine Art Deutung für das Abenteuer zu finden, welches ich in den düsteren Schloßräumen erlebte, für die Scenerie, welche ich von dem halb verschütteten Kanal aus beobachtete.

Doch meine Theilnahme für jene geheimnißvollen Ereignisse und die hauptsächlich dabei betheiligten Personen stumpfte im Laufe der Zeit ab. Sie wurden des Wunderbaren in demselben Maße entkleidet, in welchem der meine Vergangenheit verschleiernde Vorhang sich verdichtete.

Die Stunden, welche ich einsam in der Kirche verbrachte, wer vermöchte sie zu zählen? Wie aus einer tiefen Betäubung erwachte ich zuweilen, wenn die sinkende Sonne die hochgewölbten Bogenfenster traf und die aus bunten Glasscheiben zusammengefügten Heiligenbilder hauchartig auf die gegenüberliegenden Säulen und Wandflächen zauberte.

Und auch dann noch trennte ich mich schwer. Die feierliche Stille, die farbigen Lichtreflexe und vor Allem der sinnberauschende Weihrauchduft wirkten unwiderstehlich auf mich ein.

Der Unterschied zwischen dem Aufenthalt in den geweihten Räumen und dem düsteren Hause des Antiquars, zwischen den lieblichen Engelsköpfen auf den Bildern und den Mitgliedern jener christlich-frommen Familie war zu groß. O, man wußte genau, was man that, als man das Pensionat, die Lehranstalt und die Kirche gleichsam als drei Pole um mich her aufstellte. Von zweien mußte ich gewaltsam abgestoßen werden, um von dem Dritten dafür desto sicherer und fester angezogen zu werden.

Wie innerhalb der Kirche, war ich auch draußen noch der Wirkung unterworfen, welche namentlich die bildlichen Darstellungen solcher irdisch Geborenen auf mich ausübten, welche durch einen Martertod für ihren Glauben sich neben der ewigen Seligkeit auch die Glorie der Heiligkeit erwarben. Denn heimwärts wandernd hegte ich nicht selten den unbestimmten Wunsch, daß unsere Gasse noch enger zusammenschrumpfen und endlich das Blau des Himmels ganz von mir ausschließen möchte. In den Laden eintretend, reichte ich, mich gleichsam selbst marternd, dem mich spöttisch angrinsenden Nickel versöhnlich die Hand. Aber eine Lüge war dies zur Schau stellen milder Empfindungen. Je tiefer ich mich zu erniedrigen glaubte, um so nahrhaftere Speise reichte ich meiner Verachtung. Der fanatische Genuß der Selbstbestrafung, er war ursprünglich ein Schwelgen in der eigenen Erhabenheit, ein bedachtsames Schüren des unauslöschlichsten Hasses. Ebenso begrüßte ich höflich Herrn Carus Splint, der hochmüthig die zwei Dutzend orangegelber Haare auf seiner Oberlippe drehte und mich scheinbar unabsichtlich auf den Fuß trat, weil ich mir der allzurunden Henriette tödtliche Feindschaft zugezogen hatte. Diese Feindschaft begründete sich aber darauf, daß ich die Aermste durch mein zufälliges Erscheinen wieder einmal in einer zärtlichen Begegnung mit Herrn Splint störte. Wie mir Sophie anvertraute, hatte sie gerade in demselben Augenblick einen wirklich bindenden Antrag erwartet, der nunmehr, bei der erprobten Schüchternheit des braven Geschäftsführers, abermals auf wer weiß wie lange hinausgeschoben worden.

Ein böses Geschick schien mich förmlich dazu auserkoren zu haben, immer nur dann als Störenfried zwischen die beiden Liebenden zu treten, wenn das über ihr irdisches Glück entscheidende Wort fallen sollte. Denn Henriette wurde von Jahr zu Jahr runder, Herrn Splints fadenscheiniger Bart immer borstenartiger, und der Antrag ließ nichts desto weniger fortgesetzt auf sich warten. Daß er mich aber so heftig auf den Fuß trat und spöttisch meine Verzeihung nachsuchte, war weniger eine Offenbarung seiner eigenen Empfindungen, als derjenigen Henriettens, welche ihn ohne Zweifel um diese kleine Gunstbezeugung gebeten hatte. Den mir verursachten Schmerz ertrug ich selbstverständlich mit stoischer Ruhe, und als ich erst wieder auf dem Boden neben Sophie auf unserm selbsterbauten Gerüst saß und meine Blicke über die verworrenen Dächer fort bis zu den fernen waldigen Höhen hinüberschweiften, da hatte ich den ganzen Vorfall längst vergessen.

Die Stunden auf dem morschen Altan sind mir unvergeßlich geblieben. Sie bildeten meine einzige wahre Erholung, wogegen der längere Aufenthalt in der stillen Kirche jedesmal das Gefühl einer großen Erschöpfung in mir zurückließ. Dort oben, dem Himmel so viel näher und eine über die Dächer hinfegende reinere Luft einathmend, habe ich traulich an Sophiens Seite gesessen, als sie mich noch um eine Handbreite überragte. Ebenso traulich saßen wir bei einander, als unsere Größe dieselbe; und auch dann machte sich noch kein Unterschied geltend, als ihr starkes Scheitelhaar mir kaum noch bis an die Schulter reichte. Wir sprachen nach wie vor sehr ernst von der Lieblosigkeit der Menschen, welche wir Beide von Grund aus kennen lernten, und daß selbst die aufrichtigsten Betheuerungen so bald vergessen würden. Bitter beklagte ich mich über meine alten Freunde, den Hänge-Gensdarm und die Winkelliese. Ich hatte ihnen so oft geschrieben, hatte die Briefe selbst zur Post getragen, selbst in die Hand des mich stets mit großer Zuvorkommenheit begrüßenden Postbeamten gelegt, allein Jahre waren dahin gegangen, und noch sollte ich das erste unmittelbare Lebenszeichen von ihnen erhalten. Und dabei war ich so fest überzeugt, daß sie mich nicht vergessen haben könnten, sie mir noch immer ihre alte Anhänglichkeit bewahrten. Sogar Sachs schien befremdet, als ich ihm meinen Schmerz klagte, und suchte vergeblich nach einer Erklärung für das lange Schweigen. Er wies auf die Möglichkeit hin, daß meine unbekannten Gönner in die beiden Alten gedrungen seien, mit den von mir einlaufenden Nachrichten sich zu begnügen und, um meiner Zukunft willen, sich einen allerdings herben Zwang aufzuerlegen.

Gewöhnt, meine Gedanken denen Anderer gänzlich unterzuordnen, ergab ich mich auch hier in das Unabänderliche; doch erlitt, trotz meiner großen Jugend, mein Glaube an die Treue der Menschheit eine arge Erschütterung. Es keimte in mir die Sehnsucht nach einer noch strengeren Abgeschiedenheit; vor meiner Seele entstanden nebelhafte Bilder von Missionairen, welche, im ununterbrochenen Kampfe mit allen nur erdenklichen Widerwärtigkeiten, unter den noch im Urzustande lebenden Menschen sich dankbare Gemeinden heranbildeten und diese auf die ihnen am zweckmäßigsten erscheinende Art der Gesittung zuführten. Doch wenn Sophie mich zu trösten suchte, mich bedachtsam warnte vor übereilten Entschlüssen, gleichsam prophetisch meinte, daß ich bei meinem noch in unbestimmte Ferne gerückten Eintritt in die Welt Manches anders finden würde, als ich jetzt mir vorstellte, dann glaubte ich, gewaltsam die Banden sprengen zu müssen, welche mich an das Haus ihres Vaters, an die unbekannten Tyrannen und endlich an die mit klösterlicher Strenge auf mich einwirkenden Lehrer des Convicts fesselten. Der vorübergehend wachgerüttelte Geist erhob sich in solchen Minuten bis zu den Wolken hinauf; ich wünschte fliegen zu können, wie die Dohlen und Thurmfalken, welche die in unserem Gesichtskreise befindliche, hoch emporragende Kirche umflatterten; niederzublicken aus schwindelnder Höhe auf die Erde und auf das wirre Getreibe der Menschen, zu durchforschen Wald und Flur nach Scenerien und Bildern, welche mein, unter dem Einfluß schroffer Lehren und Gesetze erkaltendes Herz erwärmten.

Mit glühenden Farben schilderte ich dann wohl die Tage meiner Kindheit und die Umgebung, in welcher sie friedlich und in ungestörter Ruhe dahinflossen; mit glühenden Farben jene Tage, welche ich auf der lieblichen Försterei verbrachte. Die beiden Zwillinge beschrieb ich, wie ich sie kennen gelernt hatte: als zierliche Waldelfen, welche nie alterten. Ich hatte keine andere Vorstellung von ihnen, als daß sie heute noch, wie damals, das Schweizerhäuschen und dessen Nachbarschaft mit ihren kindlichen Spielen anmuthig belebten, noch heute, wie damals, mit ihrem hellen Lachen das Echo zwischen dem Gemäuer des alten Gespensterschlosses weckten.

So erzählte und schilderte ich, bis der armen Sophie ernste Augen sich mit Thränen füllten und sie meine Hand so fest und so anhaltend drückte, daß der Kreislauf des Blutes dadurch beinahe gehemmt wurde. Je deutlicher aber die Wirkung meiner Redegabe sich in ihrem Wesen offenbarte, um so enthusiastischer wurde ich. Ich ahnte ja nicht, daß jedes einzelne Wort schmerzlich in ihre Seele eindrang, daß ich Bilder vor sie hinzauberte, welche, ähnlich einem bitteren Hohn auf ihr trauriges Dasein, vernichtend in ihre gewiß anspruchslosen Hoffnungen für die Zukunft einschnitten.

An diesen Zusammenkünften, gegen welche weder Sophiens Vater noch der Director der Anstalt – und ich habe Ursache zu glauben, daß auch Letzterer um dieselben wußte – Einsprache erhoben, betheiligte sich zuweilen Herr Fröhlich, der Miether im zweiten Stock.

Herr Fröhlich! Wie wenig entsprach dieser Name seiner ganzen Erscheinung! Ein abgetragenes Menschenbild in abgetragener Hülle. Diese Umschreibung birgt Alles, was über den schüchternen, stillen Gelehrten gesagt werden könnte.

Blutarm, eisgrau, ein schief getragener Kopf – die Folge eines leichten Schlaganfalls – befangen umherspähende hellblaue Augen, ein nur mittelst der Papierscheere rasirter weißer Bart und eine bemerkliche Vernachlässigung der Wäsche und Fingernägel, das waren die besonderen Kennzeichen, wie der Hänge-Gensdarm sich unstreitig ausgedrückt haben würde. Und dennoch, welch' reichen Schatz an Gelehrsamkeit, welch' unbegrenzte Selbstverleugnung und Herzensgüte barg diese alte verwitterte Ruine!

Seinen dürftigen Unterhalt – und er gebrauchte gewiß wenig – so wie die Miethe erwarb er sich durch einige Privatstunden und das Lesen schwieriger Correcturen, welche Sachs ihm zuschob. Aber auch zu dieser ihm leichten Arbeit trieb ihn nur die allerdringendste Noth, in so hohem Grade fesselten ihn die Studien in dem ihn umringenden Chaos von Büchern, welche die verschiedensten Wissenschaften in den verschiedensten Sprachen vertraten.

Wie uns, so galten auch ihm der Aufenthalt vor dem Bodenfenster und einige Athemzüge frischer Luft als eine Art Erholung, welche er sich indessen nur selten gönnte. Denn auch er befand sich unter einem harten Zwange, nur daß bei ihm der Wissensdurst bewirkte, was uns durch die äußeren Verhältnisse auferlegt wurde. Wer hätte ihn wohl hindern wollen, hinaus zu wandern aus dem Weichbilde der Stadt, frei zu durchschweifen Wald und Flur, bis wohin jetzt unsere Blicke kaum reichten?


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