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ZWÖLFTES CAPITEL. HEIMATLOS.

Ein Gefangener auf der Stätte, auf welcher der verzogene Knabe einst gewohnt war, in wildem Uebermuthe Alle zu tyrannisiren! Ein Gefangener! Und dennoch, welch tröstliche Erinnerungen knüpfen sich an jene Zeit, in welcher ich den Tag über gewissenhaft den mir angewiesenen eng begrenzten Raum hütete, in den späten Abendstunden dagegen Arm in Arm mit der treuen Pflegerin meiner Kindheit die Fluren durchstreifte und regelmäßig das theure Grab auf dem stillen Friedhofe neben der Dorfkirche besuchte!

Beinahe zwei Wochen waren dahingegangen, zwei Wochen, in welchen ich mich abwechselnd mit den phantastischsten Plänen für die Zukunft beschäftigte und gemeinschaftlich mit der Winkelliese alle Vorbereitungen zu meiner bevorstehenden Abreise traf. Die gute Seele; manch begütigendes Wort hatte es gekostet, sie zu überzeugen, daß ein Leben, wie ich es bei ihr führte, nicht von Dauer sein könne, daß ich hinaus müsse in die Welt, um mir eine sichere Zukunft zu begründen. Dann aber, nachdem sie das Unabänderliche eingesehen, hatte sie alle Hände voll zu thun, mich aus ihren eigenen Mitteln wenigstens mit Wäsche auszurüsten und über jedes einzelne Stück des kleinen Vorrathes, oft genug unter bitteren Thränen, eine wahrhaft mütterliche Zauberformel hinzusprechen. Der Hänge-Gensdarm hinderte uns wenig. Ihn trieben sein Diensteifer und der Befehl, auf den entflohenen Convictsschüler zu fahnden, gewöhnlich in der Frühe von dannen, und Nacht bedeckte längst die Erde, wenn er heimkehrte und, um den Giebel des Häuschens herumreitend, sich durch einen laut ausgerufenen Gruß bei seiner Frau Wirthin anmeldete. Wir hatten also reichlich Muße, uns vor einander auszusprechen und in endlosem Geplauder die Jahre, welche ich in der Stadt verlebte, immer und immer wieder an uns vorüber rollen zu lassen. Meine Enthüllungen dehnte ich bedachtsam nur so weit aus, wie ich glaubte, daß sie der guten Seele verständlich; aber auch das genügte, ihren Zorn aufzustacheln und ein solches Heer von Verwünschungen auf alle Menschen ohne Namensunterschrift herabzubeschwören, daß ein zweites Sodom und Gomorrha dadurch hätte vernichtet werden können. Doch wie die Quelle ihres Zornes unerschöpflich, waren auch die Segenswünsche endlos, mit welchen sie Diejenigen bedachte, deren Wohlwollen mich durch meine freudelosen Jünglingsjahre begleitete. Des heuchlerischen Antiquars Tochter Sophie erklärte sie für das Muster eines resoluten Charakters, und betreffs des alten Fröhlich behauptete sie mit großer Entschiedenheit – von ihrem Standpunkte aus das größte Compliment – daß er vom Schlage des Hänge-Gensdarm sei. Auch dieser, meinte sie, würde in seiner Unordnung und Unbeholfenheit binnen kurzer Frist elendiglich zu Grunde gehen, wäre er nicht so glücklich gewesen, in resolute Hände zu gerathen, welche es verstanden, ihn mit so viel Sicherheit auf dem Pfade der sauberen Wäsche zu führen. Hieran schloß sie den christlichen Wunsch, den alten Gelehrten einige Wochen in ihrem Commando zu haben, um einen leidlich brauchbaren und äußerlich einnehmenden Menschen aus ihm heranzubilden.

Vielfach weilten wir in unseren Gesprächen auf der Försterei. Doch auch hier vergaß ich nie, meine Mittheilungen sorgfältig abzumessen und Hedwigs verändertes Aeußere allein ihrem körperlichen Befinden zuzuschreiben, welches eine Luftveränderung erheische. Das Weitere mußte ich der väterlichen Einsicht des Försters überlassen, außerdem durfte ich hoffen, daß der durch mich bei ihm wie bei dem Haideröschen in's Leben gerufene Argwohn nicht wieder eingeschläfert werden würde.

Zehn oder zwölf Tage meiner Gefangenschaft waren verstrichen, als Hänge eines Abends ungewöhnlich früh heimkehrte. In der Art, in welcher er für sein Pferd sorgte, sich ein Weilchen in seinem Zimmer beschäftigte und demnächst sein Abendbrod verzehrte, lag eine gewisse ängstliche Hast, welche mich befremdete, die Winkelliese dagegen mit Besorgniß erfüllte. Auf die an ihn gerichteten Fragen ertheilte er kurze Antworten. Von ernsten Gedanken erfüllt, schien er sich nicht für einen bestimmten Entschluß entscheiden zu können.

»Ich muß es aufgeben, den Balde zu entdecken,« hob er endlich sorgenvoll an, »da befindet sich kein Dorf, kein Gehöft in meinem Revier, welches ich nicht vorsichtig abgespürt hätte. Trotzdem vermuthet man, daß er in unserer Nachbarschaft weile und ich selbst nur zu alt und zu stumpf geworden sei. Wie geriethen der Herr Landrath sonst auf den Gedanken, Sie morgen zu besuchen und eine Art Verhör mit Ihnen anzustellen?«

»Mit mir?« rief die vor Schreck anfänglich sprachlose Winkelliese aus; doch schnell ihre Fassung zurückgewinnend, fuhr sie mit unverkennbarer Entrüstung fort: »Gut, mag er kommen; ich freue mich unendlich der hohen Ehre, bin indessen nichts weniger, als geneigt, meine Kisten und Kasten vor den landräthlichen Blicken zu öffnen. Ein Landrath ist kein Herrgott, wenigstens nicht für gescheidte Menschen, und bei mir soll er fühlen, daß er sich nicht auf seinem eigenen Grund und Boden befindet.«

»Nicht doch, meine verehrte Frau Winkler,« ermahnte Hänge zum Frieden, »begegnen Sie ihm lieber höflich und stehen Sie ihm Rede, wie's einer gebildeten Person gebührt, oder Sie schaden dem Andenken des armen Balde, der zur Zeit vielleicht schon auf dem Meere schwimmt. Auch dürfen Sie nicht vergessen, daß Sie vor der Obrigkeit stehen, der man die höchste Achtung schuldet – ich bitte, das nicht auf meine eigene bescheidene Stellung zu beziehen. Führen Sie den Herrn Landrath im Hause herum, sogar bis in Ihre Schlafkammer hinein, wenn's Ihnen gefällig ist; beschwören und beweisen Sie, daß der Gesuchte weder hier, noch in der Nachbarschaft weilt, und Alles ist gut. Von des armen Jungen Erlebnissen, soweit dieselben Ihnen hinterbracht wurden, sprechen Sie dagegen lieber nicht; es wäre überflüssig und würde unnöthige Erörterungen herbeiführen. Und weiter wird ja nichts verlangt, als der Beweis, daß ich noch nicht stumpf und dienstuntauglich geworden, am wenigsten aber von Ihnen hintergangen wurde.«

»Wenn er aber dennoch« – fuhr die Winkelliese in ihrer Verzweiflung auf; dann schwieg sie, als sei in der Beendigung des angefangenen Satzes eine Gefahr verborgen gewesen.

»An den Balde habe ich in letzter Zeit viel gedacht,« fuhr Hänge fort, den unvorsichtigen Ausruf seiner Hauswirthin großmüthig überhörend, »und da gelangte ich zu dem Schluß, daß es sich für mich, einen vereidigten Beamten, nicht gezieme, fernerhin Beziehungen zu einem Flüchtlinge zu unterhalten. Nein, meine verehrte Frau Winkler,« und seine Stimme schien plötzlich heiser zu werden, »es geht nicht länger, und um mir ein reines Gewissen zu bewahren, lege ich Alles, was ich von ihm besitze, vertrauensvoll in Ihre Hände nieder. Prrohl-Dannehr, Sie mögen darüber verfügen, wie's Ihnen beliebt und wie Sie's für recht und billig halten.«

»Er besitzt wirklich noch etwas?« fragte die Winkelliese erstaunt, jedoch mit einem Ausdruck, als ob plötzlich ein helles Verständniß über sie gekommen wäre.

»Nur Kleinigkeiten,« versetzte der Gensdarm, und ich hörte, wie er mehrere Gegenstände vor sich auf den Tisch legte, »nur die bekannten Kleinigkeiten, von welchen ich aber wünsche, daß er sie, bevor er in die Welt hinauszog, an sich genommen hätte. In diesem Packetchen befindet sich zunächst das Goldstück, welches auf seiner todten Mutter Brust lag. Gebe Gott, daß er nie in die Lage gerathe, es aus Noth ausgeben zu müssen. Eingewickelt ist es in das Papier mit den wahrscheinlich von seines Vaters Hand geschriebenen Worten: ›Zu meinem Begräbniß.‹ Endlich sind hier noch sechsundneunzig Thaler. Dies Geld ersparte ich im Laufe der Jahre von meinem Tractament, und das war mir nur möglich, weil ich in Ihrem Hause nicht nur angenehm lebte, sondern Sie auch billig mit mir verfuhren. Es ist also eigentlich Ihr Ersparniß. Ursprünglich hatte ich es für den Balde bestimmt. Seitdem der aber fort ist, kann ich's nicht ansehen, ohne mich zu grämen. Ich möchte es daher los sein, und da Sie eine bessere Verwendung wissen, so gebe ich's Ihnen. Machen Sie damit, was Sie wollen; werfen Sie's in den Brunnen, oder setzen Sie ein neues Stockwerk auf Ihr Häuschen, mir ist's einerlei, wenn's nur mir nicht mehr vor Augen kommt. Der Balde hätte es vielleicht am besten gebrauchen können, allein es ist zu spät, denn einem Abwesenden kann man nichts mehr geben – auch schneidet's mich bis in's Mark hinein, daß man gerade mich, seinen ältesten und treuesten Freund, auf die Spuren des armen Jungen stellte, der wahrhaftig nichts beging, was es nothwendig machte, ihn wie einen gemeinen Verbrecher zu verfolgen. Es fehlt nur noch, daß sein Signalement in's Amtsblatt gerückt wird.«

Er seufzte tief. Wie das Echo darauf ertönte der Plätterin geräuschvoller Athemzug zu mir herein. Ich aber hatte mich von meinem Sitz erhoben, und einen Schritt seitwärts tretend, nahm ich eine solche Stellung ein, daß ich die beiden betrübten Hausgenossen durch die halb offene Thür hindurch unbemerkt beobachten konnte.

Die Winkelliese hatte die Arme vor sich auf den Tisch gelegt und starrte regungslos auf das ihr von Hänge zugeschobene Geld und das Packetchen nieder. Sie schien dessen Berührung zu fürchten; galt es ihr doch als Beweis für unsere nahe bevorstehende Trennung. Auch ihr biederer Miethsmann sah düster vor sich nieder. Sein wettergebräuntes Antlitz schien noch härter und hagerer geworden zu sein. In den ernsten Zügen verrieth sich, wie schwer in seiner Brust unerschütterliches Pflichtgefühl gegen die mildesten aller Regungen, gegen seine auf mich ungetheilt übertragene, innige Zuneigung kämpfte.

Tiefe Stille herrschte in dem ganzen Häuschen. Deutlich hörte man den leisen Pfiff, mit welchem der standhafte Blech-Ulan auf der Laube vor einem verirrten Luftzuge sich sammt seinem Pferde um sich selbst drehte. Wie festgebannt stand ich da, die Hände gefaltet. Weder der Vergangenheit, noch der Zukunft vermochte ich zu gedenken. Mein ganzes Sein ruhte in der einzigen Betrachtung: Ursprünglich ein Fremdling unter dem Dache der alten Plätterin, dennoch eine so unergründliche Liebe gefunden zu haben. Wo lag dafür die Erklärung? Wo lag sie namentlich für mich, den Jesuitenzögling, dessen Brust man in eine leer gebrannte Stätte zu verwandeln trachtete? Ach, und wie drängte es mich, den theuren Wohlthätern mich zuzugesellen, ihnen zu danken für Alles, was sie bereits für mich gethan, ihnen zu danken für die mit schweren Opfern verbundene Sorgfalt, mit welcher sie meine Zukunft freundlicher zu gestalten suchten! Doch ich durfte nicht. Mein Anblick hätte auf den in strenger Disciplin ergrauten Soldaten gewirkt, wie ein nach seinem Herzen geführter unheilbarer Schlag. Denn ob ich im Hause des Antiquars aus Nothwehr handelte, aus Nothwehr entfloh, oder mich böswilliger Vergehen schuldig machte, das kümmerte nicht den Landrath, seinen nächsten Vorgesetzten. Von denjenigen, welche vorgaben, ein Recht zu haben, entscheidend in mein Leben einzugreifen, war ich zurückgefordert worden, und da mußten alle Gründe schweigen, welche zu meiner Rechtfertigung anzuführen gewesen wären.

So jagten sich meine Gedanken, indem ich die beiden alten Hausgenossen mit dem kummervollen Ausdruck in ihrem Wesen still betrachtete und eine Thräne nach der andern schwer meinen Augen entrollte, indem ich mich sehnsuchtvoll nach ihnen hinneigte und doch so besorgt war, durch kein Geräusch an meine Anwesenheit zu erinnern.

»Ferner ist hier noch ein Zettel,« hob Hänge wieder schwermüthig an, ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche ziehend und den andern Sachen beifügend; »Alles, was ich dem Balde an's Herz gelegt hätte, wäre er frei vor mich hingetreten, um Abschied von mir zu nehmen, steht auf diesem Zettel geschrieben. Er hätte sich danach richten können. Aus den einzelnen Notizen ergiebt sich nämlich, daß bald nachdem wir ihn zu uns genommen hatten, ein einzelner Mann, welcher durch sein finsteres, verschlossenes Wesen und die mit eigenthümlichem Stolze getragene Mittellosigkeit ein gewisses Aufsehen erregte, von Bremen aus die Reise nach New-York antrat. Niemand würde sich seiner erinnert haben, hätte nicht das Auffinden des Kindes Veranlassung zu genaueren Nachforschungen gegeben; und erlangte man auch keine Gewißheit, so liegt doch die Vermuthung nahe, daß jener räthselhafte Mann Ausführlicheres über die arme todte Frau und deren Kind wußte. Die von hier aus erlassenen öffentlichen Aufrufe waren Ursache, daß man die Spuren jenes geheimnißvollen Reisenden rückwärts verfolgte – er selbst mußte ja längst in Amerika sein – und die reichten bis in unsere Gegend, wo sie plötzlich ganz aufhörten oder vielmehr zwischen denen anderer Reisenden und Wanderer verloren gingen. Unsicher sind diese Angaben allerdings, allein der Balde hätte sie vielleicht dennoch gebrauchen können. Berge und Thäler kommen zwar nicht zusammen, aber Menschen, und der Zufall spielt oft wunderbar. Doch das ist jetzt vorbei, und damit ich nicht mehr daran gemahnt werde – Sie verstehen, wie ich das meine – nehmen Sie nun Alles an sich und machen Sie damit, was Sie wollen. Ich mag nichts mehr davon sehen oder hören.

»Morgen kommt also der Herr Landrath,« nahm er nach einer Pause, welche die sonst so redselige Plätterin nicht zu unterbrechen wagte, wieder ernst das Wort, »anderen Falles wäre ich noch in dieser Nacht zur Stadt gefahren, um morgen sehr frühe dort zu sein. Mancherlei hätte ich dort zu besorgen, – etwas Tabak zum Beispiel – allein das kann aufgeschoben werden. Schade um die Gelegenheit; gegen zwölf Uhr fährt der Hauderer drüben auf der Chaussee vorbei, und der hat gewöhnlich einige Plätze frei. Nun – auf ein ander Mal – jetzt will ich mich zur Ruhe begeben; ich bin müde und werde gewiß sehr, sehr fest schlafen.«

»Glaub's gern,« fand die Winkelliese endlich ihre Sprache wieder, nachdem sie ein Weilchen scharf nachgedacht hatte, »ja, Herr Hänge, ich glaub's gern und will ich Sie daher nicht länger aufhalten, aber« – und sie eilte nach dem Eckspinde hinüber und gleich darauf glänzten die viereckige Flasche und ein mäßig großes Glas in ihren Händen – »so zur Nacht ein kleiner Trunk – ich meine, Sie schlafen fester, und nichts ist gesunder, als fester Schlaf.«

»Wenn Sie meinen, liebe Frau Winkler,« versetzte der Hänge-Gensdarm mit einer gewissen Resignation, beinahe abwehrend; dann verschwand das bis an den Rand gefüllte Glas auf eine Secunde zwischen den beiden Schnurrbarthälften.

Die Flasche neigte sich zum zweiten Male dem Gläschen zu.

»Keinen Tropfen mehr,« entschied Hänge, der Sicherheit halber das Glas umkehrend, »Sie wissen, ich bin sehr mäßig, und werde ohnehin schlafen, daß die Trompeten des jüngsten Gerichts mich schwerlich wecken würden.«

»Gute Nacht, Herr Hänge.«

»Gute Nacht, Frau Winkler.«

Die Thür des Eckspindchens ging, es ging die Zimmerthür, und dann befand die Winkelliese sich an meiner Seite, meinen Kopf mit einer Gewalt an sich pressend, als hätte sie, um mich allen Gefahren und Leiden zu entziehen, mich lieber gleich hinrichten mögen.

Doch die Erinnerung an die von dem Gensdarmen scheinbar in größter Einfalt angedeutete Fahrgelegenheit, setzte ihren von schmerzlichen Ausrufen und geräuschvollen Seufzern begleiteten Liebkosungen schnell wieder ein Ziel. Wenn ich wirklich den Hauderer benutzen wollte, anstatt dem Herrn Landrath persönlich einen guten Morgen zu wünschen, durfte ich keine Zeit verlieren.

Gemeinschaftlich packten wir daher meine Habseligkeiten. Es war ja so wenig, und doch erschien ich mir so reich, so unendlich reich, indem ich die saubere Wäsche in den mir von dem Förster Wallmuth übergebenen geräumigen Jagdranzen schob. War doch jedes einzelne Stück mit bitteren Thränen aus den lieben treuen Augen benetzt, jeder Strich mit dem heißen Bügeleisen über dasselbe von einem innigen Segenswunsche begleitet worden.

Mein Herz blutete, meine Hände zitterten, indem ich diese Früchte des Fleißes der biederen Plätterin sorgfältig zusammenlegte; mein Herz blutete, meine Hände zitterten, indem ich das Geld, die jahrelangen Ersparnisse des alten Gensdarmen zu mir steckte. Frei von falscher Scham nahm ich es an mich; ich kannte nur das einzige Gefühl einer unauslöschlichen, bis über das Grab hinausreichenden Dankbarkeit. Das Packetchen mit dem Geldstück und den Notizen fügte ich dem Skizzenbuch bei. Eine Ahnung sagte mir, daß ich oft, sehr oft, diese theuren Erinnerungszeichen hervorsuchen würde, um durch ihren Anblick meinen gesunkenen Lebensmuth wieder anzufachen, mich zu stählen zu neuen Anstrengungen, wenn Widerwärtigkeiten und Täuschungen mich an den Rand der Verzweiflung zu bringen drohten.

Kaum eine Stunde war verstrichen, seitdem der Hänge-Gensdarm sich zurückgezogen hatte, da stand ich reisefertig vor meiner alten Wohlthäterin da.

Auf der Schwelle eines neuen Lebens, blickte ich mit einer gewissen Ruhe in die Zukunft. Die Ueberzeugung, meinen heimlichen Verfolgern fortan unerreichbar zu sein, dann die in meinem Besitz befindlichen Geldmittel, welche ich in meiner Unerfahrenheit für unerschöpflich hielt, verliehen mir vorübergehend einen Anflug jener Zuversicht, welche es erleichtert, mit Verständniß über die zunächst einzuschlagenden Schritte zu entscheiden. In meinem Aeußeren mußten sich derartige Empfindungen ausprägen, denn die redselige Rathgeberin, welche die Winkelliese bisher gewesen, verwandelte sich plötzlich in eine einfache Plätterin, welche zu mir, wie zu einem höheren, die Geschicke Anderer lenkenden Wesen emporschaute. Sie klagte nicht mehr; nur in der Dringlichkeit, mit welcher sie fortgesetzt zur Eile trieb, offenbarte sich ihre Besorgniß um meine Sicherheit, der Wunsch, allein zu sein und sich ungestört mit ganzer Seele dem Schmerz um die unabweisbare Trennung hinzugeben.

»Bevor ich von dannen ziehe,« sprach ich, als sie mich durch das Plättzimmer begleitete, »möchte ich einen letzten Scheideblick auf ihn werfen, der mir so lange ein treuer, väterlicher Freund gewesen. Er schläft zu fest, um dadurch gestört zu werden; mir aber würde die Erinnerung an diese letzte Zusammenkunft für alle Zeiten ein tröstlicher Gedanke sein.«

Solche Worte genügten, die gute Winkelliese zu überzeugen. Doch erst, nachdem sie selbst ihren alten Hausgenossen ein Weilchen beobachtet, ihn sogar, ohne Antwort zu erhalten, angerufen hatte, gestattete sie mir, bei ihm einzutreten. Dann schlüpfte sie neben das Kopfende des Bettes hin, die Lampe mit der Hand beschattend, daß deren Schein den Schlummernden nicht blendete, zugleich aber bereit, sie schleunigst auszulöschen, sobald er zu erwachen drohte.

Doch der erste Blick belehrte mich, daß die wildeste Kriegsfanfare den lang und tief athmenden Reitersmann nicht zu ermuntern vermocht hätte; denn noch dampfte die neben seinem Lager stehende lange Pfeife, dieser bewährte Zerstreuer seines Aergers und seiner Sorgen. Er konnte sie erst in derselben Minute zur Seite gestellt haben.

Unentkleidet hatte er sich auf sein Lager geworfen, die Arme unter den Kopf geschoben und die breite Brust herausgedrückt, als habe er sich im Traum in Reih und Glied befunden und, des Befehls seines Vorgesetzten gewärtig, die entsprechende Paradestellung angenommen.

Sinnend betrachtete ich das ruhige, wettergebräunte Antlitz, in dessen jeder einzelnen Runzel eine Welt des Diensteifers und unerschütterlicher Pflichttreue wohnte. Unwillkürlich fragte ich in Gedanken, ob die geschlossenen Augen jemals wieder frei und mit dem Ausdruck der Zufriedenheit auf mir ruhen würden. Ebenso unwillkürlich legte ich meine Hand auf die Stelle, auf welcher ich sein goldenes Herz schlagen fühlte. Er rührte sich nicht, im Gegentheil, er schien dadurch fester eingeschläfert zu werden.

»Mein theurer Wohlthäter,« flüsterte ich tief bewegt über ihn hin, »für alle Deine Liebe und Opferwilligkeit habe ich Dir nichts zu bieten, als ein ewig dankbares Herz.«

Seine Züge rötheten sich, blieben aber unbeweglich, und nach wie vor senkte sich die breite Brust in regelmäßigen Pausen.

»Ich muß fort von Dir,« sprach ich weiter, unbekümmert um der Winkelliese dringende Warnungszeichen, die darin gipfelten, daß sie die Flamme des Lichtes ihren gespitzten Lippen näherte; »Du hast über mich gewacht in meiner ersten Jugendzeit; möge es mir dafür von der Vorsehung beschieden sein, mit derselben Treue über Deine letzten Lebensjahre zu wachen.«

Der Riesenschnurrbart zuckte, als seien meine Worte in des Schlafenden Träume eingedrungen. Die Winkelliese schluchzte leise vor Wehmuth und zitterte für meine Freiheit, ich aber wußte, was ich that, als ich, von meinen Empfindungen überwältigt, neben dem Bett auf die Kniee sank und mit lauterer Stimme fortfuhr:

»Du lieber, guter Hänge, was die Leute Dir Böses über mich berichtet haben mögen, hier kniee ich vor Dir mit einem so guten Gewissen, wie damals, als Du den verwaisten Knaben von der Seite seiner todten Mutter auf Deine Arme hobst, um ihn zu dem Deinigen zu machen. Man hat mich um meine Kindheit betrogen und bestohlen, das fühle ich jetzt doppelt. Sie wollten meine Anhänglichkeit und Dankbarkeit ersticken, und das ist ihnen nicht gelungen. Aber in Schlummer versenkt hatten sie solche Regungen durch ihre Lehren und durch ihre Mißhandlungen, und mich an mir selber irre gemacht. Wäre ich nicht entflohen, möchten sie einen Verbrecher aus mir gebildet haben, welcher die Liebe zu seinen Mitmenschen als einen krankhaften Zustand betrachtete und sie daher aus seinem, wie aus dem Herzen Anderer zu reißen suchte. Ja, das glaube mir, Du lieber, Du guter Hänge, und wenn Du an mich denkst, dann thue es mit Deiner gewohnten Liebe, mit Deiner gewohnten Nachsicht, deren ich mich nie unwürdig zeigte. Deine Ersparnisse nehme ich an, und ich bin stolz, durch Dich in die Lage versetzt zu sein, meinen ersten selbstständigen Schritt in die Welt hinaus ohne Bangigkeit um den nächsten Bissen Brod thun zu können; ich bin ebenso stolz, wie dankbar, denn die Früchte Deiner Sparsamkeit werden mir zum Segen gereichen.«

Hier stieß die Winkelliese mich leise an, worauf sie entsetzt auf die geschlossenen Lider des bärtigen Kriegers wies. Ich hatte indessen längst entdeckt, wie die schwarzen Wimpern sich befeuchteten und Tropfen auf Tropfen bald über die linke Schläfe, bald über die rechte auf das Kopfkissen hinabrollte.

»Lebe wohl, Du lieber, lieber Freund,« vermochte ich nur noch mit erstickter Stimme hervorzubringen.

Dann nahm ich das theure alte Gesicht zwischen meine Hände, einen herzlichen Kuß drückte ich auf den konvulsivisch zuckenden Schnurrbart, und mich hastig erhebend, trat ich auf den Flur hinaus.

Die Winkelliese folgte auf den Zehen. Die gute Seele konnte sich nicht von dem Gedanken lossagen, daß der Grund für die Festigkeit des Schlafes ihres biederen Hausgenossen nur in ihrem klugen Verfahren und der Wirkung des ihm fast mit Gewalt aufgedrungenen Glases zu suchen sei.

Schweigend traten wir in den Vorgarten hinaus; schweigend begleitete sie mich bis an das Straßenpförtchen. Auch ihr wollte ich meinen Dank aussprechen, sie ließ mich indessen nicht dazu kommen.

»Geh, Jahnchen, geh,« murmelte sie kaum verständlich, indem sie mich sanft auf die Straße hinausdrängte; »mit dem Kreuz auf dem Grabe Deiner Mutter, das besorge ich pünktlich. Das ›Indigo‹ verschwindet in den nächsten Tagen, und statt dessen sollen die Leute lesen: ›Martha‹; weiße Lackfarbe auf schwarzem Grunde und d'rüber ein schöner fliegender Schmetterling – ein Pfauenauge, denke ich.«

Einen Einwand gegen die vorgeschlagene Ausschmückung wagte ich nicht zu erheben.

»Tausend, tausend Dank, mein gutes Winkellieschen,« flüsterte ich traurig, »achte auch darauf, daß Raum –«

»Raum für einen zweiten Namen bleibt,« fiel die treue Seele mir in's Wort, »ja, ja, und möge Gott geben, daß es nicht lange dauert, bis Du selber den Platz mit einem ganz neuen, wunderbar schönen Namen ausfüllst. Indigo ist überhaupt keine passende Bezeichnung – bei Kindern geht's wohl – man denkt dabei an sauber geblaute Wäsche – aber nun gehe und sprich kein Wort mehr, oder 's ist vorbei mit mir. Geh, 's wird sonst zu spät, Jahnchen – geh – und möge des Himmels bester Segen Dich begleiten.«

Hastig schlüpfte sie in's Haus zurück. Drei Thüren hörte ich schnell hinter einander zufallen. Was dies bedeutete, ich errieth es. Sie war in die Kammer geeilt, um das Haupt in die Kissen ihres Bettes zu vergraben und sich nach Herzenslust auszuweinen.

Ich stand noch immer neben der Gartenpforte. Schwarz und still lag das Dorf. In milder Beleuchtung strahlte der nächtliche Himmel. Wer zählte die funkelnden Sterne? Wer ermaß die unergründliche Liebe, welche ich hinter mir zurückließ, als ich, ein obdachloser Fremdling, langsam einem fernen, unbekannten Ziele zuwandelte?


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