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Drittes Capitel. Der erste Ausflug.

Alter, getreuer Hänge; Du Muster eines gewissenhaften, unermüdlichen Beamten und eines biederen, warmherzigen Mannes! So weit konnte ich nur niederschreiben, was Du mir wohl hundertmal erzähltest und die nicht minder getreue, gutmüthige Winkelliese mir mindestens ebenso oft wiederholte. Da ist kein Fleckchen in der geliebten heimatlichen Hütte, keine Stätte auf dem kleinen Hofe und in dem Garten, wo ich nicht hörte von meinem Einzuge in Eure Mitte, von den traurigen Umständen, welche meine Aufnahme bei Euch begleiteten. Ihr habt mir so oft und so ausführlich jenes grausige Moor geschildert und jene Höhle, in welcher ein armes, armes Mutterherz, fern jeder Hülfe erstarrte, daß ich nur allein zu sein brauchte, um Alles vor meine regsame Phantasie hingezaubert zu sehen. Den ruhigen, theilnahmvollen Ausdruck Eurer Stimmen glaubte ich wiederzuerkennen in dem unabänderlichen Ticken der großen schwarzwälder Uhr mit dem herrlichen Paradiesvogel oberhalb des Zifferblattes und dem Sandsäckchen und den beiden verrosteten Sporen als Gewichte. Ich glaubte ihn wiederzuerkennen in dem Poltern der Flammen hinter dem Zugthürchen des Plättofens und endlich in dem eigenthümlichen Geräusch, mit welchem der Braune seinen Hafer kaute. Schon damals, als ich noch aufrecht unter ihm durchzuschreiten vermochte, waren der Braune und ich die besten Freunde. Regelmäßig besuchte ich ihn und in den meisten Fällen endigten meine Besuche damit, daß ich mich unter die Krippe in's Stroh legte und dem dumpfen Mahlen seiner Zähne so lange lauschte, bis mir die Augen zufielen und ich das, was meinen Geist im wachen Zustande beschäftigte, mit in meine Träume hinübernahm. Ich glaubte eine schöne stille Frau vor mir zu sehen, welche sich zärtlich über mich hinneigte und mit ihren schwermüthigen blauen Augen auf mich niedersah, als hätte sie sich gar nicht von mir trennen können. Auf ihren Armen trug sie ein schlummerndes Kind, von welchem ich meinte, daß ich es selbst sei; denn als ich grüßend meine Hände nach ihm ausstreckte und nach seinem Namen fragte, erhielt ich nur ein trübes Lächeln als Antwort. Dann erschien ein Mann mit kohlschwarzem Haar, dunkel glühenden traurigen Augen und einem Antlitz, bleich, wie der Tod. Er legte seine Hand auf mein Haupt und ich nannte ihn Vater und zog mit ihm von dannen unter heißen Thränen, welche dem Abschiede von dem beweglichen Blech-Ulanen auf der Laube galten. Ermunterten mich aber wieder die Stimmen der Winkelliese und des alten Hänge, wie sie besorgt nach dem ›Angstkind‹ suchten und dem ›Deserteur‹ die allerschwersten Strafen ankündigten, dann lachte mir das Herz vor Freude und in nebelhaftere und undeutlichere Fernen versanken die in der zartesten Kindheit empfangenen Eindrücke. Die beiden guten Alten ließ ich indessen suchen, bis sie mich endlich unter der Krippe hervorzogen, und dankbar nahm ich die schrecklichen Strafen entgegen, welche gewöhnlich in einem Sparapfel oder in einigen Nüssen bestanden. In ähnlicher Weise milderte die gute Winkelliese, die furchtbar klingenden Vorwürfe über frisch gerissene Löcher in den Kleidungsstücken, über geschwärzte Hände und eingeknickte neue Mützenschirme, welche ich nur zu sorglos mit in den Kauf nahm. Und der getreue Hänge, ich meine seine Stimme noch heute zu hören, wenn er, indem er eigenhändig die fehlenden Knöpfe an meine Jacke nähte, maßlos kühn behauptete, Knöpfe und Anhängeschleifen haltbar zu befestigen, verstände kein weibliches Wesen auf dem Erdenrund. Und dann wieder das geringschätzige Achselzucken der Winkelliese, das herausfordernde Emporwerfen der blendend weißen Sturmhaube und der ernste Ausspruch: daß schon unschuldigere Bemerkungen heillose Risse in der Freundschaft zwischen Vermiethern und Miethern herbeigeführt hätten.

Ihre Attacken, wie der Hänge-Gensdarm die kleinen häuslichen Meinungsverschiedenheiten verstohlen nannte, wiederholten sich nach wie vor mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Anfangs flößte es mir Entsetzen ein, wenn die Winkelliese sehr energisch, ihr Miether dagegen mit dem hehren Ernste eines Mannes des Gesetzes ihre unumgänglich nothwendig gewordene Trennung besprachen und dieselbe auf den Nächsten Ersten festsetzten. Doch allmählich gewöhnte ich mich an derartige Scenen, zumal man sich schließlich sehr verständig dafür entschied, bei jeder neuen Kündigung mit großem Bedauern hinzuzufügen: »Wenn's nicht des armen Balde, oder des bedauernswerthen Jahn wegen geschähe.«

Balde war nämlich die Bezeichnung, in welche Hänge den Namen Baldrian abkürzte, wogegen Frau Winkler – ebenfalls eine heillose Streitfrage – die noch verkürzte Schlußsilbe für angemessener und zweckentsprechender hielt. Und Baldrian Indigo war ich und blieb ich; denn da man bei der armen toten Frau in der Torfhütte nicht die leiseste Spur ihrer Herkunft fand, auch alle öffentlichen Aufrufe zu des Hänge-Gensdarm hoher Befriedigung erfolglos blieben, so machte die Winkelliese meine endgültige Aufnahme in ihrem Hause störrisch davon abhängig, daß ich fortan den von ihr mit großem Geschick entdeckten und unstreitig mir rechtmäßig gebührenden Namen Baldrian Indigo trage.

Da man keinen näher liegenden wußte, auch wohl erwog, daß gerade diese Bezeichnungen vielleicht dazu beitrügen, mich dereinst auf die Spuren meiner Angehörigen zu führen, so erklärte der Landrath sich damit einverstanden. Ich befand mich um diese Zeit schon seit einigen Wochen in der Winkelliese Pflege, und heute, nach vielen Jahren, habe ich ernste Ursache, zu vermuthen, daß sie mich nicht aus den Händen gegeben hätte, und wäre sie gezwungen gewesen, mich nie anders, als ›Hänge‹ zu rufen, für sie der Inbegriff aller Namensscheußlichkeiten.

›Indigo‹ stand auch auf einem schwarzen Kreuz zu Häupten eines mit dem schönsten Rasen bedeckten Hügelchens des Dorffriedhofes, wohin man jene arme Fremde gebettet hatte. Häufig wurde ich von dem Einen oder Andern meiner Beschützer – nie von Beiden zugleich – dorthin geführt, um einen frischen Kranz auf das Kreuz zu hängen, oder ein Geraniumbäumchen oben auf das theure Grab zu pflanzen, auch wohl einen Streifen schön knallroth blühender spanischer Kresse um dasselbe herumzusäen. Die beiden guten Alten schienen überhaupt peinlich darauf bedacht zu sein, daß mein Verhältniß zu ihnen Niemand ein Geheimniß blieb und man nicht leichtfertig meine Person in noch nähere Beziehung zu ihnen brachte. Doch wenn der alte Junggeselle und die im Wittwenstande alternde Plätterin im öffentlichen Verkehr ängstlich die zartesten Rücksichten für ihre ›Reputation‹ walten ließen, so konnte es andererseits einem Fremden, der uns in unserer Häuslichkeit beobachtete, nicht verdacht werden, wenn er Herrn Hänge oder der Frau Hänge, geborenen Winkler, zu deren Entsetzen Glück zu solch' prächtigem Jungen wünschte. Trug ich doch stets grüne Jacken und graue Beinkleider, so gut sie der Dorfschneider aus einer abgetragenen Gensdarmenuniform herzustellen vermochte, und schwerlich gab jemals eine rechte Mutter ihrem Lieblinge ein wuchtigeres Butterbrod mit in die Schule, als Frau Winkler mir regelmäßig auf Kosten einiger krachender Nahtstiche in die Tasche zwängte.

Was ich in der Schule lernte, reichte nicht über das hinaus, was von einem für den Pflug und die Sense bestimmten Bauerjungen verlangt wird. Aber auch hinter diesen bescheidenen Anforderungen wäre ich zurückgeblieben, hätte mein gutes Begriffsvermögen mich nicht gerettet. Sicher ist, daß ich den Blech-Ulanen auf der Laube – eine Gensdarmenüberraschung an der Winkelliese Geburtstag – mit größerer Theilnahme und Aufmerksamkeit betrachtete, als den langweiligen Schulmonarchen; eben so sicher, daß die Bilder, welche ich auf Schiefertafel und in Schreibehefte zeichnete – größtentheils Gensdarmen und Ulanen – meinen Beschützern weit mehr Freude bereiteten, als meine Kenntniß der vier Species und endlich der Anfänge der Regel de Tri, mit welchen ich, trotz meines unüberwindlichen Widerwillens gegen Zahlen, sehr bald geläufig umspringen lernte.

So machten auch meine vierteljährigen, gerade nicht sehenswerthen Zeugnisse gar keinen Eindruck auf sie. Wo nur immer ein Tadel vermerkt war, da hatte in ihren Augen unausbleiblich der Schulmeister Schuld, der mit Kindern nicht umzugehen wisse. Die nächste Folge war, daß der Mann des Gesetzes sich in volle Uniform warf und so lange vor dem Schulhause klirrend auf und ab wandelte, bis er Gelegenheit gefunden hatte, dem Herrn Lehrer einen schönen guten Tag zu wünschen. Damit war sein Zweck erreicht: Er hatte den Schulmeister daran erinnert, daß ich in dem gefürchteten Gensdarm einen mächtigen Beschützer habe.

So war ich endlich in mein dreizehntes Jahr eingetreten. Außer der Schulgelehrsamkeit, deren Aneignen mir nur geringe Schwierigkeit bereitete, verstand ich ein Pferd zu putzen – so weit ich eben mit den Händen hinauf zu langen vermochte – und dessen Hufe zu schwärzen; ferner Säbel und Karabiner zu poliren und letzteren sogar, wenn nur mit Pulver geladen, hinter dem Hause abzuschießen. Ebenso verstand ich einen Plättbolzen kunstgerecht in die Gluth zu schieben, nicht zu gedenken der Gewandtheit, mit welcher ich in einer Woche oft mehr Papier bezeichnete und bemalte, als ich in einem ganzen Monat mit guter Schrift und guten Zahlen bedeckte.

Die langen, schönen, heißersehnten Sommerferien waren vor der Thüre, als Hänge mich eines Tages mit geheimnißvollem Wesen aufforderte, ihn zum Schuhmacher zu begleiten. Nachdem er mir neue Stiefel hatte anmessen lassen, vertraute er mir unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit, daß Frau Winkler die Absicht hege, eine große Reise zu unternehmen.

Auf meine Frage erklärte er, daß sie ihr Hannchen endlich einmal besuchen wolle, um einige Wochen mitten im grünen Walde zu verleben.

Bald darauf vertraute die Winkelliese mir dasselbe Geheimniß an, schärfte mir indessen dringend ein, den Herrn Hänge nichts merken zu lassen, indem sie ihm streng untersagt habe, mit mir darüber zu sprechen, um meinen Schulfleiß nicht zu beeinträchtigen.

Selbstverständlich gehorchte ich Beiden, zumal ein Verrath von meiner Seite ohne Zweifel eine Kündigung zum Ersten bewirkt hätte. Dagegen hinderte mich nichts, die glücklichste Stimmung zur Schau zu tragen, bald mit meinem Freunde Hänge, bald mit der Winkelliese die kommenden goldenen Tage ausgiebig zu besprechen und nebenbei so viele tolle Streiche zu begehen, daß der Mann des Gesetzes sich schadenfroh in sein Zimmer einschloß oder davonritt, um nicht als Sündenbock von seiner Frau Wirthin mit den bittersten Vorwürfen überschüttet zu werden, diese aber in ihrer Verzweiflung und in Ermangelung eines Andern, an welchem sie ihren Zorn auslassen konnte, mich mehrfach mit einem wollenen Strumpf an den Kopf warf.

»Morgen fahren wir,« sagte sie endlich eines Nachmittags in Hänge's Gegenwart, und sorgfältig räumte sie ihr Zimmer auf, »morgen fahren wir, und dann werden der Herr Gensdarmenwachtmeister einmal versuchen, wie sich's mit Andern wirthschaftet.«

»Schlecht genug wird's gehen, Prrohl-Dannehr! meine liebe Frau Winkler,« versetzte dieser pflichtschuldigst, »aber um den Preis, daß Sie Ihr Hannchen wiedersehen und der Balde die Welt kennen lernt, ertrage ich Schlimmeres.«

»Nun, ich habe mein Möglichstes gethan,« tröstete die Winkelliese, »unsere Nachbarsfrau wird zum Rechten sehen – hab's ihr wenigstens auf die Seele gebunden – und wie man ein Chemiset umbindet, zeigte ich ihr ebenfalls.«

Der Hänge-Gensdarm seufzte schmerzlich, grinste mir aber dabei verstohlen zu, und einen unbewachten Augenblick erspähend, hielt er mir die Spitze seiner langen Pfeife hin, aus der ich eben so verstohlen gierig einige Züge rauchte.

Fast die halbe Nacht wirthschaftete die Winkelliese noch im Hause herum, bevor sie meinte, auf einige Wochen abkömmlich zu sein, und als es dann wieder Tag geworden war, da stand des Müllers Fuhrwerk vor der Thüre, um uns zunächst nach der Stadt zu schaffen.

Einen überaus rührenden Abschied nahm ich von dem Braunen; einen nicht minder rührenden Abschied von dem guten Hänge. Gerührt schüttelte ich auch die Laube, daß mein alter Freund, der Ulan, in seiner Verzweiflung nicht wußte, nach welcher Windrichtung er zuerst seine Lanze fällen sollte. Meine Rührung reichte indessen nicht weiter, als bis auf den Wagentritt; und einem jungen Vogel, welcher zum ersten Mal fernen, ihm noch unbekannten Zonen zuwandert, schlug das Herz schwerlich jemals freier, als mir, da ich meinte, daß nunmehr die ganze Welt offen vor mir daliege und ich nur zuzugreifen brauche, um mich in den Besitz von so vielen märchenhaften Schätzen zu bringen, wie sie nicht schöner auf den erstaunlich bunten Bilderbogen der Frau Winkler dargestellt waren.

So lange das heimatliche Häuschen mir aber noch sichtbar, spähte ich rückwärts, mit meiner geschwungenen Mütze die Grüße erwidernd, welche der getreue Hänge immer und immer wieder uns nachsandte.

Der liebe, getreue Hänge! Wie erschien mir die lange Gestalt in dem Militärhausmantel, mit der schief gerückten Feldmütze und der fast bis zur Erde niederreichenden Tabakspfeife am Pförtchen des Vorgartens so verlassen und vereinsamt! Und je weiter der Wagen mich forttrug, um so vereinsamter erschien er mir, und als sein Anblick mir endlich entzogen wurde, da konnte ich nicht anders, ich mußte den Thränen, welche mir unaufhaltsam in die Augen drangen, freien Lauf lassen. Ich suchte sie zu verbergen, allein die Winkelliese hatte meine Bewegung längst entdeckt, und als sie mich mit einem sechsjährigen butterweichen Mädchen verglich, da umklammerte ich krampfhaft ihren Arm, wie befürchtend, durch eine geheimnißvolle Macht von ihrer Seite gerissen zu werden.

Hätte sie in jenem Augenblick die Umkehr angeordnet, ich würde die Aenderung ihres Entschlusses mit Jubel begrüßt, mich nie wieder über die Grenzen unseres Dorfes hinausgesehnt haben. Statt dessen munterte sie mich auf, und die grünen Bäume zeigte sie mir und den blauen Himmel, die schmetternden Lerchen und die Getreidefelder, auf welchen die Halme, des Schnitters harrend, tief ihre schweren Häupter neigten. Auf die guten Worte der mütterlichen Freundin lachte ich ihr wohl zu; allein lange dauerte es, bevor mein alter Frohsinn zurückkehrte und ich wieder unbefangen zu plaudern vermochte. Die Trennung von dem geliebten Hänge lastete zu schwer auf meinem Gemüthe. Es war, als ob eine Ahnung mir sagte, daß mit diesem ersten Schritt aus der stillen Hütte, die mir so lange Heimat gewesen, meine sorglose, glückliche Kindheit ihr Ende erreiche, eine dunkle, wechselvolle Zukunft sich vor mir eröffne, trotz meiner großen Jugend ich einen herben Kampf mit einem mir feindlich gesinnten Geschick aufzunehmen habe.

Wohl blickte ich auf die bethauten Getreidefelder und hinauf zu den im Sonnenschein funkelnden Baumwipfeln, hinauf zum blauen Aether und den jubelnden Lerchen; allein die samenschweren Halme schienen mir zu trauern, die Baumwipfel bedenklich ihre ernsten Häupter zu wiegen. Der sonnige Himmel blendete mich, und die singenden Lerchen hätte ich zu mir niederziehen und auf meine Schultern und vor mich auf die Lehne der hölzernen Kutscherbank stellen mögen, um das Lied jeder einzelnen genau zu unterscheiden, anstatt daß jetzt hoch oben ihre Stimmen zusammenfielen und sich in einander verwirrten.

So schaffte und arbeitete ich mit kindlicher Phantasie, und Alles, was ich sah und hörte, Alles was ich dachte, bewegte sich ausschließlich um den geliebten Hänge, der nach meiner Ueberzeugung zu Hause im Pferdestall unter der Krippe des Braunen saß und mit diesem um die Wette weinte. Da fuhren wir an keiner struppig gekrönten Weide vorbei, an welcher ich nicht eine besondere Aehnlichkeit mit dem Hänge-Gensdarm entdeckte; keinen bemoosten Eichenstamm streiften meine Blicke, auf dessen geborstener Rinde ich nicht die bärtige Physiognomie meines treuen väterlichen Freundes zu erkennen meinte. Und als es dann wärmer wurde und große Bremsen summend die schwerfällig einhertrabenden Pferde umkreisten, diese aber ungeduldig die Mähnen schüttelten und mit den langen Schweifen den zudringlichen Gästen wehrten, da hielt ich die pfeilgeschwind einherschießenden Insecten für verwandelte Schutzengel, wie sie daheim auf einem prachtvollen Bilderbogen ein im Walde verirrtes Kind umschwebten, und glaubte, daß sie nur gekommen seien, uns aufzuhalten und die Pferde zur Heimkehr zu zwingen.

Doch wie die höher steigende Sonne den Thau von Halm und Blatt trocknete, nahm sie von mir die Last der kindlich schwermüthigen Betrachtungen. Der Reiz der Neuheit der wechselvollen Umgebung begann auf mich einzuwirken, und mit Wonne gedachte ich der Tage, in welchen ich als heimgekehrter Weltreisender dem erstaunten Hänge-Gensdarm von meinen Erfahrungen erzählen würde.

Frau Winkler pflichtete mir natürlich in allen Stücken bei, und sobald sie gewahrte, daß mein Frohsinn wieder das Uebergewicht über alle anderen Empfindungen gewann, schürte sie denselben mit einem Eifer, als ob sie daheim vor ihrem Plättofen auf den Knieen gelegen und mit scharlachfarbigem Antlitz, thränenden Augen und zum Zerspringen vollen Backen in die Gluth hineingeblasen hätte. Da begegnete uns kein bestaubter Handwerksbursche, an welchem nicht irgend etwas zu mäkeln, kein von munteren Milchmädchen gelenkter Hundewagen, an welchem nicht dieses oder jenes zu loben gewesen wäre. Und als wir durch die Straßen der Stadt rasselten, da mußte selbst die redselige Winkelliese schweigen, so viel gab es dort zu sehen und zu bewundern. Ich aber war wie berauscht; erst als wir eine Stunde später in einem Hauderer die Stadt verließen, gelangte ich allmählich wieder zum Bewußtsein meiner Lage.

O, diese Reise! Hunderte und Tausende von Meilen habe ich seit jenen Tagen pfeilschnell durchflogen und mühevoll durchwandert, und dennoch, wenn meine Gedanken rückwärts schweifen in die Vergangenheit, wie eilen sie flüchtig über diese gewaltigen Strecken hinweg, um mit Wehmuth zu rasten bei jenem ersten kurzen Ausfluge! Meinte ich doch, in eine neue Welt eingetreten zu sein; und der Hauderer, klapperig wie er sein mochte, in welchem aber mehr, als ein Dutzend Menschen bequem Platz fanden, erschien mir so groß und prächtig, daß ich unser Haus sammt Garten und Stall, Laube und Blech-Ulan an der Spitze, dagegen als Nürnberger Spielwerk betrachtete.

Ein Platz in dem Wagen blieb leer. Ich konnte nicht begreifen, warum der alte Hänge nicht auf demselben saß. Dann dachte ich so lange und lebhaft an ihn, bis ich ihn endlich leibhaftig vor mich hingezaubert hatte mit seinem Riesenschnurrbart und wie er durch die Schwankungen des polternden Fuhrwerks, ähnlich der Winkelliese, von der einen Seite nach der anderen hinübergeschleudert wurde. Zu sprechen wagte ich nicht in Gegenwart so vieler fremder, sorglos plaudernder Menschen, zumal die außerordentlich heiter gestimmte Wintelliese mich mehrmals mit ›Herr‹ und ›Sie‹ anredete und ringsum kaltblütig erzählte, ich sei ihr leibeigener Sohn, an welchem sie ihre Freude habe.

Die gute Alte, wie ihr rothes Gesicht vor Wonne strahlte, als die unbekannten Menschen, von welchen sie kein Zweifeln an ihrer ›Reputation« zu befürchten brauchte, ihr zu dem prächtigen ›Spätling‹ Glück wünschten. Dann holte sie den Kober hervor, der mit so viel Lebensmitteln angefüllt war, daß wir, ohne Noth zu leiden, wohl vierzehn Tage hätten reisen können, und als ich sah, wie es ihr kostbar schmeckte, da wagte auch ich die mir in die Hände gedrückten besten Bissen schüchtern zu verzehren, sogar ein Schlückchen aus dem mir mit verständnißvollem Kopfnicken dargereichten heiligen Liqueurfläschlein zu nehmen.

Wie groß, wie männlich erschien ich mir! Wäre ich an jenem Tage plötzlich wieder unter den Schutz des biederen Hänge und des beweglichen Blech-Ulanen zurückversetzt worden, so hätten meine Wünsche sich schwerlich jemals über die eines einfachen friedlichen Landbewohners erhoben. Doch es sollte nicht sein, und als das Geschick mich erst in seinen Strudel hineingezogen hatte, da riß es Alle mit fort, die in freundschaftlichen Beziehungen zu mir standen: Den Hänge-Gensdarm und die Winkelliese, das gutmüthige, ehrenwerthe Hannchen, deren Gatten und ihre beiden lieblichen Zwillingstöchterchen!

Am Nachmittage des zweiten Tages unserer Weltreise, hielten wir in einem Städtchen. Es war das Endziel des Hauderers. Der brieflich auf unser Eintreffen vorbereitete Förster erwartete uns bereits. Eine kurze, aber überaus herzliche Begrüßung folgte, dann bestiegen wir einen von zwei kräftigen Pferden gezogenen Jagdwagen, welchen der Förster Wallmuth selber lenkte, und dahin ging es in scharfem Trabe, daß die Räder bebten, dahin und immer weiter und weiter fort von dem geliebten alten Hänge.

Aber eine lustige Fahrt war es trotzdem in der erquickenden abendlichen Kühle durch den prachtvollen schattigen Forst! Ich saß behaglich auf der stark schleudernden Sitzbank zwischen der Winkelliese und dem Förster Wallmuth; und dennoch hätte ich zur Erde springen, mich in dem üppig wuchernden Farrnkraut wälzen und demnächst wieder einen Wettlauf mit den schnaubenden Pferden unternehmen mögen. Ich jubelte und bewunderte Alles, was in meinen Gesichtskreis trat: Die mächtigen Tannen, die weitverzweigten Kronen der Buchen und Eichen, die munteren Eichhörnchen und hin und wieder ein argwöhnisch zu uns herüberspähendes Stück Wild; am meisten aber bewunderte ich den Förster Wallmuth selber, der mir in jener Stunde als der Inbegriff alles Schönen, Großen und Starken erschien.

»So kräftig und breit möchte ich werden,« folgten meine Gedanken auf einander, indem ich den von Lebenslust strotzenden, wettergebräunten Forstmann von der Seite betrachtete, »und solchen gewaltigen, rothbraunen Vollbart möchte ich tragen, solch' grünen Rock, einen Hirschfänger an meiner Seite und einen königlichen Adler vorn an der Mütze!«

Seine Fäuste dagegen betrachtete ich mit Ehrfurcht. Wie führten sie die Zügel und Peitsche so leicht, und wie oft hatten sie wohl das Jagdgewehr gehoben und mit entsetzlichem Krachen die Thiere des Waldes niedergestreckt! Dabei nannte er die Winkelliese harmlos Schwiegermutter, und von seinem Hannchen erzählte er, welches eine Försterfrau geworden, wie keine zweite mehr auf dem ganzen Erdenrund zu finden, und von seinen Töchtern, von welchen er sich nicht zu trennen brauchte, indem der Herr Candidat im Schloß und das gnädige Fräulein Lehrer und Lehrerin mehr als ersetzten, so daß die Kinder für ihren Stand eigentlich zu viel lernten.

»Geschäftsverbindung haben Sie nicht mit den Leuten im Schloß, Herr Schwiegersohn?« fragte die Winkelliese wie beiläufig und so erhaben, wie ich es noch nie an ihr beobachtete.

Der Förster lachte hell auf und klappte mit der Peitsche, daß auf einem nahen Baume ein Eichhörnchen vor Schreck beinahe zur Erde gefallen wäre.

»Geschäftsverbindungen?« rief er sorglos aus, »woher sollten die kommen? Das Schloß mit etwa zehn Morgen Garten und zwanzig Morgen Forst nebst Fischgerechtigkeit im See ist ein altes adliges Reservat, das Uebrige dagegen königlich. Die Schloßbewohner haben mir nichts zu befehlen, und ich ihnen eben so wenig. Das hindert uns indessen nicht, gute Nachbarschaft zu halten und uns gegenseitig gefällig zu sein, 's ist überhaupt ein Wunder, daß die Krone dem jetzigen Besitzer den ganzen Kram nicht längst abkaufte.«

»Er ist wohl ein armer Schlucker von Edelmann und freut sich, in der Abgeschiedenheit billig leben zu können?« forschte die Winkelliese neugierig.

»Der, und arm?« lachte der Förster, »der soll mehr Groschen sein eigen nennen, als unser Tannenwald Nadeln aufzuweisen hat.«

»So macht er gewiß ein großes Haus?«

»Gerade das Gegentheil. Wohl an die zwanzig Jahre ist das Schloß unbewohnt geblieben und von meinem verstorbenen Vorgänger und auch von mir noch gegen eine Entschädigung beaufsichtigt worden; dann fiel's dem Besitzer plötzlich ein, sich hierher zurückzuziehen, wie's scheint, um sein Ende in Ruhe abzuwarten. Ich verlor dadurch zwar die kleine Zulage, allein streng genommen, gefällt's mir jetzt besser. Auch meiner Frau ist's angenehmer, ein von Menschen bewohntes Haus, als eine leere Gespensterbude in der Nähe zu wissen. Die Leute, die da wohnen, – den Candidaten und das Fräulein ausgenommen, sind allerdings nicht viel besser, als Gespenster.«

»Wie stark ist der Hausstand?«

»Zuerst ist da der Herr selber, welchen, außer den Hausgenossen, indessen Niemand zu sehen bekommt. Selbst ich kann mich nur rühmen, ihn aus der Ferne beobachtet zu haben, wenn er in seiner altmodischen verschlossenen Kutsche kleine Spazierfahrten auf den gebahnten Forstwegen unternahm. Des Abends soll er zuweilen am See sitzen, sonst aber sich streng abgeschieden in seinen Gemächern halten. Dann ist da sein Kutscher, eine bissige Creatur, die's für 'ne große Ehre hält, wenn sie den Menschen auf einen höflich gebotenen Gruß dankt. Eine alte Kammerjungfer sehe ich ebenfalls gelegentlich; da dieselbe aber kein Deutsch versteht, habe ich keine Veranlassung, sie anzureden. Ferner ist da ein spindeldürrer ausländischer Kammerdiener, der weiter nichts gelernt zu haben scheint, als auf dem Hofe das Gras zwischen den Steinen auszurupfen. Was sonst aber noch beschickt und beschafft werden muß: den Garten bestellen, das Schloß von oben bis unten säubern, waschen und Holz spalten, das läßt der Candidat durch angenommene Dorfleute besorgen. Genug, es hat den Anschein, als ob der alte Herr seine gesunden Sinne nicht beisammen habe und peinlich darauf bedacht sei, Niemand von seinem Hausstande mit der Außenwelt in Berührung kommen zu lassen.«

»Kinder sind nicht im Hause?«

»Nein, was sollten die auch dort? Kindliches Lachen paßt in das alte Gespensterschloß hinein, wie 'ne Turteltaube in 'nen Fuchsbau. Nebenbei würde der lustigsten Brut in der Gesellschaft der alten mürrischen Gesichter das Lachen bald genug vergehen, und wären es gesunde Burschen, wie hier der Baldrian. Ich merks an meinen Mädchen, die halten sich nicht 'ne Minute länger im Schlosse auf, als sie bei ihrem Lernen sitzen müssen.«

»Was thut dann ein Candidat in dem Gebäude?«

»Eigentlich nichts, und auch doch wieder Alles. Er soll der Familie angeerbt sein, hörte ich, darauf ist indessen nichts zu geben. Hat vielleicht das Fräulein selber unterrichtet – alt genug ist er dazu – und dann ist aus dem Hauslehrer 'ne Art Haushofmeister und Geschäftsführer geworden; was weiß ich's – für mich ist es jedenfalls viel werth, daß meine beiden Schmalthierchen – so nenne ich nämlich die Mädels,« wendete der Förster sich mit gutmüthigem Lachen mir zu, »daß also meine Schmalthierchen etwas lernen, ohne daß wir uns von ihnen zu trennen brauchen.«

»Ohne Zweifel umgängliche Leute, der Herr Candidat und das gnädige Fräulein,« bemerkte die Winkelliese und selbstbewußt richtete sie sich empor, wie sich darauf vorbereitend, mit den umgänglichen Leuten eine gebildete Unterhaltung zu pflegen und als Plätterin incognito einen recht günstigen Eindruck auf sie zu machen.

»Nun ja,« antwortete Wallmuth gedehnt, und im Ton seiner Stimme lag etwas, das mich unbewußt gegen die betreffenden Personen einnahm, »sie sind freundlich genug, aber 's ist 'ne Freundlichkeit, welche nicht recht warm zum Herzen dringt, so daß man wagen möchte, ihnen die Hand zum Gruß zu reichen. Es erscheint mir, als ob sie auf uns blicken, wie wir auf 'ne Federnelke, die sich in's Haidekraut verirrte, und das nicht einmal – doch mag das sein, dankenswerth ist's immerhin, daß sie sich die Mühe mit den Kindern geben.«

Hier stockte die Unterhaltung, welcher ich mit athemloser Spannung gelauscht hatte, und fast unhörbar rollten die Räder auf dem weichen Waldwege einher. Obgleich ich in der militärischen Zucht des biederen Hänge-Gensdarm nie Furcht kennen lernte, erfüllte der Gedanke an die eben geschilderten Personen mich mit unerklärlicher Besorgniß. Indem ich ängstlich um mich spähte, meinte ich, daß die gespenstischen Schloßbewohner irgendwo zwischen den Bäumen auftauchen müßten, um sich, in Mannshöhe über dem Erdboden einherschwebend, mir zu nähern. Selbst der Harzduft der sich zu unserer linken Seite zusammen drängenden Tannen erschien mir überirdisch und die Nachbarschaft des unheimlichen Schlosses verkündend.

Rechts, zwischen den schlanken rothbraunen Stämmen hindurch erreichten meine Blicke eine breite Wasserfläche.

Hohe Buchen, Eichen und anmuthig dazwischen gestreute Birken, einen sanften Hügelabhang bewaldend, spiegelten sich in derselben, ihr den äußeren Charakter einer unergründlichen Tiefe verleihend. Vereinzelte Tauchenten zogen still auf der glatten Bahn einher. Ich hielt die seltsamen Vögel für gezähmt und darauf abgerichtet, gemeinschaftlich mit Bären, Wölfen, Hirschen und Rehen allabendlich den Hof des Gespensterschlosses zu beleben.

»Das ist das Schloß!« rief nach einer kurzen Biegung des Weges Wallmuth plötzlich aus, mit der Peitsche geradeaus weisend; »ein Weg führt gerade über den Hof, allein ich ziehe den andern, um das Stallgebäude herumlaufenden vor. Ich gehe davon aus: Leute, welche die Einsamkeit lieben, soll man nicht unnöthig stören.«

Frau Winkler antwortete nicht. Gleich mir betrachtete sie neugierig die düsteren Baulichkeiten, welche hinter den lichter stehenden Bäumen auftauchten.

Nur durch einen schmalen Uferstreifen von dem See getrennt, erhob sich ein dreistöckiges alterthümliches Haus über eine Anzahl zusammenhängender, massiv errichteter Stallgebäude. Diese schlossen einen geräumigen Hof ein. Zwei einander gegenüber liegende Thorwege ermöglichten mir einen kurzen Ueberblick über demselben. Hundertjährige Bäume beschatteten den vorgebauten Eingang des Schlosses, diesem durch ihre tiefen Schatten eine noch düsterere Färbung verleihend. Unwillkürlich rückte ich der Winkelliese näher. Erst als Wallmuth dicht vor dem Thore die Pferde seitwärts lenkte, athmete ich freier. Ich vergegenwärtigte mir in jenem Augenblick den Hänge-Gensdarm, wie er in einer von Hollunderstäben angefertigten Schlagfalle Meisen für mich fing, und konnte mich von dem Gedanken nicht lossagen, daß, wenn wir über den Hof gefahren wären, unsichtbare Hände die beiden Thore vor uns und unter uns zugeworfen hätten.

An dem langen Stall vorbei bewegten die Pferde sich im Schritt; dann verfielen sie wieder in eine schnellere Gangart. Kaum, daß ich Zeit gewann, die lebensgroßen Marmorstatuen, welche neben dem zweiten Thorwege eine Art Doppelposten bildeten, flüchtig zu betrachten.

Ein zwischen den Bäumen hindurchfallender Strahl der sich dem Westen zuneigenden Sonne schmückte die beiden starren Schildwachen mit einem röthlichen warmen Schein. Die eine hatte große behaarte Ziegenfüße und blies in eine seltsam geformte Flöte. Dabei grinste sie höhnisch, wie mir ankündigend, daß sie mich zu seiner Zeit in ihre Gewalt bekommen würde. Die andere, eine Frau in kurzem Kleide, stützte sich mit der linken Hand auf den Kopf eines Hirsches und trug in der rechten einen Jagdspieß. Auf ihrer Stirn ragte ein halber Mond empor. Auch sie schien mich zu betrachten, aber gleichgültig und ausdruckslos, daß ich mich fürchtete und zugleich in meiner kindlichen Einfalt glaubte, nie ein schöneres Gesicht gesehen zu haben.

»Die beiden Puppen gefallen Dir?« fragte Wallmuth, dem meine Bewegung nicht entging.

»Sie sind sehr schön,« antwortete ich beklommen.

»Die mußt Du in der Nähe betrachten,« fügte er heiter hinzu, »meine Schmalzicklein sollen morgen mit Dir hierhergehen. Aber das Innere des Schlosses müßtest Du erst sehen! Ich sage Dir, Baldrian, da drinnen sieht's noch gerade so aus, wie vor dreihundert Jahren, als die Leute noch eiserne Westen und Nachthauben trugen.«

Munter klappte er mit der Peitsche, weiter griffen die Pferde aus; noch zwei Minuten und vor uns öffnete sich eine von hohen Waldmauern eingerahmte Lichtung, deren nächste Grenze die Försterei, unser Ziel.

Lieblich lag es da, das kleine Schweizergehöft. Weinranken schmückten alle Wände, selbst Theile der Dächer. Hirschköpfe mit zackigen Geweihen prangten über Thüren und Fenstern. Großfleckige Hunde und andere mit fingerlangen krummen Beinen, alle aber ihre gewaltigen Ohren wie Fliegenklappen schwingend, stürmten uns entgegen und sprangen heulend und winselnd an den schnaubenden Pferden empor. Doch in der Hausthür stand Hannchen Wallmuth, die schöne, stattliche Försterfrau, auf jeder Seite einen zehnjährigen blondgelockten Engel, unter Thränen der Freude ihrer alten Pflegerin die Arme entgegenstreckend.

Ein Knecht nahm die Pferde in Empfang; eine Magd eilte herbei, um sich unseres Gepäckes zu bemächtigen; Wallmuth sprang zur Erde, um seiner Schwiegermutter aus dem Wagen zu helfen; diese hingegen, seine Hülfe verschmähend, war fast eben so schnell, wie er selber unten, wo sie, trotz ihres sehr bemerklichen Umfanges, in der stürmischen Umarmung von Jung und Alt gewissermaßen verschwand. Dann, als sei Alles vorher verabredet gewesen, nahm Wallmuth den einen Engel auf den Arm, während Frau Hannchen den andern emporhob, um bei der ersten Begrüßung keinen zu kurz kommen zu lassen.

Keinen! Und dennoch hatte Niemand für mich einen Blick! Schüchtern und mich weit, weit fortsehnend zu dem alten getreuen Hänge, kletterte ich aus dem Wagen. Und da stand ich nun, bange beobachtend, wie die guten Menschen sich gegenseitig zärtlich liebkosten und nicht wußten, wie sie die Freude des Wiedersehens am verständlichsten und eindringlichsten zum Ausdruck bringen sollten.

Meine Brust schwoll; mit äußerster Anstrengung kämpfte ich die Thränen zurück.

Seit Jahren gewöhnt, bei den harmlosen ›Attacken‹ zwischen dem Hänge-Gensdarm und der Winkelliese gleichsam als vermittelndes Element betrachtet zu werden, eben so lange aber gewohnt, die Gemüthsregungen meiner beiden treuen Wohlthäter zu errathen – es gehörte ja kein außerordentlicher Scharfsinn dazu – und sogar mit einem gewissen kindlichen Instinct und unter Aufbietung aller nur denkbaren kleinen Jesuitenstreiche zum Hausfrieden und zu meinen eigenen besonderen Gunsten zu lenken, war ich wohl empfindlicher und in der Beobachtung anderer Menschen vielleicht geübter geworden, als Kinder in meinem damaligen Alter im Allgemeinen zu sein pflegen. So schämte ich mich bei jener frohen Begrüßungsscene – ich entsinne mich dessen genau, als sei es erst gestern gewesen – vor dem Knecht und der Magd, die mich einfältig anstarrten, als ob ich überhaupt nicht dorthin gehört habe.

Leise schlich ich aus ihrem Gesichtskreise um den Wagen herum. Ich fühlte mich so verlassen, wie noch nie, seitdem ich zu denken vermochte; in der fremden Umgebung aber empfand ich doppelt schmerzlich das Bittere, keine Eltern, keine wirkliche Angehörigen zu besitzen, an welche ich mich ebenfalls hätte anschmiegen dürfen.

Ein großer Hühnerhund hatte sich mir unbemerkt genähert und schob mir seine kalte Nase in die Hand. Ich erschrak. Gleich darauf klopfte ich indessen den gutmüthigen Gesellen auf den breiten Kopf. Meine Gefühle zu zerlegen und logisch in Formen zu kleiden, war ich noch nicht im Stande; aber erleichterten Herzens blickte ich in die klugen Augen des freundlichen Thieres. Hätte es mit lauter, menschlicher Stimme mich willkommen geheißen, es würde mich kaum überrascht haben.

Nur kurze Minuten dauerte meine peinliche Lage; doch was ich damals empfand, es ist mir unvergeßlich geblieben mein Lebenlang. In den wenigen Minuten alterte ich um Jahre; aus meinem Kampfe gegen die andringenden Thränen ging eine Art hochmüthigen Trotzes hervor und die Furcht, bedauert zu werden. Heute möchte ich jene, allerdings nur flüchtige Wandlung ein Vorbereiten des Geschickes nennen, ein Vorbereiten auf künftige Tage, in welchen ich nur auf mich allein angewiesen sein sollte.

»Wo ist unser Baldrian?« tönte plötzlich der Winkelliese Stimme so herzlich zu mir herüber, daß die eben mich noch quälende Verlegenheit, wie ein Rauchwölkchen vor dem Riesenschnurrbart des alten Hänge zerstob. Dann aber flog ich förmlich in das Knäuel der glücklichen Menschen, die alle zugleich zu mir sprachen und von denen Jeder seinen Antheil an mir haben wollte. Die Winkelliese erzählte triumphirend, wie sie mich unterwegs für ihren Sohn ausgegeben habe. Frau Hannchen, die uns vor drei Jahren besuchte, fürchtete, daß ich ihr bald über den Kopf wachsen würde; Wallmuth meinte, daß ich wohl kräftig genug sei, eine Vogelflinte abzufeuern, und nachdem ich zu diesen Dreien dankbar emporgeblickt hatte, schaute ich links in die blauen Augen eines blondlockigen, Engels, der meine linke Hand mit beiden Händen umspannte, schaute ich rechts in die blauen Augen eines blondlockigen Engels, der meine andere Hand ergriffen hatte. In meiner kindlichen Unschuld hielt ich Beide für die zauberhafte Verdoppelung eines und desselben Wesens.

»Ich heiße Hedwig,« sprach der eine Engel.

»Und ich Hannchen, wie meine Mutter,« sprach der andere.

»Hannchen und Hedwig!« jubelte es in meinem Herzen. Zwischen den Ranken säuselte der Abendwind. Ich glaubte, daß die einzelnen Blätter mir einladend zuwinkten, die Hirschköpfe nicht minder freundlich mit den Augen blinzelten und ihre Geweihe bedenklich wiegten. Vom See herüber tönte wie hohles Rauschen das vielstimmige Concert der Frösche.

»Hannchen und Hedwig!« Hei, wie das in der Dämmerungsstunde in flinken Sprüngen um das anmuthig umrankte Schweizerhaus herumhuschte!

Hannchen und Hedwig! Wer war Hannchen, wer Hedwig? Blaue Augen, blonde Locken, grün gewürfelte Kleidchen, dasselbe Lachen, dieselben hellen Stimmchen!

»Wer ist Hannchen?« fragte ich muthwillig den Mond, der still und bedächtig am Himmel spazieren ging.

»Ich!« antwortete es aus einem Johannisbeerbusch.

»Ich!« antwortete es hinter der Laube hervor, in welcher Großmutter Winkelliese und das Försterpaar ihr Gläschen Bier schlürften.

»Wer ist Hedwig?« fragte ich eine Baumgrille, die sich auf dem Gartenzaun schon ganz heiser gezetert hatte.

»Ich!« antwortete es in einem Rosenbeet.

»Ich!« rief es zugleich aus dem Hühnerstall.

»Hannchen und Hedwig!« Hurrah! fort über Beete und Rasen, durch Ställe, Flur und Küche, gefolgt von einem Vierteldutzend unmündiger kläffender Teckelhunde.

»Hedwig und Hannchen!« Immer Beide zugleich gerufen, um's Richtige zu treffen.

In der Laube brannte ein Licht. Deutlich bemerkte ich der Winkelliese gutes altes Gesicht. Es sah beinahe aus, wie der Mond, so hatte sie gelacht, und mit einem weißen Taschentuch, so groß, wie des Hänge-Gensdarm Paradeschabracke, mußte sie mehrfach die dicken Zähren von ihren vollen Wangen reiben und die Mücken verjagen, welche eine besondere Vorliebe für das angehende Doppelkinn zu hegen schienen.

»Hannchen und Hedwig! Gute Nacht Euch Beiden!« hieß es endlich.

»Gute Nacht, Baldrian!« ertönte es doppelt, wie aus einem Munde, »vergiß nicht, was Du in der ersten Nacht träumst!«

Ueber mir wölbte sich ein kattunener Himmel. Der eine Fensterflügel stand offen, wie um dem Mondschein einen bequemeren Weg in das Innere des wunderbaren Schweizerhäuschens zu gönnen.

Die Baumgrille zeterte noch immer. Vom See herüber drang das Concert der Frösche. Ein Jagdhund saß vor der Hausthüre und bellte den gleichmüthig zu ihm nieder schauenden Mond an. Seine tiefe Stimme gewährte mir ein eigenthümliches Gefühl der Sicherheit. Wußte ich doch, daß der steinerne Mann mit den Ziegenfüßen und die steinerne Dame mit dem Hirsch sich nicht an dem grimmigen Wächter vorbei getrauten. Aber in meine Träume hinein fanden sie ihren Weg, denn als ich nach Hannchen und Hedwig rief, da standen die beiden steinernen Gäste vor mir.

»Hannchen und Hedwig!« wiederholte ich angstvoll, und hinter den Postamenten hervor lachten mir zwei blondgelockte Engelsköpfe entgegen.

»Hier! hier!« hieß es zurück, jedoch nicht silberhell, wie aus dem als Versteck dienenden Buschwerk des Gartens, sondern rauh und heiser, wie der Gesang der Frösche und das Zetern der langbeinigen Baumgrillen, und der Marmorherr streckte seinen Ziegenfuß vor, und die Hirschdame ihren Jagdspieß, wie um mir den Zutritt zu den Zwillingsfreundinnen zu wehren.


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