Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

FÜNFTES CAPITEL. DER SCHLOSSHERR.

Der Wendepunkt meines Lebens fällt in jene Tage meines Aufenthaltes auf der gastlichen Försterei. Ich gedenke ihrer und kaleidoskopisch wechselnd in ihrem Farbenspiel schwirren durch einander grüne Bäume und goldene Saatfelder, graues Mauerwerk und stille Wasserspiegel, Büchsenknall und Rehwild, Drosselgezirpe und Hundegebelle, helles Kinderlachen und geheimnißvoller Unkenruf.

O, dieser Unkenruf: Warum zog es mich immer und immer wieder nach dem unergründlichen, erlenumkränzten See hin, wenn Hannchen und Hedwig hinter den düsteren Mauern des Gespensterschlosses den Lehren des bleichen Fräuleins, oder den Erzählungen des schwarzen Candidaten lauschten und ich daher auf mich allein angewiesen war? Denn mit ihnen hineingegangen wäre ich um keinen Preis, obwohl die Neugierde mich mächtig trieb, einen Blick in die Gemächer hinter den schwer verhangenen Fenstern zu werfen. Ich träumte mit offenen Augen, daß alle Bände mit Bilderbogen tapezirt wären, aber nicht mit solchen, wie sie die Wohnung der Winkelliese schmückten, sondern alle bemalt mit geharnischten Rittern und verzauberten Burgfräuleins. Meine Scheu und Abneigung, dem schwarzen Candidaten oder der Dame des Hauses zu begegnen, überwogen indessen alle anderen Empfindungen. Nur langsam wagte ich, am Rande des See's unter den Erlen hinschleichend, von Tag zu Tag dem Schloß etwas näher zu rücken. Ich lauschte dann dem Unkenruf, meinend, daß auf dem Boden des See's Glocken geläutet würden und heiser krächzende Frösche in Reih und Glied ihrem Versammlungsorte in dem feuchten Reiche zuwanderten, und keine sich auf einem Schilfhalm sonnende Libelle entdecke ich, welche mir nicht als eine lustige Vermittlerin zwischen den grauen Mauern und den Glocken in der Tiefe erschienen wäre.

Am achten oder neunten Tage war ich endlich so weit gelangt, daß ich den schmalen, zwischen Schloß und See angelegten Garten zu übersehen vermochte. Breite, kiesbestreute Wege, Rasenstreifen und hundertjährige Bäume mit eng in einander verschlungenen Kronen bildeten denselben. Ein Altan, getragen von schwer zerstörbaren Eichenbalken, ragte vom hohen Ufer über den See hinaus. Nichts rührte sich in dem Garten. Thüren und Fenster waren geschlossen; selbst die gewaltigen Bäume schienen in einen tiefen Zauberschlaf versunken zu sein. Dadurch kühner gemacht schlich ich weiter und weiter, sorgfältig darauf achtend, daß nach der Schloßseite hin Buschwerk und Wurzeln mich beständig verbargen, bis ich endlich zwischen Schilf und Gestrüpp hindurch unter dem Altan eintraf. Von allen Seiten geschützt, war es ein behagliches Plätzchen, doch hatte daselbst seit undenklichen Zeiten kein anderes Wesen, als Wasserratten, Frösche und landwärts marodirende Krebse gehaust. Auch schien es nur zur Zeit des dürren Hochsommers und bei sehr niedrigem Wasserstande zugänglich zu sein.

Mit der natürlichen Neugierde eines dreizehnjährigen Knaben und frei von kindischer Furcht prüfte ich meine Umgebung. Verrostete Haken und Ringe in dem den Altan stützenden Mauerwerk hatten offenbar einst zum Befestigen von Booten gedient. Indem ich mich aber dem Schloß zukehrte, entdeckte ich zu meinem Erstaunen zwischen Schierlingsstauden und Binsen hindurch den Eingang zu einem Gewölbe, welches sich bis unter das Schloß zu erstrecken schien. Es war ersichtlich, diesen verdeckten Kanal hatte man einst zu dem Zweck angelegt, das Schloß mittelst eines leichten Kahns unbemerkt verlassen und ebenso wieder hinein gelangen zu können.

Die helle Nachmittagssonne brannte auf den glatten Spiegel des See's nieder und erzeugte in dem unterirdischen Gange eine gedämpfte Helligkeit. Ohne bestimmte Absicht und mehr einem dunkeln Triebe folgend, trat ich in denselben ein, mich behutsam auf dem feuchten Boden vorwärts bewegend. Der anfänglich schwankende Muth wuchs mit meiner Neugierde, zumal meine Augen sich sehr bald an das eigenthümliche Dämmerlicht gewöhnten und ich nicht nur alle Gegenstände ringsum zu unterscheiden, sondern auch mit einigen Sprüngen wieder in's Freie hinauszueilen vermochte. Das auf manchen Stellen bereits schadhafte Mauerwerk war mit Moos oder Schimmel überzogen. Den nieder gebrochenen Steinen war loses Erdreich nachgerollt; dieses aber hatte das Wasser, zusammen mit dem mitgeführten Schlamm, über die ganze Bodenfläche vertheilt und geebnet und dadurch das frühere, jetzt trockene Kanalbett wesentlich erhöht. Nach Zurücklegung von etwa zwanzig Schritten erreichte ich das Ende des Gewölbes. Mehrere Sandsteinstufen lagen vor mir. Dieselben führten nach einer schmalen, mit breitköpfigen, verrosteten Nägeln dicht beschlagenen Thüre hinauf. Das alterthümliche, für einen gewaltigen Schlüssel berechnete Schloß erregte vorzugsweise meine Aufmerksamkeit. Mechanisch fuhr ich mit dem Zeigefinger den vor demselben auslaufenden, wunderlich geformten, vom Rost zerfressenen Arabesken nach. Das ursprünglich stark geschmiedete Metall bog sich und bröckelte unter meiner Berührung. Ebenso gab das morsche Holz zwischen den Beschlägen leicht jedem auf es ausgeübten Drucke nach.

Im Begriff, den heimlichen Aufenthaltsort zu verlassen, entdeckte ich auf meiner Hand, indem sie in dem dunkelsten Winkel vor dem Schloß vorüberglitt, einen scharfbegrenzten Lichtschein. Von dem phosphorischen Leuchten verwesender Pflanzenstoffe hatte ich eine unbestimmte Ahnung; ich überzeugte mich indessen leicht, daß meine erste Muthmaßung eine falsche, dagegen der Schein durch das Schlüsselloch drang und von einem auf der andern Seite der Thür befindlichen Licht herrührte. Klopfenden Herzens näherte ich mein Auge der Oeffnung. Einige Secunden suchte ich; dann sah ich gerade in die Flamme einer niedrigen, seltsam geformten silbernen Lampe hinein. Anfangs war ich geblendet. Allmählich aber unterschied ich deutlicher die in den sehr beschränkten Gesichtskreis hineinragenden Gegenstände. Nur nach oben hin wurden sie von der ruhigen, röthlichen Flamme gestreift; nach unten fiel Alles mit dem in dem abgeschlossenen Raume herrschenden Dämmerlicht zusammen. Die Lampe stand auf einem Tisch, dessen Füße durch eine schwarze, reich mit Silber gestickte Decke verborgen wurden. Hinter der Lampe und anscheinend in einer Wandnische bemerkte ich einen silbernen Kelch, welchen goldene Strahlen in Sternform umgaben. Oberhalb des Kelches hing ein Bild, darstellend die Jungfrau Maria mit dem Christuskinde, umringt von zahlreichen Engelsköpfen.

Zu beiden Seiten der Lampe waren zwei anscheinend silberne Statuen hingestellt worden, alte kahlköpfige Männer in langen Bischofsmänteln. Der eine trug einen gewaltigen Schlüssel, der andere ein breites Schwert. Auch Theile von silbernen Armleuchtern sah ich, und ein aufgeschlagenes und ein geschlossenes Buch.

Lange und aufmerksam betrachtete ich die wunderbare Scenerie. Sie erinnerte mich wohl an den Altar in unserer Dorfkirche, und doch war sie gänzlich verschieden von demselben. In Gedanken des biederen Hänge Worte wiederholend, daß Furcht und Grauen nur eine Krankheit seien, spähte und lauschte ich. Zugleich sagte ich mir, daß da, wo ein Licht brenne, auch Menschen seien; ich hoffte sogar von einer Minute zur andern, Hannchen und Hedwig eintreten zu sehen, um den düstern Kellerraum mit ihrem hellklingenden, melodischen Lachen zu erfüllen. Doch Alles blieb still; nicht einmal die Flamme der Lampe regte sich. Sie war so ruhig, als sei sie mit Feuerfarbe unterhalb der Kelchnische auf die Wand gemalt gewesen.

Die in dem feuchten Kanalgange herrschende Kühle, vielleicht auch eine Anwandlung von Grauen, erzeugt durch die lautlose Stille ringsum, machte mich frösteln. Leise schlich ich von den Stufen hinunter, und erleichtert seufzte ich auf, als ich unter dem Altan hindurch den im Sonnenschein glitzernden und schillernden See wieder vor mir liegen sah. Ich war entzückt über das bestandene Abenteuer, begriff indessen kaum, wie ich so lange die warme sonnige Atmosphäre mit dem Aufenthalt an dem unheimlichen Orte hatte vertauschen können.

Unter dem Altan lauschte ich wieder. Nicht das leiseste Geräusch, welches die Nähe von Menschen verkündete, drang zu mir. Ich schlüpfte daher nach dem Ufer hinauf, um, über den Altan fortschleichend, einen flüchtigen Blick auf das Schloß und über den stillen See zu werfen. Behutsam bahnte ich mir einen Weg zwischen Jasmin- und Fliederbüschen hindurch. Die Blicke hielt ich beständig auf das altersgraue, mit zwei vorspringenden Flügeln versehene Schloß gerichtet, um beim ersten Erscheinen eines lebenden Wesens in den Thüren oder an einem der zahlreichen Fenster sogleich die Flucht zu ergreifen. Kaum aber hatte ich den ersten Schritt auf dem bisher außer Acht gelassenen Altan zurückgelegt, als ich seitwärts von mir einen Stuhl rücken hörte.

Entsetzt blieb ich stehen, und mich nach dem Geräusch umkehrend, erblickte ich einen hoch gewachsenen alten Herrn mit starkem weißem Vollbart, der bei meinem unerwarteten Erscheinen von seinem Sitz aufgesprungen war und, wie um mich zu ergreifen, beide Arme nach mir ausstreckte. Wie aber sein Anblick mich förmlich lähmte, daß ich nicht wagte, mich von der Stelle zu rühren, so mußte auch ich in meinem Aeußeren für ihn etwas Befremdendes, Fesselndes haben; denn indem ich ihm mein Gesicht zukehrte, blieben seine Hände in der Luft schweben, als sei er plötzlich versteinert worden, während seine tiefliegenden blauen Augen sich mit unverkennbarem Erstaunen in die meinigen einbohrten.

So standen wir wohl eine Minute einander regungslos gegenüber. Nicht einmal an's Entlaufen dachte ich vor Schrecken; nur anstarren konnte ich den Greis, dessen äußere Erscheinung bis in die kleinsten Theile hinein sich unauslöschlich tief meinem Gedächtniß einprägte.

Als habe in den Räumen des Gespensterschlosses eine giftige Atmosphäre geherrscht und schädlich auf dessen Bewohner eingewirkt, zeigte auch das Antlitz des alten Herrn eine wahre Leichenfarbe. Dieselbe bildete gewissermaßen eine Abstufung zu dem weißen Bart und dem ergrauten Haar, welches in noch starken Locken unter dem goldgestickten blauen Sammetkäppchen hervorquoll. Seine Züge waren hager und daher scharf, ohne indessen durch die tiefen Runzeln in ihrem Ebenmaß wesentlich beeinträchtigt zu werden. Vorzugsweise fielen mir auf die zwischen den vor Erstaunen leicht geöffneten Lippen sichtbaren gesunden Zähne, und vor Allem der Blick, in welchem sich neben einem gewissen ängstlichen Wohlwollen eine Art schmerzlicher Stumpfheit ausprägte.

Trotz der Sommerhitze trug er einen ihm bis auf die Füße niederreichenden, mit kostbarem Pelzwerk gefütterten blauen Sammetrock, welcher mittelst dicker schwarzer Schnüre und schwarzübersponner Knebel auf der Brust zusammengehalten wurde.

Endlich erwachte er aus der Erstarrung, in welche ihn mein Anblick versenkt hatte. Die Arme fielen schlaff an seinem Körper nieder, und sich mir zuneigend, fragte er flüsternd:

»Unglückseliger, woher kommst Du?«

»Vom Försterhause,« antwortete ich offen, wenn auch bebenden Herzens, »der See gefällt mir, ich glaubte, es sei gestattet, von hier aus die Tauchenten zu betrachten. Auf anderen Stellen raubt das Schilf mir die Aussicht.«

»Wie heißt Du?« fragte der alte Herr weiter und seine Stimme bebte eigenthümlich.

»Baldrian Indigo,« erwiderte ich fest.

»Und wer ist Dein Vater?«

»Der Gensdarm Hänge.«

»Aber Deine Mutter?«

»Die Leute nennen sie Winkelliese, sie heißt aber Frau Winkler. Sie ist zum Besuch drüben beim Förster.«

Der alte Herr wiegte sinnend das Haupt, sah vor sich nieder und dann mir wieder in die Augen.

»Gensdarmen sind auch Menschen und oft sehr listige,« bemerkte er geheimnißvoll, »wo sie selbst keinen Eingang finden, dahin schicken sie ihre Kinder, um Alles auszukundschaften.«

»Daran hat der Gensdarm Hänge nie gedacht,« versetzte ich trotzig.

»Gut, gut, mein Kind,« entgegnete der alte Herr, indem er meine Hand ergriff, »klein, wie Du bist, in Dir wohnt ein männlicher Geist. Deine Ahnen hätten Ursache, stolz auf Dich zu sein, allein Gensdarmen haben keine Ahnen, noch weniger Ahnenbilder. Doch Du magst mich begleiten; ich will Dir Ahnenbilder zeigen, wie sie ehrenfester noch nie auf Leinwand oder Holz gemalt wurden. Du sollst sie bewundern, wie sie stolz und kühn aus ihren Rahmen schauen. Keinem von ihnen siehst Du es an, daß hinter dem Stahl-Harnisch und dem Lederkoller das Herz vor Kummer und Gram brechen möchte. Aber es geht nicht anders; Ehre und unverfälschtes Blut verlangen ihre Opfer.«

So sprechend bewegte er sich auf das Schloß zu, mich mit sich fortziehend.

Obgleich ich den Sinn der mir unvergeßlich gebliebenen Worte nicht verstand, war die Wirkung derselben auf mich, namentlich des geheimnißvollen Tones, eine solche, daß ich meinte, einen Irrsinnigen vor mir zu sehen. Mit Grausen gedachte ich des Altars in dem Kellerraum und daß er vielleicht die versteckte Absicht hege, mich auf demselben zu opfern, zumal ich das Wort ›Opfer‹ deutlich heraus gehört hatte. Nichts war daher natürlicher, als daß ich mich sträubte und meine Hand seinem festen Griff zu entziehen suchte.

Doch er ließ nicht los, sondern mit den zarten weißen Fingern der freien Hand über meine wilden Locken hinstreichend – ich war seit meinem Zusammentreffen mit ihm unbedeckt geblieben – fragte er strenge:

»Fürchtest Du Dich etwa? Sollte ich mich in Dir getäuscht haben und Dein Antlitz eine Lüge sein. Du bist zwar ein Gensdarmenjunge, trotzdem hielt ich Dich für einen Mann.«

Diese Worte, zusammen mit der zuversichtlichen Hoffnung, im Fall der Noth nur schreien zu brauchen, um von den beiden im Schloß befindlichen Gespielinnen gehört zu werden, gaben mir meinen Muth zurück.

»Ich fürchte mich vor nichts,« versetzte ich trotzig, und dicht neben ihn hintretend, begleitete ich den alten Herrn nunmehr willig nach dem nächsten Seitenflügel des grauen Gebäudes hinüber. Bevor er die nur angelehnte Thür ganz öffnete, redete er mich noch einmal an.

»Ich liebe es nicht, wenn zu viele Schritte in den Gängen meines Hauses widerhallen,« sprach er, mit dem Finger gutmüthig drohend, »richte Dich daher nach mir, stelle Deine Füße leise und zugleich mit den meinigen nieder –«

»Tritt halten?« fragte ich stolz, mich des Exercirreglements meines alten Lehrers, des Hänge-Gensdarm, entsinnend.

»Tritt halten,« bestätigte der Greis verstohlen kichernd, »ei sieh den Gensdarmenjungen; auch ich war einst Soldat, ein lustiger, leichtsinniger –

»Komm,« fügte er rauh hinzu, als habe er an eine noch blutende und ihn schmerzende Wunde gerührt, »komm, schweige und thue genau, was ich Dich heiße.«

Gleich darauf befanden wir uns in einem breiten, mit Sandsteinfliesen belegten Flurgange, in welchem mir die Luft kalt und eisig, wie aus einem Keller, entgegenströmte. Derselbe erhielt sein dürftiges Licht durch die Glasthüre. Ich entdeckte daher erst nach einigen Schritten, daß in regelmäßigen schmalen Zwischenräumen vor Alter schwarze Oelgemälde und Hirschgeweihe auf den Wänden abwechselten. Indem ich aber pünktlich auf die Tritte meines Führers achtete und er mich schnell mit sich fortzog, blieb mir nicht Zeit, Das, was sonst meine Aufmerksamkeit auf's Höchste gefesselt hätte, genauer zu betrachten.

In der nächsten Minute erreichten wir eine wenig umfangreiche Vorhalle, in welche eine nach den oberen Stockwerken führende steinerne Wendeltreppe mündete. Die Stufen waren bereits tief ausgetreten, und wie auf dem Flurgange, schmückten auch hier Jagdtrophäen mancher Art die Wände. Ebenso bemerkte ich Bilder, auf welchen, wie von Kinderhänden gemalt, die unmöglichsten Jagdabenteuer dargestellt waren.

Wie ich in den zweiten Stock hinaufgelangte, ich weiß es nicht. Vor meiner Seele schwebten geharnischte Ritter, welche allein nach meiner Ueberzeugung mit ihren eisernen Stiefeln die festen Steine so tief ausgehöhlt haben konnten. Mir war, als hätte ich eben den Fuß auf die erste Stufe gestellt gehabt, und schon öffnete der alte Herr die sich unhörbar in ihren Angeln drehende Thür einer geräumigen Halle.

»Dies ist meine Kirche,« sprach er fast heiter, nachdem er die Thür hinter uns abgeschlossen hatte; »hierher begebe ich mich, um meine Andacht zu verrichten, das heißt, ich betrachte mir die Helden, die unter dem großen protestantischen Schwedenkönige ihr Blut für die geläuterte Lehre des braven Wittenberger Mönchleins vergossen. Meine Vorfahren gehörten nämlich zu den Ersten, welche sich kühn zu jener neuen Lehre bekannten und – Gott sei gelobt – bis heute hat sich noch kein einziger ihrer Nachkommen seiner Ahnen unwürdig gezeigt.

»Ja, Kind, sieh Dir die alten Herren genau an,« fuhr mein seltsamer Begleiter nach einer kurzen Pause lebhafter und erregter fort, indem er mich langsam von einem der ringsum an den Wänden hängenden Portraits nach dem andern hinzog; »sie sind längst in Staub und Asche zerfallen; ihr Stolz und ihr Name leben aber noch – ihr Name wird freilich mit mir zu Grabe getragen, und ihr Stolz –«

Er lachte, daß es schauerlich durch den weiten Raum hallte. Entsetzt blickte ich um mich. Die ernsten Gesichter hatten ihre Augen auf mich gerichtet. Wohin ich sah, überall begegnete ich Blicken, wie ich sie an Fräulein Thekla bereits kennen und scheuen lernte. Hier auf der Leinwand, wie dort im Leben, waren sie starr und kalt und doch wieder so durchdringend. Meine Phantasie gerieth dadurch in eine so heftige Spannung, daß es mich kaum überrascht hätte, wären die wunderlich gekleideten Herren und Damen aus ihren vergoldeten Barockrahmen gestiegen, um auf den hochlehnigen rohrgeflochtenen Stühlen sich um die große, länglich runde Tafel zu reihen.

Besorgt sah ich wieder zu meinem greisen Begleiter empor. Er hatte das Haupt auf die Brust geneigt, schien mich vergessen zu haben.

»Ich möchte jetzt wieder gehen,« redete ich ihn schüchtern an.

»Ah, Du bist noch hier,« fuhr er auf, die Hand wieder schmeichelnd auf meinen Kopf legend, »ich vergaß – Du bist zwar nur ein Gensdarmenkind, allein Gensdarmen sind ebenfalls Menschen, und dann,« er legte die Fingerspitze an seine Nase, »habe ich meine Gründe, meine ernsten Gründe, die Probe an Dir zu versuchen, 's ist zwar vergebliche Mühe, allein – ich möchte doch – Dein Gesicht berechtigt Dich dazu. Da, sieh her; betrachte diese würdige Dame,« und er schob mich vor ein uraltes weibliches Portrait, welchem zu Füßen ein anderes, jedoch schwarz verhangenes Bild angebracht war, »sie ist die Stammmutter unseres Geschlechtes – ich werde beobachten, welchen Eindruck es auf Dich macht, wenn Du die Hand zu ihr erhebst und laut rufst – doch nein – schweige lieber. Ihre Gebeine würden sich in dem bleiernen Sarge umkehren, dränge eine fremde Stimme bis zu ihr – und in Deine Augen kann sie nicht schauen und darin meine Entschuldigung lesen; machen wir also keine leeren Experimente mit den Todten.«

Eine eigenthümlich ergreifende, Vertrauen erweckende Milde lag in dem Wesen des alten Herrn, indem er dies sagte. Ich fühlte mich dadurch zu ihm hingezogen, und bevor ich eigentlich wußte, was ich that, wies ich auf das verschleierte Bild, zutraulich fragend, ob dort ebenfalls eine Ahnfrau verborgen sei. Kaum aber waren diese Worte meinen Lippen entschlüpft, als ich sie auch bereute.

Wie von einer unsichtbaren Waffe getroffen, stand der Greis da. Ein Weilchen blickte er mich starr an, sichtbar seinen Sinnen nicht trauend, dann legte er die Hand, sich fest stützend, auf meine Schulter.

»Laß ruhen die Todten, Knabe,« lispelte er matt, »hinter diesem Vorhang wohnt so viel Gram, daß Versöhnung und Vergebung ihn nicht mehr aufzuwiegen vermögen.«

Hastig zog er mich fort. Meine Augen aber hingen an dem leichten schwarzen Seidenstoffe, welcher sich vor dem durch unsere schnelle Bewegung erzeugten Luftzuge flüchtig verschob und auf kaum eine Secunde das geheimnißvolle Bild theilweise enthüllte. Ein liebliches Antlitz sah ich. Ob holde Jugend es schmückte, ob blondes oder braunes Haar, ob dunkle Augen oder blaue den Ausdruck desselben bestimmten, es war mehr, als ich in dem verschwindend kurzen Zeitraum zu erspähen vermochte. Aber die Augen, die Augen selbst, indem sie gleichsam verstohlen unter dem wehenden schwarzen Zeugstreifen hervor zu mir herüberlugten, erweckten sie Empfindungen in mir, als ob das Bild mir nicht neu sei, als ob ich es schon früher gesehen, mich gewissermaßen mit ihm befreundet hätte.

Meine Gedanken schwirrten durcheinander; vor meinen geistigen Blicken lag der Winkelliese Plättstube und auf allen Bilderbogen zugleich suchte ich nach jenen Augen.

Das Geräusch, mit welchem der alte Herr eine Thür vor uns öffnete, brachte mich wieder zum Bewußtsein der Gegenwart. Eine andere, weniger reich ausgestattete Halle lag vor uns. Dieselbe schien ursprünglich zu kleineren Gelagen bestimmt gewesen zu sein.

»Manch wackerer Kämpe und Waidmann hat in diesem Raume gezecht, gesungen und gelacht,« erklärte der Greis träumerisch, »und heute? Ach, nur Spinnen ziehen ihre Netze an den Wänden; höchstens daß der Mond gelegentlich einige seiner blassen Strahlen durch jenes Fenster hereinsendet und sinnlose Figuren auf den alten Tisch zaubert. Wahrlich, ein schlechter Tausch: Volle Humpen und leere Mondscheinringe!«

Während der alte Edelmann in dieser Weise erklärte und erzählte, folgte ich mit den Blicken jedesmal den erläuternden Bewegungen seiner Hände. Seine Unterhaltung fesselte mich in so hohem Grade, daß ich fast wünschte, die im Laufe der Jahrhunderte heimgegangenen Kämpen und Waidmänner möchten ihre Gräber verlassen, um eine Runde um den schweren eichenen Tisch zu bilden und mir auf solche Art die längst entschwundenen Zeiten zu veranschaulichen.

Ein gewaltiger gemauerter Pfeiler, welcher die gewölbte Decke trug, erregte meine Aufmerksamkeit.

Der alte Herr bemerkte es und war sogleich bereit, mich zu belehren.

»Eine seltsame Bauart,« hob er an, »ein Pfeiler von zwei Fuß Durchmesser hätte den Zweck erfüllt. Doch die Sache hat ihren wohlüberlegten Grund. Die biderben Alten liebten es, unbeobachtet von einem Stockwerk in's andere zu schlüpfen, und daher wurde in diesem Träger eine Wendeltreppe vom Erdgeschoß bis nach dem Dach hinauf angelegt.«

Zuvorkommend führte er mich auf die andere Seite des achteckigen Gemäuers vor eine kleine, schwer beschlagene Thüre.

»Nur aufwärts ist die Treppe noch zugänglich,« sprach er, indem er den Fallriegel lüftete, die geräuschlos in ihren wohlgeölten Angeln schwingende Thür nach sich zog und dadurch die ersten Stufen einer schmalen Wendeltreppe bloslegte, »jetzt benutzt sie Niemand mehr; was sollte man auf dem Dach? Etwa eine Fahne aufziehen? Könnte es doch nur eine schwarze sein. Nach unten wurde die Treppe vor vielen, vielen Jahren vermauert,« und er zeigte auf mehrere Steinplatten, welche in gleicher Höhe mit dem Fußboden eingefügt waren, als sei abwärts keine Abstufung mehr vorhanden gewesen. »Ja, vor vielen, vor mehr, als hundert Jahren. Man spricht von einer ungetreuen Geliebten, welche hier lebendig eingemauert worden. Doch was auch vorgefallen sein mag, jeder neue Erbe und Besitzer dieses Schlosses hat strenge darauf gehalten – es ist sogar eine testamentarische Bestimmung darüber vorhanden – daß der das Geheimniß umgebende Schleier nie gelüftet wurde. Es ist besser, unklare Gerüchte sind im Umlauf, als daß man Gewißheit über begangene Frevel erhält.«

»Hat die Treppe nach unten Ausgänge?« fragte ich mit zutraulicher Neugierde, denn ich gedachte meiner Entdeckung in dem gewölbten Kanal.

»Jetzt nicht mehr,« versetzte der Greis bereitwillig, »in den alten Hauschroniken ist wohl eines Wasserweges Erwähnung gethan, ich kenne sogar die Stelle, auf welcher er mündete, allein was einst nicht zugemauert wurde, liegt Alles in Trümmer. Ein gewaltsames Eindringen in den unterirdischen Bau wäre mit Lebensgefahr verbunden; und jetzt noch das Schloß restauriren? O, wenn die Letzte der Bearner schlafen gegangen ist, dann wäre es am besten, diese Wiege eines stolzen Geschlechtes versänke spurlos bis in den Mittelpunkt der Erde hinein oder würde von dem See verschlungen. Doch Du bist nur ein Gensdarmenjunge und verstehst dergleichen nicht.«

Er wollte die Pforte wieder schließen, als er plötzlich erschrak und betroffen mitten in seiner Bewegung inne hielt. Eine Thür hatten wir nicht gehen hören, aber leises Rauschen drang zu uns, wie wenn auf der anderen Seite des Pfeilers seidene Stoffe das Mauerwerk streiften. Gleich darauf lugte das bleiche Antlitz derselben unheimlichen Person um die Ecke, welche mich am ersten Morgen nach meinem Eintreffen auf der Försterei vom Hofe wies. Ihre Züge erschienen mir noch widerwärtiger und feindseliger, dagegen befleißigte sie sich einer ehrerbietigen Haltung, indem sie den Schloßherrn in einer fremden Sprache anredete.

Als sie geendigt, ihre Blicke aber noch immer mit einem beängstigenden Ausdruck des Hasses und des Erstaunens auf mir ruhten, richtete der alte Herr sich straff empor.

»Wer ist es, der hier befiehlt?« fragte er würdevoll, »und wer wagt es, mir zu wehren, Freunde und Bekannte zu empfangen? Entfernen Sie sich auf der Stelle und stören Sie nicht meine Ruhe.«

Die in rauschende Seide gekleidete Person verneigte sich tief; ein spöttisches Lächeln spielte um die langen, vorspringenden Zähne. Eine Erwiderung schien ihr auf den Lippen zu schweben; doch wie sich eines Besseren besinnend, verschwand sie hinter dem Pfeiler, und geräuschlos, wie sie gekommen war, verließ sie das Gemach.

»Es ist rathsamer, jeden ärgerlichen Auftritt zu vermeiden,« neigte der Schloßherr sich nunmehr wieder flüsternd mir zu, und so will ich Dich schnell dahin zurück begleiten, wo wir zuerst bekannt mit einander wurden. Du gefällst mir; ich habe mich an Dein Gesicht gewöhnt, und sollte sich die Gelegenheit wieder bieten –«

Wir hatten uns der Thür genähert und er streckte die Hand nach dem Schloß aus, als von der anderen Seite hastig geöffnet wurde und der Candidat vor uns stand.

Höflich verbeugte er sich vor meinem greisen Begleiter, der sich vergeblich bemühte, eine herausfordernde Haltung anzunehmen, worauf er sich mir zukehrte, mit seinen kleinen Augen mich anblickend, daß es mich bis in mein bange klopfendes Herz hinein erkältete.

»Wie kommst Du in dieses Haus?« fragte er mit einer Strenge, vor welcher ich vollständig willenlos wurde.

»Der Herr war so gut, mich hereinzuführen,« antwortete ich unter andringenden Thränen.

»Ich lud ihn ein, mich zu begleiten,« bestätigte der alte Herr schüchtern, um seine Würde als Gebieter des Hauses zu wahren, auch wohl gerührt durch meine Thränen.

»Was der gnädige Herr für angemessen halten, zu befehlen, ist sicherlich allezeit das Beste,« versetzte der Candidat schnell mit einer unterwürfigen Verbeugung, »und so werden Sie auch jetzt mir gewiß gern erlauben, diesen kleinen zudringlichen Menschen vom Hofe hinunter zu führen. Der Sohn eines Gensdarmen gehört nicht in die Gemächer der Edlen von Bearn.«

»In meine Gemächer gehört Jeder, welchen zu empfangen ich für gut befinde,« erwiderte der alte Herr, sich abkehrend, offenbar, um den ihn bannenden Blicken des schwarzen Candidaten auszuweichen, »und ist er der Sohn eines Gensdarmen, so gefällt mir dafür sein Gesicht.«

»Meine Eltern sind« – hob ich beklommen und in der dumpfen Absicht an, ihm durch die Schilderung der Verhältnisse, unter welchen ich bei der Winkelliese Aufnahme fand, zu Hülfe zu kommen.

»Gewiß,« fiel der Candidat sichtbar bestürzt, jedoch mit unerbittlicher Strenge mir in's Wort, »Deine Eltern sind gute Leute; das giebt Dir indessen kein Recht, unberufen hier einzudringen. Komm also,« und meine Hand ergreifend, traf er Anstalt, mich mit sich fortzuziehen, als ich mich verzweiflungsvoll an meinen bisherigen Führer anklammerte.

»Lassen Sie mir den Knaben, er gefällt mir, ich möchte ihn in der Wappenkunde unterrichten,« bat dieser mit niedergeschlagenen Augen und heimlich umspannte er meine Hand mit aller Kraft.

»Gnädiger Herr, gewiß – gern,« lautete die mit eigenthümlichem Ausdruck ertheilte Antwort, »ja ich würde keinen Augenblick zögern – das Gensdarmenkind wäre vielleicht eine erträgliche Gesellschaft – lägen draußen Schnee und Eis und schrieben wir heute den achtzehnten Januar.«

Er hatte kaum ausgesprochen, da taumelte der alte Herr, wie von einem betäubenden Schlage getroffen, bis in die Mitte des Zimmers zurück, wo er mit allen äußeren Zeichen tiefster Zerknirschung auf einen Stuhl sank, die Arme auf den Tisch stützte und sein Antlitz in beide Hände barg.

Bebend vor Angst und erfüllt von bedauernder Theilnahme verfolgte ich mit den Blicken die Bewegungen des Greises. Ich meinte, zu ihm hinstürzen, meine Arme um seinen Hals schlingen, ihn bitten zu müssen, nicht so traurig zu sein. Doch mit Heftigkeit wurde ich aus der Thür gezogen, und nicht eher mäßigte der mich gewaltsam fortschleppende Candidat seine Eile, als bis wir unten auf der letzten Stufe der Treppe angekommen waren.

»Unglückseliges Kind,« redete er mich an, indem wir uns dem nach dem Hofe öffnenden Portal näherten, »danke Deinem Gott, daß ich zur rechten Zeit eintraf, um Dich zu retten. Du bist einer furchtbaren Gefahr entronnen; denn höre – und Du bist alt und verständig genug, um ein Dir anvertrautes Geheimniß nicht kindisch in die Welt hinaus zu schreien, sondern es mit männlicher Ueberlegung zu bewahren – der alte Mann, welchen wir eben verließen, ist wahnsinnig. Er hält sich für den König Blaubart und trachtet, durch Schmeicheleien Knaben Deines Alters in seine Gewalt zu bringen und sie demnächst auf gräßliche Art zu tödten. Nur deshalb leben wir hier so abgeschieden mit ihm. Nähere Dich daher nie wieder ohne Begleitung diesem Schloß. Verrathe auch nie in Deinem Leben, was Du hier erfuhrst; Du würdest dadurch Deine liebsten Freunde in's Unglück stürzen.«

Von Grausen erfüllt hörte ich diese Erklärung. Obwohl der Candidat mir einen unüberwindlichen Widerwillen einflößte, wagte ich doch nicht, seine Worte zu bezweifeln. In der Erinnerung erschien mir der Abgeschlossene, unheimlich beleuchtete Kellerraum plötzlich als des Blaubarts blutige Werkstätte.

»Haben kleine Mädchen nichts von ihm zu befürchten?« ermannte ich mich, »in meiner Besorgniß um die Zwillinge zu fragen.

»Kleine Mädchen sind sicher vor seinen gefährlichen Launen,« versetzte der Candidat ungeduldig, »und andere, als die Töchter des Försters, kommen überhaupt nicht hierher. Diese befinden sich außerdem unter meiner besonderen Aufsicht, oder unter der des gnädigen Fräuleins. Beunruhige daher nicht die guten Leute durch Dein albernes Geschwätz. Es wäre ein Unglück für sie, würde ihnen durch Deine Schuld unsere Freundschaft entzogen und müßten die armen Kleinen über Land nach einer schlechten Dorfschule wandern.«

Wir waren auf den Hof hinausgetreten, wo ich zu meiner unaussprechlichen Freude die beiden Zwillinge erblickte, wie sie unter der Aufsicht des Burgfräuleins in der Nähe des Thorwegs auf uns warteten.

Letztere grüßte ich befangen. Sie erschien mir noch bleicher, als gewöhnlich; ihre Augen ruhten dagegen mit erhöhter, keineswegs Vertrauen erweckender Spannung auf mir.

»Da treffe ich unsern jungen Freund in traulichem Verkehr mit Ihrem Herrn Vater,« redete der schwarze Candidat sie alsbald an, »und ich hatte meine liebe Noth, die Beiden von einander zu trennen.«

»Mein Vater ist sehr krank,« versetzte Fräulein Thekla, ihre Hand leicht auf meinen Kopf legend, »es ist daher rathsam, ihn nicht zu stören. Wolltest Du das Innere des Schlosses sehen, so brauchtest Du nur die beiden kleinen Damen zu begleiten oder mich zu bitten, und Deine Wünsche wären erfüllt worden. Nun – vielleicht ein ander Mal. Doch kommt jetzt, wir wollen Euch auf einem Umwege nach Hause begeleiten,« und mich und die beiden Mädchen durch einige aufmunternde Worte gleichsam vor sich hertreibend, winkte sie den Candidaten an ihre Seite, sich ohne Säumen in eine ernste Unterhaltung mit ihm vertiefend.

Ihr herablassendes Wesen wie ihre Begleitung befremdeten mich gleich sehr. Ich deutete indessen Beides als Ausdruck der Befriedigung, daß ich wirklich einer drohenden Gefahr entronnen sei. Heute, nach vielen, vielen Jahren, ist mir indessen klar, daß sie durch ihre und des Candidaten Gegenwart mich nur hindern wollte, meine jüngsten Erlebnisse und die im Schloß empfangenen Eindrücke, wenn auch nur durch mein verändertes Wesen, an die beiden Mädchen zu verrathen. Und sie erreichte ihren Zweck vollkommen. Denn wenige Minuten waren wir erst auf ungebahnten Wegen unter den hohen Tannen hingewandelt, da gab ich bereits mit vollem Herzen dem Einflusse nach, welchen die lieben Gespielinnen durch ihre sorglose Heiterkeit auf mich ausübten.

Hannchen und Hedwig! Hei! Wie es im tollen Wettlauf um die alten ehrwürdigen Stämme herumging und wie der Wald erklang von hellem Jauchzen und jugendlichem Lachen, wenn die auf der braunen Nadelschicht geglätteten Sohlen ihren Halt verloren, und der Eine oder der Andere kopfüber hinstürzte! Wenn aber die jungen Glieder von der übermäßigen Anstrengung zu erlahmen drohten und der Athem sich allzusehr verkürzte, dann genügte ein Wink des Burgfräuleins, Muthwillen zu zügeln, den Spielen einen weniger erschöpfenden Charakter zu verleihen.

Große Bündel prachtvoll ausgezackten Farrnkrautes wurden gepflückt, und als die kleinen Hände weitere Vorräthe nicht mehr zu umspannen vermochten, da entdeckte Kinderfrohsinn leicht einen Ausweg zur Verwerthung des Ueberflusses. So verwandelte sich meine Mütze in eine hoch hinaufragende, anmuthig schwingende Blätterkrone. Am Kragen meines Gensdarmenjäckchens, an den Aermeln, in den Knopflöchern und unter der Weste wurden die schönen Blätter festgesteckt, daß es rings um mich her wie ein grüner Federschurz niederfiel. Sogar aus den Taschen und den Stiefelschäften ragte der liebliche Waldesschmuck lang hervor. Und als ich fertig war, da kamen die Zwillinge an die Reihe. Die Flechten an ihren Schläfen, selbst die zerzausten Locken boten einen günstigen Boden zur Aufnahme des wogenden Krautes; nicht minder die Halstücher, die kurzen Aermel, die Schürzenbänder und endlich die fest an die zierlichen Füßchen anschließenden Lederschuhe. Und als wir Alle geschmückt waren, da nahm Jeder noch ein besonders schönes Blatt zwischen die Mausezähne; dann reichten wir uns die Hände, rechts von mir das blaue Haideröschen, links das rothe, zwischen je zwei Händen schwankte ein mächtiger Farrnkrautbusch, in den Außenhänden ein kleiner Strauß, und so schritten wir majestätisch auf den Candidaten und das Burgfräulein zu, uns tief vor ihnen verneigend und fest auf die grünen Blattstengel beißend, um nicht laut aufzulachen.

Ach, jene unvergeßlichen Minuten, wo sind sie geblieben! Wie oft, wie unendlich oft, wenn meine Gedanken ohnmächtig versuchten, über den menschlichen Gesichtskreis hinauszudringen, kehrten sie, wie um eine trauliche Raststätte zu finden, zu jenen Minuten zurück! Wäre es aber dem Sterblichen vergönnt, die ihn dereinst erwartende Seligkeit nach den eigenen Wünschen und Neigungen zu bilden und zu bemessen, was könnte ich ›Schöneres‹ hoffen und ersehnen, als: Links das blonde Engelsköpfchen mit dem blauen Halsband, rechts das blonde Engelsköpfchen mit der rothen Auszeichnung, beide hervorlugend aus einem anmuthigen Geflecht lieblicher Kräuter; über uns ein ewig heiterer Himmel, um uns her unvergängliche Waldespracht und Waldesduft, in der Brust aber kindlich sorglose Herzen, deren jeder einzelne Schlag der Ausdruck reinster Jugendseligkeit. Doch über die Baumwipfel, wie über hoffnungsvoll schlagende Herzen eilen winterlich rauhe Stürme, dort entführend den süßen Waldesduft, hier holde Kindlichkeit. Das geknickte Farrnkraut welkt und stirbt; vergeblich späht das träumerisch umherirrende Auge am schwer bewölkten Himmel nach einem träge einherschleichenden Fleckchen Sonnenschein!

Als wir in dem grünen Elfenanzuge uns dem Burgfräulein näherten, suchte ich ängstlich die großen blauen Augen, welche, seit ich zum erstenmale in sie hineinsah, einen unwiderstehlichen, jedoch feindlichen Zauber auf mich ausübten und in Folge dessen meine Beobachtungsgabe verschärften. Anfänglich blickten sie kalt, wie ich es nicht anders gewohnt war. Indem wir uns aber verneigten, entdeckte ich, daß eine Wolke tiefer Trauer über das schöne Antlitz hineilte. Ein Thränenstrom schien sich seinen Weg über die bleichen Wangen bahnen zu wollen. Gedachte sie der eigenen sorglosen Kindheit? Rührte sie der Anblick der freundlichen Gruppe? Wer vermochte die Empfindungen zu ahnen, zu errathen, welche hinter den ernsten Zügen wohnten, in jenen Secunden vielleicht das Blut schneller und wärmer zu dem kalten Herzen trieben? Durch mein Gemüth aber zog es, wie ein milder Hauch. – Mir war, als hätte ich mich durch meine bisherige Scheu an der schönen Dame vergangen gehabt, als hätte ich ihre Hände küssen, sie um Verzeihung bitten mögen für die ihr bewiesene Abneigung.

Doch flüchtig, wie der Wechsel auf dem bleichen Antlitz, waren auch meine eigenen Regungen. Durch jenen wurden diese bedingt; ein, jedem Falsch fremdes Knabengemüth, konnte nur zurückstrahlen, was sich in ihm spiegelte.

Der Candidat stand seitwärts, nicht ahnend, daß die frühgeweckte Beobachtungsgabe eines zwölfjährigen Kindes über die Grenze kindlicher Spiele hinausreichte. Alles, was seine Seele bewegte, offenbarte er daher frei in dem einzigen, langen, ängstlich forschenden Blick, mit welchem er das ihm zugekehrte Profil des sinnend auf mich niederschauenden Burgfräuleins betrachtete.

»Wie lange werden ihre harmlosen Spiele noch dauern?« sprach er endlich ausdrucksvoll, wie um die ihm offenbar peinliche Scene abzukürzen.

Beim ersten Tone seiner Stimme wich der milde Ausdruck von dem bleichen Antlitz, und die Hirschdame am Thorwege schaute nicht starrer in's Leere, als des Fräuleins Blicke über uns hinüberschweiften.

»Geht, Kinder,« sprach sie ruhig, wenn auch nicht unfreundlich, »dort vor dem Försterhause bemerke ich Eure Großmutter; sie erwartet Euch sicher mit Ungeduld. Ihr nehmt Euch in der That sehr schön aus; geht und zeigt Euch der würdigen Frau.«

Die Zwillinge, an das seltsame Wesen des Burgfräuleins längst gewöhnt, antworteten durch einen Jubelruf. Ich dagegen konnte nicht in denselben einstimmen; aber mit ihnen lief ich, so schnell meine Füße mich zu tragen vermochten, und je weiter ich mich von dem Candidaten und seiner Begleiterin entfernte, um so leichter schlug mir das Herz, bis ich endlich ebenfalls aufjauchzte und als Erster auf dem Platze der Winkelliese in die Arme stürzte und ihr gutes, rothes Gesicht küßte, daß sie scherzend vorgab, unter meinen ›wüsten‹ Griffen elendiglich zu ersticken.

Gleich nach mir trafen die Zwillinge ein. Neue Begrüßungen, neues Bewundern des prachtvollen Aufputzes; dann begannen die beiden muthwilligen Gespielinnen mit den in ihren Händen befindlichen Farrnkrautvorräthen die entzückte Alte ebenfalls in eine vornehme Dame zu verwandeln. Und die gute Alte war so gefällig; sie bückte sich tief, damit die kleinen Hände es bequemer hatten, ihr die grünen Federn in die Flatterhaube und das Halstuch festzunesteln. Und dann kamen die straffen Schürzenbänder an die Reihe und die Haken, mittelst deren das Kleid auf dem breiten runden Rücken zusammengehalten wurde. Es war in der That eine Freude, dies anzusehen, und gewiß wäre ich nicht säumig gewesen, das Meinige zu dem Ausputz beizutragen, hätten Fräulein Thekla und der Candidat sich nicht genähert und bereits ihre unheimlichen Zauberkreise um mich gezogen.

Die ehrliche Winkelliese dachte freilich anders; für sie hatte spöttisches Lächeln auf den Lippen sich so viel erhabener dankender Personen keinen Stachel. Im Gegentheil, auf ihren Zügen ruhte harmlose, glückliche Eitelkeit, und wo die Kinderhände nicht schnell genug fertig wurden, da half sie mit ihren dicken, aber äußerst gewandten Fingern nach, namentlich bei der Flatterhaube, um durch Biegen und Ordnen der langen Blattstengel den ›resoluten‹ Ausdruck ihres stolz getragenen Hauptes zu erhöhen und von den Herrschaften nach Gebühr bewundert zu werden.

Endlich trafen diese ein. Von dem gefürchteten spöttischen Lächeln entdeckte ich indessen keine Spur, obwohl die gute Winkelliese sich graziös drehte und wendete und hin und wieder eine Verbeugung ausführte, welche mich lebhaft an den Hänge-Gensdarm erinnerte, wenn er, neben der strohgefüllten Hechsellade stehend, sich bei jedem neuen Schnitt mit dem vollen Gewicht seines Oberkörpers auf das Messer warf und dabei jedesmal in den Hüften entzwei zu brechen drohte.

»Von Kindern muß man sich Manches gefallen lassen,« entschuldigte sie sich verschämt, und eine leichte Bewegung ihres Hauptes setzte die Farrnkrautfedern in anmuthige Schwingungen, »auch wir sind einmal Kinder gewesen, und recht große Kinder obenein.«

Fräulein Thekla nickte herablassend, Frau Winkler aber, durch frühere Unterredungen mit den Herrschaften, bei welchen sie Alles haarklein auskramte, was sie über mich wußte, zutraulich geworden, fuhr alsbald wieder fort:

»Es fehlt nur noch, daß der Herr Candidat und das gnädige Fräulein sich schmücken; die grüne Farbe kleidet so ausgezeichnet« – und sie betrachtete sich wohlgefällig von oben bis unten – ist doch der ganze Wald so grün, daß ich selber ein Hirsch, oder – oder – eine prachtvoll blaue Mandelkrähe sein möchte, – mein Herr Schwiegersohn zeigte mir vor einigen Tagen eine solche –«

»Nun, meine liebe Frau Winkler,« fiel das Burgfräulein kalt lächelnd ein, »ich hoffe, der Wald wird im nächsten Jahr wieder die Freude haben, Sie in seinem Schatten zu beherbergen.«

»Ihren kleinen hoffnungsvollen Zögling nicht zu vergessen,« fügte der Candidat mit einer leichten Verbeugung hinzu.

Die Winkelliese strahlte vor Entzücken. Eine kurze Bewegung des Hechselschneidens, eine noch kürzere Schwingung des stattlich befiederten Hauptes, dann legte sie die fleischige Hand auf die Stelle, auf welcher ein geübtes Ohr ihr biederes Herz konnte schlagen hören, und jeder Zollbreit an ihr ungewöhnliche Bildung, rief sie enthusiastisch aus:

»Die Herrschaften sind außerordentlich herablassend und liebenswürdig! Ich werde daher mein Grundstück wiederum auf einige Wochen gewissenhaften Händen anvertrauen und nicht verfehlen. Ja, der Wald hat seine Schatten, aber auch seine Schattenseiten,« und ihre guten, graugrünen Augen funkelten vor hellem Triumph über das zufällige, deshalb aber nicht minder gelungene Wortspiel, »und zwar wirkliche Schattenseiten. Denn beobachten Sie gefälligst hier,« und sie berührte mit der Fingerspitze eine Beule auf ihrer Stirne, »und hier, und hier,« und ebenso schnell flogen die Aermel des Kleides von den runden, reich von Mücken zerstochenen Armen bis über die Ellenbogen zurück, »lauter Schattenseiten oder vielmehr Bisse abscheulicher Bestien – trotzdem ist's im Walde himmlisch.«

Ich war in Verzweiflung. Bei dieser neuen Wendung aber konnte ich nicht länger an mich halten. Ohne eigentlich zu wissen, was ich bezwecke, und geleitet von der dumpfen Hoffnung, das höhnische Lächeln zu bannen, bevor es auf die Lippen trat, näherte ich mich hastig Fräulein Thekla, und nachdem ich ihr den in meiner linken Hand befindlichen größeren Farrnkrautbusch überreicht, gab ich den andern dem Candidaten.

Wie mein Verfahren aufgenommen wurde, ob auch mich spöttisches Lächeln lohnte, ich weiß es nicht. Denn schon im nächsten Augenblick stürmte ich, gefolgt von den beiden Zwillingen, um das Schweizerhäuschen herum. Ich wollte nichts mehr von den beiden unheimlichen Gestalten sehen, nichts mehr von ihnen hören, aber auch nicht länger mehr von ihnen beobachtet werden.

Wie lange die Winkelliese mit ihnen sprach und was sie sonst noch auf die mit kluger Berechnung gestellten Fragen bereitwillig offenbarte, erfuhr ich nicht. Denn das Schweizerhäuschen lag kaum zwischen ihnen und mir, und kaum sah ich in das biedere Antlitz des Försters und die freundlichen Augen Frau Hannchens, die uns mit lautem Lachen begrüßten, da waren die Zauberkreise vernichtet, welche mich so lange gelähmt hatten.

»Hannchen und Hedwig!« jauchzte ich auf dem Gipfel meines Entzückens, indem ich in den nächsten Weg einbog, der zwischen Himbeerhecken hindurch nach dem Gartenpförtchen und von dort nach der Wiese führte.

»Blaues Haideröschen, rothes Haideröschen!«

Die Sonne neigte sich den westlichen Baumwipfeln zu. Wiederum war ein Tag dahin, ohne daß ich an das Entfliehen der Zeit gedacht hätte. Mir schlug ja keine Stunde. Ob wachend oder träumend: Hannchen und Hedwig all überall! Was meinen Frohsinn vorübergehend trübte, mich mit knabenhafter Besorgniß erfüllte, es ging unter in dem einzigen Gedanken an meine Gespielinnen, an die beiden herzigen Waldelfen.


 << zurück weiter >>