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ACHTES CAPITEL. DIE LETZTEN RATHSCHLÄGE.

Nacht umgab mich, als ich aus einem wüsten, beängstigenden Traume aufschreckte. Das Gespensterschloß sammt den es umringenden Baumgruppen fiel mit dem hinter diesen aufquellenden schwarzen Gewölk zusammen. Ueber mir funkelten dagegen die Sterne. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Wie eine tiefgraue Bleifläche lag der See. Wetterleuchten spielte mit der Dunkelheit. Bald schossen bläuliche Zickzacklinien vor dem Wolkengebirge hin, bald loderte ein matter Feuerschein durch die schwüle Atmosphäre, wie wenn brechende Augen, vor dem Versinken in ewige Todesnacht, immer wieder einen letzten Anblick Dessen zu gewinnen suchen, was sie so lange erfreute und beglückte, und Dem zu entsagen ein unerbittliches Geschick sie zwingt. Die Sumpfbewohner schienen ein frohes Fest zu feiern, Glockengeläute und heiseres Krächzen vereinigte sich zu einem endlosen unharmonischen Accord.

Schwerfällig erhob ich mich, und Decke und Rock über die Schulter werfend, schlich ich nach dem Ufer hinauf. Bis zur verabredeten Stätte war nicht weit. Der Gang einer Viertelstunde, und sie lag vor mir. Indem ich mich derselben näherte, verdoppelte ich meine Vorsicht, denn von dem Candidaten und seinem verderblichen Einfluß auf die Bewohner des Schweizerhäuschens mußte ich das Schlimmste befürchten. Da huschte es hinter mir leise im Grase. Ich entsetzte mich. Bevor ich indessen Zeit gewann, mich nach der Ursache des Geräusches umzuschauen, erhielt ich einen Stoß vor die Brust, der, leicht wie er war, mich beinah umgeworfen hätte. Im nächsten Augenblick umarmte ich erleichterten Herzens des Försters Lieblingshund, der sich winselnd an mir emporrichtete. Dann umsprang er mich wieder in seiner lebhaften Weise, mich gleichsam auffordernd, ihm zu folgen.

Noch immer gegen die Wirkung des jähen Schreckens ankämpfend, wenn auch mit einem erhöhten Sicherheitsgefühl, hatte ich erst wenige Schritte zurückgelegt, als es beim Aufleuchten eines Blitzes hinter einem Baumstamm hervor mir hell entgegenschimmerte. Ob es Hannchen oder Hedwig war, die mich hier erwartete, ich wußte es nicht. Diejenige aber, welche ich in der nächsten Secunde in meinen Armen hielt, ich küßte sie als das theure Wesen, mit welchem ich den langen Tag hindurch fast ausschließlich in geistigem Verkehr gestanden, ich küßte sie als die süße bleiche Lilie, welche huldigend vor meinem Ebenbilde kniete und dadurch mich selbst zu dem Bewußtsein einer unergründlichen, zärtlichen Hinneigung gebracht hatte. Sie dagegen, die sich so fest an mich anschmiegte, deren Lippen so willig den meinigen begegneten, deren Stimme in heftigem Schluchzen erstickte, ach, sie konnte nur die Empfindungen einer reinen, unschuldvollen Seele hegen, welche plötzlich ein ihr ganzes Sein umfangendes todtes Ideal zu warmem Leben verkörpert sieht.

Und dennoch: »Du armer Freund,« tönte mir Hannchens Stimme schmerzlich entgegen – und wie hätte mein Ohr jetzt noch getäuscht werden können – »der Vater schickt mich, Beide zugleich durften wir das Haus nicht verlassen.

Hedwig ist erkrankt. Den ganzen Tag wich ich nicht von ihrer Seite, und nur begünstigt durch diesen traurigen Umstand, gelang es mir, ohne den Argwohn der Mutter zu erwecken, mich zu einem kurzen Spaziergange in's Freie hinaus zu begeben.«

»Hedwig erkrankt,« seufzte ich, und einer Anwandlung von Schwäche nachgebend, setzte ich mich in's Gras nieder, Hannchen unwillkürlich neben mich hinziehend.

»Nicht zu schwarz deute meine Worte,« tröstete das Haideröschen, sanft berührt durch die sich im Tone meiner Stimme offenbarende tiefe Besorgniß, »denn vorläufig befindet sie sich erst in einer seltsamen Aufregung, welche uns allerdings Böses befürchten läßt. Wie gewöhnlich begab sie sich in der Frühe zum Unterricht in das Schloß. Die Mutter folgte ihr später nach, kehrte indessen sehr bald wieder mit ihr heim. Seitdem hat sie viel geschlafen, jedoch unruhig, und vielfach fragte sie nach dem Vater, wohin er sich begeben habe. Mich betrachtete sie, als hätte sie bitterlich weinen mögen; und dann ergriff sie wieder meine Hand, flehend, sie nicht zu verlassen, sondern mit ihr denselben Weg zu wandeln. Der Vater und ich schweben in großer Sorge; die Mutter tröstet uns dagegen mit Worten, welche ihr bisher fremd waren. Sie dringt sogar darauf, die Aermste nicht mit Fragen zu bestürmen, sondern ihr Ruhe zum Nachdenken zu gönnen. Ach, ich fürchte, ich fürchte, die Nachbarschaft des Schlosses ist kein Segen für uns gewesen, denn nur von dorther stammt es, daß wahrhaft glückliche Stunden in unserm Hause immer seltener werden und endlich wohl ganz aufhören.«

Ich hatte die Arme auf die Kniee gestützt und das Gesicht in die Hände vergraben. Kein Wort des trauernden Haideröschens ging mir verloren, aber unnennbares Weh schnürte meine Brust zusammen, indem ich die verhängnißvolle Wirkung der Rathschläge des Candidaten erkannte.

»Wohl hast Du recht, hob ich nach einer längeren Pause an, indem ich mich wieder aufrichtete, »das Böse, welches Euch bedroht, findet nur drüben im Schlosse seinen Ursprung. Aus voller, heiliger Ueberzeugung lege ich Dir daher an's Herz, Hannchen: Wenn Dir an Deinem, an Deiner Schwester Seelenfrieden gelegen ist, wenn Du wünschest und hoffst, daß jemals wieder die alte heitere Zufriedenheit im Hause Deiner Eltern einkehre, dann biete alles in Deinen Kräften Stehende auf, den Verkehr der Deinigen im Schlosse zu stören, gänzlich abzuschneiden. Denn höre, ein Geheimniß will ich Dir anvertrauen, ein Geheimniß, welches ich zufällig erlauschte und welches nicht nur Dich und Deine Angehörigen, sondern auch mich berührt. Diejenigen, welche sich unter der Maske uneigennütziger Freundschaft bei Euch einschlichen und denen es bereits gelang, leitenden Einfluß auf die Gemüther Deiner Schwester und Mutter zu gewinnen, sie dienen jener im Finstern waltenden religiösen Gesellschaft, deren Aufgabe, die Begriffe der Menschen zu verwirren, sie demnächst durch die verwerflichsten Mittel von sich abhängig zu machen und dadurch ihre eigene Macht immer weiter auszudehnen und zu befestigen. Ja, Hannchen, sie zählen zu den Jesuiten, und dieser Name umfaßt Alles, was ich – selbst ein Jesuitenschüler – sonst noch mit Rücksicht auf die Euch drohende Gefahr anführen könnte.«

»Jesuiten,« wiederholte das Haideröschen sinnend und ohne die Tragweite der Anklagen zu fassen, welche in dieser Bezeichnung verborgen waren, »Jesuiten sind Katholiken, und welche Genugthuung oder welchen Vortheil könnte es Menschen gewähren, ihren Glauben zu verheimlichen, zu verleugnen? Und Die auf dem Schloß –« sie verstummte und schien über Begebenheiten nachzudenken, welche, bisher harmlos, plötzlich einen anderen Charakter für sie erhielten.

Weiter wagte ich mit meinen verhängnißvollen Enthüllungen nicht zu gehen. Fürchtend, leicht erklärlichem Unglauben zu begegnen, begnügte ich mich, eine unbestimmte und deshalb um so nachhaltigere Besorgniß in ihr wachgerufen zu haben zum Schutz für sie selbst, zur Wehr für ihre arme, mißleitete Schwester. Von dem in ihr reines Herz gestanzten Mißtrauen hoffte ich, daß es die ihr fehlende warnende Stimme ersetzen würde. Ihr Sinnen unterbrach ich durch die Mittheilung, daß ich die heutige Zusammenkunft gesucht habe, um auf lange, lange Zeit Abschied zu nehmen. Eintönig erklärte ich dies, eintönig und mit den Empfindungen Jemandes, welcher über sich selbst das Todesurtheil fällt. Als ich vom Scheiden sprach, fühlte ich, daß sie, wie erschreckend, meine Hand fester drückte, ohne indessen die Richtung ihrer Augen zu ändern, welche über den See hinspähten.

Lauter krächzten die Frösche, melancholischer läuteten die Glocken unten in schwarzer Tiefe. Ein Blitz, heller, als alle vorhergehenden, schaffte ein flüchtiges, in wunderbarer Beleuchtung strahlendes Zauberbild. Hannchen hatte mir ihr Antlitz zugekehrt. Der Blitz zeigte es mir in allen seinen Formen. Das Haideröschen schien sich in eine Lilie verwandelt zu haben, so bleich schimmerte es und so schwermüthig blickten die großen treuen Augen.

»Wenn Du wirklich hinaus mußt in die Welt,« klagte die traute Stimme, »darf Niemand Dich zurückhalten. Nein, nie würde ich es versuchen, obwohl gerade mir Deine Nähe am tröstlichsten wäre. Und dann Deine ungewisse, wohl gar gefahrvolle Lage und der Mangel eines bestimmten Zieles, und endlich: Wo liegt unser Wiedersehen?«

»Wo liegt unser Wiedersehen?« wiederholte ich schmerzerfüllt, »wie finde ich einen Ausweg aus den mich labyrinthisch umschließenden Wirren? Ein Ziel winkt mir wohl in weiter, weiter Ferne, ein schönes verlockendes Ziel, aber so traurig verschleiert, daß ich meine Blicke nicht zu ihm zu erheben wage.«

Ich verstummte; wie ein heiliges Geheimniß ruhte in meiner Brust Alles, was ich innerhalb des letzten Tages theils mit eigenen Augen beobachtete, theils mir enträthselte. Wie ein Geheimniß, dessen Kundwerden gleichbedeutend mit der Entweihung der unschuldreinen Lilie.

Wir hatten uns erhoben. Ein Weilchen blickten wir noch auf den See hinaus, wie zählend die Blitze und berechnend, zu welchem jeder einzelne der dumpf in einander rollenden Donner gehörte, dann bewegten wir uns langsam dem Schweizerhäuschen zu. Wir gingen Arm in Arm. Nur kurze, innige Bemerkungen und Versprechen tauschten wir aus. Zu längeren und zusammenhängenderen Gesprächen waren wir zu tief bewegt.

In der Nähe der Försterei schieden wir von einander. Wie einst als Kinder, so schieden wir auch heute unter Thränen.

Die Hoffnung auf Wiedersehen war dagegen nicht die zuversichtliche von damals. Das sagten wir uns, als Hannchen gesenkten Hauptes sich heimwärts wendete, ich aber zerknirscht mich an einen Baum lehnte, um den Förster zu erwarten. Wäre in jenen Minuten der Candidat vor mich hingetreten, mit einem Aufschrei der Wonne würde ich mich auf ihn gestürzt, in Ermangelung der Waffen mit meinen Zähnen ihn zerfleischt, mit teuflischem Hohnlachen versucht haben, ihm das zuckende, verbrecherische Herz aus der Brust reißen. Dem Burgfräulein, oder gar deren greisem Vater zu fluchen, das gewann ich nicht über mich. Ein Haß dagegen, wie ich ihn Demjenigen nachtrug, der mich in die Lage gebracht hatte, wie ein Geächteter das vor mir liegende Schweizerhäuschen mit seinen vertrauten Räumen und den theuern Bewohnern meiden zu müssen, der war unergründlich, schnitt tief in mein ganzes Leben ein.

Wie lange ich so dagestanden habe, ich weiß es nicht. Und dennoch meinte ich, daß Hannchen eben erst von mir fortgetreten sei, als des Försters Schritte vernehmlich zu mir herüberschallten und gleich darauf er mit herzlichem Gruß mir die Hand drückte.

»Du willst aufbrechen, wie Hannchen mir sagte,« hob er mit gedämpfter Stimme an und langsam schritten wir dem Uferabhange zu, wo ich mit dem Haideröschen gesessen hatte, »nun, ich halte Dich nicht; aber Glück auf den Weg wünsche ich Dir. Auch ich wanderte einst von Ort zu Ort, und oft wußte ich nicht, wohin ich mein Haupt legen sollte; allein mein gutes Glück führte mich immer wieder zu Menschen, welche mich freundlich aufnahmen, mir ihren guten Rath nicht vorenthielten. So wird es auch Dir ergehen. Verliere daher den Muth nicht, wenn's nicht gleich nach Wunsch geht; und das Unglück Anderer nimm Dir nicht so sehr zu Herzen, daß Du Dich selbst darüber vergißt.«

Seine Stimme klang heiser. Es verrieth sich in derselben, daß er mich für zu jung hielt, ihm in seinem tief empfundenen Leiden als rächender Freund zur Seite zu stehen. Ich aber, der ich bisher entschlossen gewesen, das, was ich in dem Schloß beobachtete, ihm, wenn auch nur theilweise anzuvertrauen, fühlte meinen Muth sinken. Ich begriff, daß ich auch ihm gegenüber meine Erlebnisse verheimlichen mußte, wollte ich ihn nicht zum Aeußersten treiben und eine Katastrophe herbeiführen, welche vielleicht mit dem Untergange der ganzen Familie endigte.

»Wie viel Geld hast Du?« fragte Wallmuth nach einer längeren Pause, denn auf seine erste Anrede stand mir nicht gleich eine Erwiderung zu Gebote.

Ich nannte eine kleine Summe.

»Das ist nichts,« versetzte er, »nein, das ist nichts; ich habe etwas mitgebracht, wenigstens so viel, wie ich entbehren kann, und das will ich Dir vorschießen um der Anhänglichkeit willen, welche Du uns Allen bewahrtest, um der Anhänglichkeit willen, welche Du in dem Hause meiner Schwiegermutter und in dem meinigen fandest. Kannst Du's mir gelegentlich zurückerstatten, so ist es gut; andernfalls habe ich mein Geld nicht an einen unredlichen Menschen verloren. Und noch mehr: Wärest Du ein so hartgesottener Sünder, wie nur je einer die eisernen Sprossen seines Kerkers durchfeilte, würde ich dennoch mit Freuden mein Letztes hingeben, um Dich den Fingern Derjenigen zu entziehen, welche mit Dir irgend einen besonderen Zweck und schwerlich einen guten im Auge haben. Hannchen hat Dir anvertraut, in welchem Zustande ihre Schwester heute früh heimkehrte?«

»Sie schilderte es mir,« antwortete ich zaghaft, denn im Geiste sah ich die Bewohner des Schlosses, von der Büchse des Försters getroffen, in ihrem Blute schwimmen. »Aber auch ich hielt mit meinen Ansichten nicht zurück –«

»Und die waren?« – fiel Wallmuth heftig ein, indem er mich mit seiner eisernen Faust an der Schulter packte.

»Ich rieth ihr, über die arme Hedwig zu wachen, nie zu dulden, daß sie ohne Begleitung die Schwelle des Schlosses überschreite«, versetzte ich entschiedener. »Auf meine eigene Vergangenheit mich berufend, warnte ich sie vor den Einflüssen des Candidaten wie vor denen des Fräuleins.«

»Gut, gut,« billigte Wallmuth, »Du hast mir aus der Seele gesprochen, und so soll es geschehen. Ich selber will eine Grenze zwischen dem Schloß und der Försterei aufrichten – mag daraus folgen, was da wolle – welche ohne mein Wissen Niemand – nein – Niemand zu überschreiten wagt.«

Nach Kundgebung dieses Wechsels der am vorigen Tage ausgesprochenen Absichten athmete ich erleichtert auf. Seine ruhige Entschlossenheit erschien mir als die sicherste Bürgschaft für die Zukunft.

»Dann müssen die guten alten Zeiten wiederkehren,« bemerkte ich ermuthigend, »und ich nehme die Hoffnung mit, bei meinem nächsten Besuche in dieser Gegend ähnliche heitere Tage auf der Försterei zu verleben, wie damals, als ich mit der getreuen Pflegerin meiner Kindheit hier einzog.«

»Wir wollen's hoffen, ja, wir wollen's hoffen,« versetzte Wallmuth aus vollem Herzen, »aber Du mahnst mich, daß wir von einander scheiden müssen – eigentlich keine günstige Zeit, eine Gewitternacht, allein das Unwetter scheint nicht heraufzukommen, und ein kräftig ausgewachsener Bursche, welcher in die Welt hinaus will, darf nicht zaudern, wenn's über ihm etwas leuchtet.

»Ja, Junge, Dein Weg ist der weiteste, und je eher Du hier verschwindest, um so besser für uns Alle. Verrath lauert überall und gewöhnlich da am eifrigsten, wo man ihn am wenigsten vermuthet. Hast zwar nichts begangen, wofür Du die Gerichte zu fürchten brauchtest, allein es spüren Hunde hinter Dir her, welchen ein gewisses Recht zur Seite steht, oder man hätte überhaupt nicht gewagt, Dich von der alten Frau und dem Gensdarmen zu trennen. Dein nächster Weg führt zu ihnen?«

»Ich sehne mich nach ihnen mit ganzem Herzen; ich muß sie wiedersehen, muß ihnen Lebewohl sagen, bevor ich von dannen ziehe.«

»Recht so, das klingt nach Aufrichtigkeit. Hüte Dich indessen vor Deinen Verfolgern, daß Du ihnen nicht zum zweiten Male in die Hände fällst. Wer weiß, wozu sie Dich benutzen möchten. Schon eher erlebte man, daß junge Leute, welchen kein rechtschaffener Rathgeber zur Seite stand, durch ränkevolle Menschen um ihren ehrlichen Namen gebracht wurden.«

»Wenn Hedwig ebenfalls aus dieser Gegend verschwände; bei ihrer Großmutter würde sie gewiß ein glückliches, friedliches Unterkommen finden,« bemerkte ich tief aufathmend, als ob einer der bläulich zuckenden Blitze plötzlich meinen Geist erhellt habe.

»Gott segne Dich für diesen Gedanken,« rief Wallmuth aus, mich wiederum heftig an der Schulter packend, »ja, fort von hier mit dem Kinde, bis die Zeiten sich geändert haben. Und wo wäre das Mädchen besser aufgehoben, als in demselben Hause, an demselben Tische und unter derselben Obhut, in welcher ihre eigene Mutter groß gezogen worden? Wenn's auch einen Kampf kostet, der muß durchgefochten werden, und müßte ich – was bisher nie geschah – mich darauf berufen, daß ich Herr im Hause. Aber noch einmal: Gott segne Dich auf allen Deinen Wegen, und mag's Dir gut oder schlecht ergehen, vergiß nicht die Försterei und daß hier treue Herzen für Dich schlagen.«

Wir waren auf der Stelle eingetroffen, auf welcher ich Decke und Rock niedergelegt hatte. Meine Blicke schweiften wieder über den glatten Spiegel des See's. Kein Lüftchen regte sich. Die Unken und Frösche schienen ihre Kehlen zersprengen zu wollen. Bis zum Zenith hinauf hatte das wetterleuchtende Gewölk sich ausgebreitet. Auf der anderen Hälfte der Himmelsdecke erbleichten die Sterne vor der Wirkung des dem Walde entsteigenden Mondes. Das Schloß lag schwarz und still, wie ausgestorben da.

»Den Kutscher sprach ich,« hob der Förster nach einer längeren Pause ernsten Schweigens an; »er möchte Dich in der That vor Deinem Aufbruch sehen. Nun, Gefahr ist nicht dabei und 'nen guten Rath von einem erfahrenen alten Mann soll man nie verschmähen. Außerdem legt der wunderliche Kauz hohes Gewicht darauf, mit Dir ungestört zu bleiben. Säume indessen nicht zu lange bei ihm. Mit Tagesanbruch mußt Du im Städtchen sein. Dort kennt Dich Niemand; Du magst daher unangefochten den Hauderer benutzen.«

Wir hatten uns wieder in Bewegung gesetzt und beständig das Ufer des See's haltend, näherten wir uns langsam dem Schlosse. Mechanisch spürte der Hund dicht um uns herum. Das Donnern hatte sich erst wenig verstärkt; aber zusammenhängender war es geworden, so daß die schnell auf einander folgenden Blitze ihre liebe Noth gehabt hätten, das dumpfe Rollen, je nach ihrer Leuchtkraft, unter sich zu theilen, ohne den einen oder den andern zu beeinträchtigen.

Kurz bevor wir um das die Landstraße begrenzende Stallgebäude herumbogen, nahm Wallmuth die Jagdtasche von seiner Schulter. »Sie ist zwar längst außer Dienst gestellt,« bemerkte er gutmüthig, mir den alten Dachs über die Schulter streifend, »allein so lange, wie Du sie gebrauchst, hält sie wohl noch. Außer den Erquickungen findest Du 'n paar Stücken Wäsche d'rinnen – Hannchen hat an Alles gedacht – und ganz unten in dem Seitentäschchen steckt ein Beutelchen mit Geld. Verlier's nicht, sondern verbrauch's mit Gesundheit. Denke, es käme von einem Verwandten, und eine Art Verwandtschaft besteht ja zwischen uns, das läßt sich nicht ableugnen. Nimm's also und mache Dir kein Gewissen daraus. Verdammt! wenn wir Einer dem Andern nicht helfen wollten, wie sollten wir durch's Leben kommen? Du aber, ein junges unerfahrenes Blut, bist noch besonders verpflichtet, den Beistand guter Freunde hinzunehmen, damit Du den rechten Weg nicht verfehlst. Manch lustiger ehrenwerther Bursche ist daran zu Grunde gegangen, daß Mangel und Noth ihn in schlechte Gesellschaft stürzten, und dann war es zu spät.«

Diese Worte des biederen, wohlwollenden Freundes milderten das peinliche Gefühl, erzeugt durch das Bewußtsein, daß er selbst in keiner glänzenden Lage lebte, sondern das Seinige streng zusammenhalten mußte. Ausdrücke des Dankes standen mir indessen nicht zu Gebote; für mich wären sie beschämend, für Wallmuth wohl gar verletzend gewesen.

Gleich darauf schritten wir an den beiden Marmorstatuen vorüber.

Wie um sie mir noch einmal, vielleicht zum letzten Mal in meinem Leben, deutlich zu zeigen, sandte der Mond zwischen den sich bereits vor dem Gewittersturm regenden Baumwipfeln hindurch seine zitternden Strahlen auf die regungslosen Gestalten. Da standen sie starr und steif, und dennoch – in Folge der beweglichen Beleuchtung – als hätte Leben in ihnen gewohnt, als wäre die Jägerin im Begriff gewesen, mit ihrem Jagdspieß meine Brust zu durchbohren, während ihr ziegenfüßiger Gefährte die größte Lust zu hegen schien, die Flöte fester an seine Lippen zu legen und mit dem lustigsten Stückchen seiner bizarren Phantasie mir das Geleite zu geben. Auf seinem bockähnlichen Antlitz erzeugten Licht und Schatten ein eigenthümliches schadenfrohes Grinsen. Es erinnerte mich an das seltsame Lächeln, mit welchem der verkappte Jesuit die verbrecherischen Küsse in Kreuzesform auf Hedwigs engelreines Antlitz drückte.

»Nimm Dir nicht Alles zu sehr zu Herzen,« bemerkte der Förster mit rührender Weichheit, als ich, von Grauen erfüllt vor den in meiner Seele auftauchenden Schreckbildern, meine Hand unwillkürlich auf seinen Arm legte und näher zu ihm herantrat. »Du bist ein rüstiger junger Mann, hast etwas gelernt, und bist Du erst in Sicherheit und der Anfang ist gemacht, läßt auch der alte Frohsinn nicht lange auf sich warten.«

»Das Scheiden von treuen, lieb gewonnenen Menschen ist keine leichte Aufgabe,« suchte ich meine unwillkürliche Bewegung zu erklären. Zugleich vergegenwärtigte ich mir schaudernd, daß wenn Wallmuth den wahren Grund geahnt hätte, die aufgehende Sonne sich vielleicht in dem gewaltsam vergossenen Blute des Candidaten spiegelte.

»Um so schöner das Wiedersehen,« ermuthigte er dagegen jetzt, doch lag im Tone seiner Stimme, daß die Hoffnung auf ein solches keine sehr zuversichtliche.

Er klopfte an eins der die lange Stallmauer in größeren Zwischenräumen unterbrechenden dunkeln Fensterchen. Ein ähnliches Klopfen auf der Innenseite antwortete; dann schritten wir langsam nach dem anderen Thorwege hinüber.

Das Brausen in den Baumwipfeln hatte sich unterdessen verstärkt. Bald hier, bald dort ertönte das Geräusch eines schwer auf die Blätter niederschlagenden vereinzelten Regentropfens. Der Donner rollte unablässig; bläuliche Zickzacklinien kreuzten sich in schneller Folge vor den schwarzen, mit silbernen Mondlichträndern geschmückten Wolkenbergen. Der Mond selber verschwand hinter dem sich über ihn hinsenkenden düsteren Schleier.

»Das Gewitter zieht herauf,« bemerkte Wallmuth nachdenklich, »und es wäre doch wohl rathsam, zwischen dem Gemäuer ein Plätzchen auszukundschaften, wo Du auf ein Stündchen gutes Unterkommen fändest.«

In demselben Augenblick trat Seltsam aus dem Schatten des Thorweges, uns in seiner mürrischen Weise begrüßend.

»Ich sprach vom Gewitter,« redete Wallmuth ihn alsbald an, »und daß es keine günstige Zeit zum Antritt einer Reise.«

»'s geht schnell genug vorüber,« versetzte Seltsam, »ist's dem jungen Herrn gefällig, sich zu mir in den Pferdestall zu verfügen? – wir sind dort sicher, nicht gestört zu werden, und trocken sitzen wir ebenfalls. Und was wir mit einander zu plaudern haben, ist nicht in fünf Minuten erledigt.«

Ohne Säumen erklärte ich mich bereit; dann trat ich noch einmal dicht vor den Förster hin. Ich wollte ihm meinen Dank für seine treue Freundschaft aussprechen, als er meine Hände ergriff und dadurch mir das Wort abschnitt.

»So ziehe denn mit Gott Deines Weges,« sprach er ernst, »denn ohne ihn geht's doch nun einmal nicht, und bist Du erst in der Fremde, dann gedenke meiner und der Meinigen stets mit der alten Anhänglichkeit – glaube mir, wir Alle verdienen das.«

»Grüßen Sie Hannchen,« flüsterte ich ihm zu, »und wenn Hedwig und die Mutter erfahren dürften, daß ich ihnen so nahe weilte –«

»Dazu wird sich wohl Gelegenheit finden,« fiel Wallmuth rauh ein, denn unabsichtlich hatte ich ihn daran erinnert, daß das alte hingebende Vertrauen, diese Hauptbedingung eines glücklichen Familienlebens, in seinem Hause keine Stätte mehr besaß, »ja, sie wird sich finden, und ist's nicht heute oder morgen, so ist's zu einer späteren Zeit.«

Ein leuchtender Blitz blendete meine Auge. Ein heftiger Donnerschlag erschütterte den Erdboden. Wallmuth war hinter dem Stallgebäude verschwunden. Seltsam zupfte mich am Rock, und diesem stummen Wink folgend, schritt ich an seiner Seite nach dem Hofe hinauf.


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