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SECHSTES CAPITEL. DIE HEIMKEHR.

Ein trauriger, trauriger Abschied war es, als wir endlich die Heimreise antraten, und meiner ganzen Erinnerung an den lieben, getreuen Hänge-Gensdarm, welchen ich nunmehr wiedersehen sollte, bedurfte es, um nicht, dem Beispiele der Winkelliese, Frau Hannchens und der blondlockigen Zwillingsschwestern folgend, in Thränen auszubrechen.

Wallmuth selber fuhr uns wieder zur Stadt; Frau Hannchen gab ihrer Pflegemutter im Wagen das Geleite, wenigstens so weit, bis sie uns eingeholt haben. Denn die Zwillinge ließen es sich nicht nehmen, mich eine Strecke zu Fuß zu begleiten, um unterwegs noch einen Strauß Waldblumen für die Großmutter zu pflücken und einen zweiten für mich zum ewigen Andenken.

Ja, wir pflückten Blumen, wie wir so vielfach gethan hatten; allein, wo blieben die Scherze, die lustigen Einfälle und das hellklingende Lachen, womit wir uns sonst dieser lieben Beschäftigung unterzogen? Wir schritten dahin, wie erwachsene, viel erfahrene Leute. Wie solche sprachen wir vom Wechsel der Zeiten, vom Schmerz des Scheidens und von der Freude des Wiedersehens, und manche, manche Blume, die sonst schwerlich unseren scharfen Blicken entgangen wäre, blieb unbeachtet stehen, um auf ihrer kleinen Heimstätte sich ganz zu entfalten, zu welken und zu sterben und in ihrer Wiege zugleich ihr Grab zu finden.

Als wir bei den Marmorstatuen vorüberschritten, trat ich in einer letzten Anwandlung von Muthwillen vor sie hin; meine Mütze zog ich tief vor ihnen.

»Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein Thekla!« rief ich laut aus, mich der starren Waldgöttin zukehrend, »leben Sie wohl, Herr Candidat Leise,« wendete ich mich an den ziegenfüßigen Flötenbläser. Dann huschte ich um die Ecke herum. Ich befürchtete, von den beiden steinernen Gästen eine Antwort zu erhalten.

Vor dem anderen Thorwege stand der mürrische alte Kutscher. Er hatte uns offenbar erwartet. Sein täglicher Verkehr mit Pferden ließ ihn mir als einen freundschaftlich gesinnten Biedermann erscheinen.

»Adieu, Herr Seltsam,« sprach ich, ihm zum Abschied die Hand reichend.

Ein Weilchen betrachtete er mich grübelnd.

»Du gefällst mir,« hob er bedächtig an, und da ich meine Mütze höflich vor ihm gezogen hatte, hinderte ihn nichts, mir mit der Hand die wilden braunen Locken zu streichen. »Ja, Du gefällst mir. Aus Dir wird entweder etwas Großes, oder Du gehst elendiglich zu Grunde. Lebewohl, und wenn Du eines Tages in Deiner Noth nicht aus oder nicht ein weißt, so denke an den alten Seltsam.«

Dann kehrte er sich ab und schnell trat er hinter den Thorweg, als hätte er bereits zu viel gesprochen.

Einen besonders tiefen Eindruck machten seine Worte nicht auf mich. Ebenso wenig dienten sie dazu, mich aufzuheitern, und einige Minuten später, da waren sie vergessen.

Schließlich waren es recht dürftige Sträußchen, welche die Zwillinge der Winkelliese und mir zum letzten Abschied reichten. Aber als Frau Hannchen und ihre beiden Töchter längst hinter uns im Walde verschwunden waren, als das Städtchen, unsere erste Station, vor uns auftauchte, und später im Hauderer, in der Hauptstadt wie auf dem uns erwartenden Müllerwagen, betrachtete ich noch immer abwechselnd die beiden Sträußchen, vergegenwärtigte ich mir die zierlichen Händchen, welche die einzelnen Blumen pflückten, die blauen Augen, welche dieselben erspähten, die fliegenden blonden Locken, das helle Lachen, jedes Wort, jeden Blick der so lieb gewonnenen holden Waldelfen.

Erst als ich aus der Ferne endlich den Hänge-Gensdarm entdeckte, wie er von der Hausthür aus nach uns ausschaute, klopfte das Herz mir wieder freier, fröhlicher. Der gute Hänge, er stand genau so da, wie damals, als ich ihm den letzten Scheidegruß zuwinkte. Ich meinte sogar, daß er sich die ganzen vier Wochen hindurch nicht von der Stelle gerührt habe. Selbst die in seiner Haltung ausgeprägte Schwermuth über die lange Trennung fehlte nicht. Auch die Winkelliese bemerkte diesen Umstand, äußerte sich indessen nicht darüber, weil des Müllerkutschers Bericht über ihr Grundstück so sehr günstig lautete, ihr alter Kostgänger also nur an den Nachwehen der ihm von unkundigen Händen zu Theil gewordenen dürftigen Pflege leiden konnte.

Endlich hielt der Wagen. Mit feierlichem Ernste half Hänge der Winkelliese zur Erde. Ebenso feierlich war er auch mir beim Hinunterklettern behülflich. Statt des mir unstreitig zugedachten herzlichen Lachens schob er indessen nur die Mundwinkel mit den beiden Schnurrbarthälften etwas weiter nach den entsprechenden verwitterten Wangen hinauf, und als er begann, von der Freude des glücklichen Wiedersehens zu sprechen, da blieben ihm die Worte in der militärisch fest geschnürten Halsbinde stecken.

Ich erschrak. Erfüllt von tiefer Traurigkeit hatte ich am vorhergehenden Tage das Försterhaus verlassen, und nicht minder niedergedrückt sollte ich heute meinen Einzug unter das heimatliche Dach halten. Letzteres errieth ich wenigstens aus der Hast, mit welcher der Müllerknecht abgefertigt und demnächst unser Gepäck in der Winkelliese Wohnung geschafft wurde.

Wie hatte ich mich während der ganzen Zeit meiner Abwesenheit auf den ersten Anblick des Hänge-Gensdarm, seines Braunen und des standhaften Blech-Ulanen gefreut! Wie auf mein Eintreten in das liebe bekannte Plättzimmer, auf das Wiedersehen aller der trauten Gegenstände, welche seit meiner Aufnahme in dem Hause nicht die geringste Veränderung erfahren hatten, und wie wurde ich enttäuscht!

Der Hänge-Gensdarm war ein Anderer geworden; der Blech-Ulan senkte feige seine offenbar von dem Steinwurf eines müßigen Dorfvagabonden getroffene Lanze, und nach dem Braunen wagte ich gar nicht zu fragen, aus Furcht, die erschütternde Kunde von seinem Tode zu vernehmen. Selbst der befreundete, nunmehr unheimlich kalte Plättofen und die Bilderbogen an den Wänden, vor Allem Frau Hannchens Portrait, welches ich wegen seines gänzlichen Mangels an Aehnlichkeit plötzlich haßte, schienen einen andern, gleichsam feindseligen Ausdruck erhalten zu haben. Nur noch für meine beiden treuen Beschützer, die sich geberdeten, als ob das entsetzlichste Unglück über uns hereingebrochen sei, hatte ich Sinne. War doch die Winkelliese, ohne zuvor abzulegen oder nach Staubschichten auf Tisch und Bank zu forschen, in einen ungepolsterten Armstuhl gesunken, während Hänge mit festen Schritten auf und ab wandelte und seiner langen Pfeife in einem Maaße Rauchwolken entlockte, daß ich sie mit den gewaltigen Fabrikschornsteinen verglich, wie ich solche in der Hauptstadt beobachtete.

»Herr Hänge, Sie sind mein Miether,« hob Frau Winkler endlich mit sichtbarer Unruhe an, »ich will nicht hoffen, daß während meiner Abwesenheit schlechte Menschen zwischen uns getreten sind.«

»Keineswegs – nichts weniger als das,« antwortete der Hänge-Gensdarm grimmig, und an mir vorüberschreitend strich er mit seiner harten Hand mir schmeichelnd über's Gesicht.

»Aber, was ist denn vorgefallen?« fragte die Plätterin noch unruhiger, denn so hatte sie ihren Miether noch nie gesehen.

»Nichts, Frau Winkler, nein, gar Nichts ist vorgefallen, Prrohl-Dannehr,« hieß es kleinmüthig zurück.

»Und dennoch ist nicht Alles so, wie es sein sollte, Herr Gensdarm Hänge,« eiferte nunmehr die Winkelliese resolut, »und ich hätte von Ihnen erwartet, nach meiner großen Reise, nach meinem freundschaftlichen Verkehr mit vornehmen hochgebildeten Herrschaften, mit angenehmeren Dingen, als mit einer Kündigung empfangen zu werden. Wenn andere Menschen Ihnen aber besser gefallen, Ihnen besser aufwarten, als Ihre bisherige anspruchslose Wirthin, so geniren Sie sich nicht. Ziehen Sie, wann Sie wollen, lieber heute, wie morgen; denn bis zum Ersten dauert's noch drei Wochen, und ich sehne mich wirklich nach einiger Erleichterung,« und um ihren festen Willen zu bekunden, löste sie den Hut von ihrem Haupte, ihn mit einer kräftigen Armbewegung auf den Tisch schleudernd.

»Frau Winkler, ich wiederhole, es ist nichts arriviret,« bekräftigte Hänge wiederum, und militärisch Kehrt machend, blieb er vor seiner erzürnten Wirthin stehen, »wenn Sie aber meinen, daß es mir bei Anderen besser gefalle, als bei Ihnen, so sind Sie des alten Gensdarmen überdrüssig geworden und ich kann ja lieber gleich – noch in dieser Stunde gehen. Nein, nichts ist arriviret,« fügte er milder hinzu, »gar nichts, nur ein Brief ist eingetroffen.«

»Und das nennt der Mann nichts!« rief die Winkelliese aus, die Hände in der Luft zusammenschlagend, als hätte sie einen unsichtbaren Schmetterling fangen wollen.

»Begreifen Sie denn nicht, daß ich aus besonders freundlicher Rücksicht mich scheue, Sie gleich mit einer bösen Nachricht zu empfangen?« fragte Hänge, der nunmehr keinen andern Ausweg vor sich sah, »ist es denn zu schlechten Nachrichten morgen nicht früh genug? Warum also nicht warten, anstatt den heutigen Abend und das frohe Wiedersehen zu verderben? Doch ich sehe ein, jetzt muß ich heraus mit der Sprache, Prrohl-Dannehr! Und von meiner Seele muß es ebenfalls herunter.«

Dann zog er einen Stuhl neben die vor Erstaunen sprachlose Winkelliese, und sich bedächtig auf denselben niederlassend, klemmte er mich mit einer mich beängstigenden Zärtlichkeit zwischen seine Kniee, worauf er im allerdienstlichsten Rapportton begann:

»Also, meine verehrte Frau Winkler, die Sache ist vorbei. – Da komme ich vor acht Tagen zu dem Herrn Landrath – so weit ganz gutes Wetter und der Braune nach alter Weise – und nachdem die Geschäftssachen erledigt sind, erkundigt er sich sehr angelegentlich nach dem Balde.

»Ich rapportire natürlich Alles, auch von seiner ersten großen Reise, wozu er nickt, wie Jemand, der bereits unterrichtet ist, und dann sagt er Folgendes zu mir:

»›Der Junge hat ohne Zweifel einflußreiche Beschützer. Dieselben möchten indessen noch nicht an's Tageslicht treten. Vorläufig beabsichtigt man nur, Sie Ihrer großen Sorge für den Knaben zu entheben.‹

»Verzeihen der Herr Landrath, sage ich, die Sache geht nicht, die Frau Winkler giebt ihn nicht aus den Händen – von mir selber erwähnte ich natürlich Anstands halber kein Wort.

»›Glaub's wohl,‹ meinten der Herr Landrath, ›denn die Frau Winkler ist eine verständige, eine höchst achtbare Frau, und hat sich an das Kind gewöhnt, es wohl gar liebgewonnen; sie wird sich indessen in das Unvermeidliche fügen müssen. Doch urtheilen Sie selber,‹ Darauf las er mir einen Brief vor, in welchem seine Mittheilungen bestätigt wurden, und da ich fürchtete, hier nicht rechten Glauben zu finden, so bat ich ihn, mir den Brief auf einige Zeit anzuvertrauen.«

»Wo ist er,« fragte die Winkelliese fast tonlos, und ihr gutes, rundes Gesicht hatte sich nach unten um ein Beträchtliches verlängert, wogegen dessen Karmoisinroth zu meinem Entsetzen furchtbar erbleichte.

»Hier ist er,« tönte es ebenso kleinlaut zwischen den Schnurrbarthälften hindurch, während die Gensdarmenfaust aus der Brusttasche des Hausmantels ein zusammengefaltetes Papier hervorholte. Dann las die frühere Escadronsmutter mit tiefer, feierlicher Stimme vor:

»Geehrter Herr Landrath! Unter Ihrem Schutze, in den Händen eines gewissen Gensdarm Hänge und einer Plätterin Winkler befindet sich ein Waisenknabe Namens Baldrian Indigo. Muthmaßlich stammt dieser Knabe aus einer Familie, der ein großer Dienst damit erwiesen würde, erhielte er eine Erziehung, welche ihn zu einem höheren Lebensberufe befähigte. Bevor wir unumstößliche Gewißheit haben, dürfen wir nicht mit Namen und der Veröffentlichung fast in Vergessenheit gerathener Umstände vortreten. Dagegen werden Sie dringend ersucht, die jetzigen Erzieher des Knaben zu veranlassen, ihren Schützling umgehend nach –stadt zu bringen und dort den Händen des Antiquars Dr. Sachs zu übergeben. Alle, den guten Leuten aus der Reise entstehenden Kosten ist der Herr Dr. Sachs angewiesen, ihnen sogleich zurückzuerstatten. Zu deren Beruhigung mag dienen, daß der Knabe im Hause des genannten Herrn bleibt und von dort aus eine höhere Lehranstalt besucht. Die Freunde des Knaben werden, selbst wenn ihre Vermuthungen sich als irrige ausweisen sollten, mindestens bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr gewissenhaft für ihn sorgen. Verzeihen Sie das Verschweigen der Namen, und seien Sie überzeugt, daß in dem Geschick des Knaben eine Wandlung zum Guten eintritt. Herr Dr. Sachs ist genau instruirt und wird regelmäßig die ausreichenden Geldmittel beziehen, bleibt aber vorläufig über die unbekannten Gönner ebenfalls im Dunkeln.«

»Unterschrift ist nicht,« fügte Hänge zum Schluß, wie im Selbstgespräch hinzu und ohne zu beachten, daß die Winkelliese sich erhoben hatte, die Fäuste auf ihre Hüften stemmte und ihn herausfordernd ansah.

»Also keine Unterschrift!« rief sie höhnisch aus, »nur schlechte Menschen, Einbrecher und – und Subjecte verschweigen ihre Namen! – Als ob ich nicht gewissenhaft für ihn gesorgt hätte! Und ›Wandlung zum Guten‹ schreibt man? Wer weiß, was diese Menschen ohne Unterschrift unter ›Wandlung‹ verstehen!«

»Ich fürchte, wir haben kein Recht, dem Balde Hindernisse in den Weg zu legen, wenn die Leute etwas Großes aus ihm machen wollen,« versetzte Hänge träumerisch und zugleich legte er den Arm um meine Schultern.

»Etwas Großes?« erwiderte die Winkelliese, und ihre geballten Fäuste zuckten krampfhaft nach unten, als wäre sie im Begriff gewesen, ein ihr verhaßtes Gesicht vor sich auf dem Tisch platt zu drücken, »der Jahn wird hier größer, als an jedem andern Ort der Welt! Ich kenne die Stadtkost! Milchgesichter werden da aufgezogen, und keine großen Männer! Meinen Sie aber, Sie, ein Mann des Gesetzes, wir besäßen kein Recht, dem Jahn Hindernisse in den Weg zu legen, dann hätten Sie ihn lieber gleich in dem Torfmoor lassen sollen. Denn der Jahn hat seinen eigenen freien Willen, und bestimmt der, bei uns zu bleiben, so sind das keine Hindernisse. Und nun entscheide Du selber, liebes Jahnchen: Willst Du lieber in der Stadt ein Milchgesicht werden, welches sein Lebelang an Krücken geht und ewig hungert, oder möchtest Du Dich von Deiner guten alten Winkelliese mit gesunder Kost zum großen Manne – so wie der Herr Gensdarm Hänge – heranpflegen lassen?«

Mit bange klopfendem Herzen hatte ich der Unterredung zwischen den beiden treuen Beschützern gelauscht. Die Aussicht, der theuren Heimstätte entrissen und unter fremde Menschen gestoßen zu werden, erschien mir so entsetzlich, daß ich auf die an mich gestellte Frage nicht zu antworten vermochte. Ich konnte nur der vor Entrüstung glühenden Winkelliese meine Hände entgegenstrecken; und als sie sich mir zuneigte, da schlang ich meine Arme um ihren Hals, und das gute Gesicht küssend, schluchzte ich laut und heftig. Die Winkelliese aber hob mich empor, wie wenn ich nicht schwerer, als eine frisch gefältelte Halskrause gewesen wäre, und mit ihrer Last im Zimmer auf und ab wandelnd, schwor sie unter manchen derben Verwünschungen, Jeden – selbst den Herrn Landrath nicht ausgenommen – der es wagen würde, fernerhin von einer Trennung zu sprechen, mit ihrem heißen Plätteisen das Gesicht so lange zu verarbeiten, daß es sich kaum noch von einer zusammengeschrumpften Backpflaume unterscheiden sollte.

»So, nun tröste Dich, Kind,« schloß sie, indem sie mich wieder zur Erde gleiten ließ, »Du kennst jetzt meinen Willen, und ein Landrath bedeutet für mich gerade so viel – nein, noch weniger, als der einfältige Blech-Ulan auf unserer Laube; und nun gar noch die Menschen ohne Unterschrift – die gehören in's Arbeitshaus. Doch nun gehe mit Herrn Hänge und begrüße den Braunen. Ich will unterdessen ablegen und wenigstens etwas Ordnung stiften.«

Mir standen immer noch keine Worte zu Gebote. Aber dem lieben runden Gesicht lachte ich unter Thränen so recht von Herzen zu; dann nahm ich des Hänge-Gensdarm Hand, der ebenfalls plötzlich stumm geworden war und auf den an uns ergangenen Befehl geneigten Hauptes sogleich mit mir den Weg nach dem Stalle einschlug.

Bei dem Braunen eingetroffen, begrüßte ich das Thier zärtlich, um so zärtlicher, weil eine Ahnung mir sagte, daß wir dennoch auf ewig von einander getrennt werden würden. Der alte Hänge ließ mich gewähren; erst als ich zu ihm zurücktrat, machte er mir den Vorschlag, mich unter die Krippe neben ihn in's Stroh zu legen.

»'s ist von wegen der Frau Winkler,« meinte er gutmüthig, »wir Beide sind vernünftige Männer, und hier unter der Krippe ist die einzige Stelle, auf welcher wir nicht Gefahr laufen, von der Alten belauscht zu werden. Du kennst sie; haben Weiber sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, so ist's mit der Vernunft vorbei; und sie mit ihrer grenzenlosen Anhänglichkeit an Dich ist schlimmer, als alle anderen zusammengenommen. Das heißt, eine ausgesucht brave und resolute Frau ist und bleibt sie, und da wollen wir Beide verabreden, wie wir am besten ihr die Nothwendigkeit theelöffelweise beibringen, so ungefähr, als ob wir dem Gefreiten heimlich etwas mehr kraftloses Hechsel unter seinen guten, vollwichtigen Hafer mischen.«

»Muß ich denn fort?« fragte ich angstvoll, und indem ich zu dem mich vertraulich beschnuppernden Braunen emporblickte, meinte ich, einen unbeschreiblich traurigen Ausdruck in seinen großen schwarzen Augen zu entdecken.

»Möchtest Du lieber ein Bauerknecht werden?« fragte der Hänge-Gensdarm vorwurfsvoll.

»Nein, das nicht; aber von hier fort will ich nicht,« gab ich zögernd zurück.

Hänge war in Verlegenheit um eine Antwort. Erst nach einem Weilchen hob er wieder an, indem er darauf hinwies, daß ich ein weit über meine Jahre hinaus gereifter Knabe sei, mit welchem sich schon ein verständiges Wort reden lasse, und daß ich eigentlich verdiene ein Mann genannt zu werden. Dann ging er auf sich selbst über, hervorhebend, daß er ein Mann des Gesetzes sei, der lieber sammt seinem Braunen im ersten besten Sumpfe elendiglich zu Grunde gehe, als um die Breite eines Haares vom Wege des Rechtes abweiche. Aber auch von der niedrigen Stellung eines Landgensdarmen sprach er, und wie es sein altes Herz erfreuen würde, mich dereinst als einen Menschen zu sehen, vor welchem er gerade stehen müsse. Ebenso malte er aus, wie die Winkelliese vor Stolz zuverlässig auseinanderginge, sähe sie mich als einen vornehmen Herrn. Natürlich dürfte ich auch dann nicht mich von ihr mit dem fremden ›Sie‹ anreden lassen; denn das würde ihr das Herz brechen. Auf die Dorfschulen schmähte er weidlich, wogegen er die städtischen höheren Lehranstalten als Einrichtungen pries, aus welchen ich nach wenigen Jahren als ein Mann hervorgehen würde, der sich mit dem Herrn Landrath messen könne, wozu übrigens gar nicht so sehr viel gehöre.

Ich dagegen, obwohl nicht unempfänglich für die von dem getreuen Hänge angeführten Gründe, fragte, wer sich in unsere Familienangelegenheiten zu mischen habe, und an der Winkelliese Erörterungen mich anklammernd, wie der Ertrinkende an einen Strohhalm, behauptete ich kühn, daß Menschen ohne Namensunterschrift eigentlich Niemand seien.

Darauf erzählte er mir, wie ich als hülfloses Kind in seine Hände gekommen sei und daß vielleicht Verwandte von mir lebten, welche ihre guten Gründe hätten, zu prüfen, was in mir stecke, bevor sie mich öffentlich anerkannten. Betreffs der geheimnißvollen Personen selber hatte er freilich keine Ahnung, ebenso wenig, wie der Herr Landrath oder ich.

Meine Gedanken schweiften wohl flüchtig nach dem Gespensterschloß hinüber und ich nahm Veranlassung, dem väterlichen Freunde alle meine Erfahrungen anzuvertrauen und bis in's Kleinste hinein zu schildern; allein schließlich stimmten wir darin überein, daß alle Bewohner jenes Schlosses mehr oder minder nicht recht bei Sinnen seien und die Letzten wären, welche sich um einen armen Waisenknaben kümmerten. Vielleicht schrieb der gute Alte sich Manches von meinen Schilderungen auf Rechnung einer kindlich regsamen, leicht vergrößernden Phantasie. Dabei aber lobte er mich, und meine männliche Ueberlegung pries er, daß ich so verschwiegen gewesen und nicht durch Ausplaudern eine glückliche Familie beunruhigt habe. Dieselbe Verschwiegenheit empfahl er mir auf's Strengste für alle Zukunft, namentlich der Winkelliese gegenüber. Auch ihr wünschte er Besorgnisse und Hintergedanken zu ersparen, darauf hinweisend, daß sie Alles in die Welt hinausposaune und in ihrer Noth Jeden frage, wie er darüber urtheile.

So sprach der Hänge-Gensdarm zu mir. Indem ich jener Stunde gedenke, ist mir, als höre ich seine rauhe, wohlwollende Stimme, als kaue ich noch immer auf dem Strohhalm, während meine Hand schmeichelnd über des zu mir niederschauenden Braunen weiche Nüstern fährt. Mir ist, als müßte ich, wie damals, meine Glieder lang ausstrecken, die Füße weit unter das geduldige Pferd hin, um zu prüfen, wie viel ich in der kurzen Zeit während meines Gespräches mit dem alten Krieger gewachsen. Und gewachsen, männlicher geworden war ich, das fühlte ich; der biedere Alte hätte sonst nicht zu mir gesprochen, wie zu einem vielerfahrenen Kameraden; ich wäre sonst nicht mit so viel Verständniß darauf eingegangen, als er einen Plan entwarf, die böse Nothwendigkeit der armen Winkelliese ›theelöffelweise‹ beizubringen.

Es dämmerte bereits, als der gestrengen Hausmutter Stimme uns jäh von unserm Strohlager emportrieb. Mit erzwungen heiterem Wesen traten wir in das Zimmer ein, wo zur Feier der Heimkehr uns ein besonders üppiges Mahl entgegenduftete.

»Ich bleibe hier!« rief ich mit einer gewissen Entschiedenheit aus, indem ich meinen gewöhnlichen Platz einnahm.

»Er kommt nicht aus unsern Fingern,« bestätigte der Hänge-Gensdarm, doch wagte er nicht, die Winkelliese dabei anzusehen.

Dies war der Anfang der Ausführung unseres, nach der kindlich gesinnten Escadronsmutter Angabe entworfenen Planes. Doch die Winkelliese war schlauer, als wir Beide. Ein Weilchen betrachtete sie uns schweigend von oben bis unten; dann zuckte sie geringschätzig die Achseln; gleich darauf aber kehrte sie sich ab, um verstohlen den Zipfel ihrer Schürze an die ehrlichen Augen zu führen, und vorbei war's mit unserem theelöffelweise Beibringen.

»Laßt mich ungeschoren,« murrte sie, nach dem Vorlegelöffel greifend, »was ich einmal gesagt habe, dabei bleibt's; in meinem Hause bin ich Herr, und am allerwenigsten ein einfältiger Landrath, und noch weniger eine schäbige Person ohne Namensunterschrift.«

Worin es lag, ich weiß es nicht; allein der energische, zuversichtliche Ton, in welchem die Winkelliese sprach, wirkte tröstlich auf mich, so daß ich meinte, keine Macht der Erde sei stark genug, mich ihr zu entreißen. Eine Erwiderung wagte ich zwar nicht, dafür aber aß ich mit einem Appetit, daß mir mehrfach ein ernstes Lob gespendet wurde.

Dem Hänge-Gensdarm wollte es dagegen nicht schmecken. Er schaute vor sich auf den Teller und dann wieder auf mich, stets sorgfältig vermeidend, seiner gestrengen Wirthin Blicken zu begegnen. Diese selber aber heuchelte die größte Sorglosigkeit, allein es war jene verzweifelte Sorglosigkeit, mit welcher der verurtheilte arme Sünder seine letzten Stunden berechnet.

Früher als gewöhnlich wurde ich zu Bette getrieben. Ich sollte durchaus ermüdet sein; trotzdem wachte ich bis tief in die Nacht. Die Thür der Kammer stand offen; zu mir herein drangen die Stimmen der beiden guten Alten. Zuerst leise; indem sie aber in ihrem Gespräch sich erwärmten und mich fester von den Armen des Schlafes umfangen meinten, wurden sie lauter, bis endlich jedes Wort mich verständlich erreichte.

Die Winkelliese hatte um diese Zeit Vernunft angenommen – wie Hänge mir am folgenden Tage vertraute – und begriff, daß es doch wohl besser für mich sei, eine Hochschule zu besuchen, als bei der gewöhnlichen Dorfschulmeistergelehrsamkeit stehen zu bleiben. Sie gab sogar zu, sich in das Unvermeidliche fügen zu wollen, meinte aber, doch nur eine Frau und Wittwe und daher zu schwach zu sein, mich selbst nach der so viele Meilen entfernten Stadt zu begleiten, und deshalb der Herr Hänge nothgedrungen so gut sein müsse.

»Ich kann ihn wohl aus meinem Hause scheiden sehen und mich hinterher einschließen, um mir die Augen aus dem Kopf zu weinen,« schloß sie klagend, »müßte ich dagegen in einer fremden Stadt ihm Lebewohl sagen, oder beobachtete ich, wie fremde Menschen ihn unbarmherzig unten an ihren Tisch setzten, wohin er nicht gehört, oder ihn gar bedrohten, wenn er mir nachjammerte, dann hielte ich nicht an mich. Ich würde ihnen die Wahrheit sagen, ihnen rund heraus erklären, wie ich über schäbige Personen ohne Namensunterschrift denke –«

Heftiges Schnauben verrieth, daß nach diesem ersten Gefühlsausbruch Thränen sich in die Unterhaltung mischten. Doch als hätten diese mildernd auf Beide eingewirkt, erhielt ihr Gespräch nun einen sanfteren Charakter.

O, dieses Gespräch! Wie bittere Tropfen und doch so tröstlich sanken die einzelnen Worte mir in die Brust, daß ich die Ecke des Kopfkissens zwischen meine Zähne schob, um nicht durch lautes Schluchzen mich zu verrathen, meine beiden treusten Freunde nicht noch tiefer zu betrüben. Räumten sie doch offen ein, daß es ihnen recht schwer falle, ohne mich fertig zu werden, daß ich bereits verstände, mich nützlich zu machen und ihnen etwas zur Hand zu gehen. Aber dies Alles war ja nichts im Vergleich mit meinen langen braunen Locken, die man in der Stadt erbarmungslos abschneide, und mit meinen blauen Augen, welche stets muthwillig lachten und unstreitig mit Indigo gefärbt seien, woher auch wohl mein Name rühre. Denn daß ich nicht auf den Namen Indigo, wohl kaum Baldrian getauft sei, bezweifelten Beide nicht länger. Die Winkelliese hatte das freilich wohl von Anfang an gewußt, – wie sie ernst behauptete – allein da nur schäbige Menschen keine Namensunterschrift hätten, sich für ›Indigo‹ entschieden, weil diese Farbe sie lebhaft an sauber geblaute, gestärkte und geplättete Wäsche erinnerte. Dann kamen die langen Winterabende an die Reihe, an welchen ich so schön vorzulesen pflegte, und die langen Sommertage, an welchen man das ›Angstkind‹ wohl zehnmal wer weiß wo, nur nicht in der sicheren Nachbarschaft des Hauses suchte. Und dies Alles war nun vorbei, vorbei auf Nimmerwiederkehr, und das Angstkind stand im Begriff, ein großer Mann zu werden, andere Menschen zu lieben, die alten Pfleger zu vergessen und als geringe Leute zu verachten, was diesen doch einen gewaltigen Stoß mitten in's Herz versetze.

Indem die beiden wunderlichen Hausgenossen dies erörterten, meinte ich, aufspringen, ihnen um den Hals fallen und betheuern zu müssen, daß ich nie, nie aufhören würde, mich nach ihnen zu sehnen und sie mehr zu lieben, als alles Andere in der Welt.

Ich hatte mich bereits halb aufgerichtet, als die Winkelliese sich selbst widersprach und mich dadurch solchen schmerzlichen Betheuerungen überhob. Sie schwor wenigstens bei Allem, was ihr heilig, und die frühere Escadronsmutter bekräftigte durch ein militärisches ›Prrohl-Dannehr‹, daß ich Charakter besäße und Resolution, vor Allem aber ein dankbares Herz und mich nie ändern würde, und erreichte mein Leben die goldene Zahl von hundert Jahren.

Und ich? O wie dankte ich ihnen für diese gute Meinung und wie mußte ich wiederum an mich halten, um nicht laut aufzuschluchzen.

Vorsichtig kroch ich unter meine Decke; den Kissenzipfel nahm ich wieder zwischen die Zähne, und indem heiße Thränen meinen Augen entrannen, gelobte ich mir immer und immer wieder, die beiden getreuen Alten zu lieben und ihnen anzuhängen bis in die Ewigkeit hinein.

Wie viele, wie unendlich viele Lehren, strotzend von bedachtsamer Weisheit, gehüllt in alle nur denkbare Formen und begleitet von Androhungen irdischer Strafen und Verheißungen himmlischer Gerichtsbarkeit sind in späteren Jahren an mich verschwendet worden! Und dennoch, welche Wirkung übten sie auf mich aus im Vergleich mit der Erinnerung an die schlichten, aufrichtigen Worte, welche ich obenein nur heimlich erlauschte! Haß und Verachtung entzündeten sie in meiner Seele; denn in meinem Verkehr mit den beiden Theuren, die sich unter meiner Beihülfe fortgesetzt gegenseitig über ihre Gesinnungen harmlos zu täuschen suchten, war mein Verstand frühzeitig gereift, daß ich leicht das Wahre von dem Falschen unterscheiden lernte. Ob man mich einen verstockten Sünder, einen undankbaren Menschen nannte, machte keinen tieferen Eindruck auf mich, als der braune Gefreite, wenn er, den Fliegen wehrend, mit dem langen Schweife mein Gesicht traf, oder der Blech-Ulan, wenn er sich vor jedem Windhauch gedankenlos um sich selbst drehte und mit seiner Lanze ohnmächtig in's Leere stach. Die von dem biederen Hänge und der einfachen Plätterin erlauschten Worte dagegen, die blieben in allen Lebenslagen mein Trost und meine Hoffnung; an sie klammerte ich mich an, wenn Mißtrauen und Verzweiflung mir fast die Besinnung raubten, die in schillernde Farben gekleidete und von berechnender Ueberlegung hinterlistig gelenkte Verführung an mich herantrat, mich in eine unergründliche Tiefe hinab zu stürzen drohte.

Wie oft, wie unendlich oft als Jüngling wie als Mann, wenn ich mein hartes Lager aufsuchte, schwere Seelenkämpfe und bittere Erfahrungen nur einen Mittelzustand zwischen Wachen und Träumen gestatteten, meinte ich, wie in jener Nacht, da ich mich schlafend stellte, die beiden getreuen Alten zu sehen, wie sie, bevor sie sich zur Ruhe begaben, mich noch einmal besuchten. Und heute noch, jetzt, da ich dies niederschreibe, sehe ich sie im Geiste vor mir: Die Winkelliese, in der einen Hand die Lampe, mit der anderen die Flamme beschattend, daß deren Schein mich nicht blendet, und den Hänge-Gensdarm, in der einen Hand die erloschene Pfeife, in der anderen den halben Schnurrbart, wie um sich dieses prächtigen Soldatenschmuckes mit Gewalt zu entledigen und sich dadurch gräßlich zu entstellen.

Lang und tief athmete ich; zwischen den unbemerkbar geöffneten und von Thränen befeuchteten Wimpern hindurch aber erblickte ich deutlich das durch den Lichtschein mit wunderlichen Reflexen geschmückte runde Antlitz der Winkelliese und zwei funkelnde Tropfen, die langsam über die vollen Wangen rollten und auf meine Decke fielen.

Regungslos betrachteten mich die beiden alten Hausgenossen. Was sie dachten, Wort für Wort könnte ich es niederschreiben; aber, wo fände ich die richtigen Bezeichnungen für die unbegrenzte Herzensgüte, aus welcher ihre Gedanken entsprangen!

Endlich seufzte der Hänge-Gensdarm tief auf. Es klang fast, als hätte er sagen wollen: »Wenn der Balde erst fort ist, dann habe ich nur Sie, meine liebe Frau Winkler, mit der ich ein solides Wort sprechen kann.«

Dann seufzte die Winkelliese aus breiter Brust, und: »Wenn der Jahn erst über alle Berge ist, mein lieber Herr Gensdarm Hänge,« glaubte ich herauszuhören, »dann habe ich nur Sie, bei welchem ich Mutterstelle vertrete.«

Dann reichten sie sich die Hände – ein außerordentliches, ungewöhnliches Ereigniß – und: »Gute Nacht, Frau Winkler,« »gute Nacht, Herr Gensdarm Hänge,« tönte es gedämpft und versöhnlich durch die Kammer. Zwei Thüren gingen; um mich herum noch ein Weilchen leises Rascheln und Schleichen auf den Zehen; das Licht erlosch, ich öffnete die Augen; doch lange starrte ich nicht mehr in die Finsterniß, und in Vergessenheit versanken die mich umgaukelnden heiteren Bilder meines kurzen Lebens, versank mein erster, tiefer Schmerz.


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