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ZEHNTES CAPITEL. DER VERFÜHRER.

Im Bösen wie im Guten, vielfach bewährt sich das Sprüchwort: Ereignisse von besonderer Tragweite kommen nicht vereinzelt und allein.

Ein lieblicher Sonntag Nachmittag war es, als Sophie und ich uns nach dem Boden hinaufbegaben, um die Zeit bis zum Abend auf unserem Altan vor der leeren Fensteröffnung zu verbringen. Wir waren so heiter gestimmt, wie es bei uns überhaupt nur möglich. Geschlossen waren Laden und Schaufenster, geschlossen Hausthür und Comptoir; die Familie Sachs, begleitet von Herrn Splint, vergnügte sich in irgend einem öffentlichen Garten beim Kaffee und von Wespen umschwärmten Kuchen – der bereits Cigarren rauchende Nickel ging seine eigenen Wege – in Folge dessen wir also wieder einmal das Reich allein im Hause führten.

Dieser bloße Gedanke hatte schon etwas Anregendes für mich, so daß ich im Vorbeigehen mit der Faust an Herrn Fröhlichs Thür schlug, was zugleich als Gruß und als Aufforderung gelten sollte, uns nachzufolgen. Zu meiner Ueberraschung öffnete er sofort. Er schien uns erwartet zu haben, denn nach einem freundlichen Gruß und vorausgeschickter Betheuerung, sich heute an unseren ländlichen Genüssen nicht betheiligen zu können, bat er mich, auf ein halbes Stündchen bei ihm einzutreten. Sophie gab bereitwillig ihre Zustimmung und eilte nach dem Boden hinauf, und gleich darauf hörte ich Fröhlich, nachdem er mich zu sich hereingezogen, die Thür behutsam hinter uns abschließen.

Schon mehrfach hatte ich den alten Herrn auf kurze Minuten besucht, um mir die Enträthselung irgend einer schwierigen lateinischen Construction zu erbitten. Die Umgebung, in welcher ich mich befand, war mir daher nicht neu; doch konnte ich mich nicht rühmen, jemals weiter, als gerade von der Thür bis zu dem von Dinte geschwärzten Arbeitstisch oder vielmehr einer Art Hobelbank gekommen zu sein. Denn so oft er mir auf mein bescheidenes Klopfen öffnete, jedesmal tönte mir die fast drohende Warnung entgegen, vorsichtig aufzutreten und nicht die mit unendlicher Mühe hergestellte musterhafte Ordnung leichtsinnig zu stören. Nach solcher Ermahnung wagte ich freilich nur, mich auf den Zehen einherzubewegen, obwohl ich mich vergeblich bemühte, ein System zu entdecken, nach welchem die Herstellung der Ordnung stattgefunden haben könne. Denn in Ermangelung von Tragebrettern war der Fußboden in seinem ganzen Umfange mit unregelmäßig übereinandergethürmten, furchtbar classisch dareinschauenden abgegriffenen Büchern und Heften bedeckt. Sogar der aus einer umgekehrten Holzkiste bestehende Waschtisch, zwei von den drei Brettschemeln und die mit einem Strohsack und einer wollenen Decke versehene Bettstelle dienten als Bücherschränke, nicht zu gedenken der beiden Fensterbretter und eines vorweltlichen, verschimmelten ledernen Reisekoffers.

Heute erging zu meinem Erstaunen die übliche Warnung nicht an mich. Noch mehr aber befremdete mich, als Fröhlich gleich nach unserem Eintritt beide Hände auf meine Schultern legte und sichtbar ängstlich erregt mir in die Augen schaute.

»Indigo,« redete er mich endlich so feierlich an, daß ich mich vor ihm entsetzte und an eine plötzlich zum Durchbruch gelangte Geistesgestörtheit dachte, »Indigo, Du bist ein kräftiger Jüngling geworden; besitzest Du aber auch Muth?«

Diese Frage, welche mich lebhaft an meinen alten väterlichen Freund, den Hänge-Gensdarm, erinnerte, beruhigte mich wieder, und lächelnd antwortete ich:

»Stellen Sie mich doch auf die Probe.«

»Auch moralischen Muth?« fragte der alte Gelehrte hohl, »es handelt sich weder um winzige Herkulesarbeiten, noch um die Gelegenheit, dem blassen Tode munter in's Antlitz zu schauen, sondern – sondern um einen – Diebstahl.«

»Diebstahl?« rief ich besorgt aus und von neuen Zweifeln an dem gesunden Denkvermögen des altem Herrn ergriffen.

»Stehlen, Einbrechen,« bestätigte dieser erregt, »aber höre mich zu Ende; es gilt nicht Deiner oder meiner Bereicherung, sondern der Erfüllung eines bestimmten Zweckes, und der Zweck heiligt die Mittel, oder vielmehr: Quum finis et licitus, etiam media sunt licita, wie der gelehrte Jesuitenpater Busenbaum in seinem Medulla theologiæ moralis im sechsten Buch, im dritten Capitel sagt. Du kennst diesen ersten Artikel in dem Glaubensbekenntniß Deiner Lehrer?«

»Ich besuche wohl ein Jesuitenconvict, allein ein derartiger Spruch ist mir bisher fremd geblieben,« antwortete ich wieder zuversichtlicher.

»So ist Deine Zeit noch nicht gekommen,« versetzte Fröhlich mit einem bezeichnenden Lächeln, und ungeachtet der gerühmten musterhaften Ordnung, begann er mit den Füßen die nächste Umgebung von den umherliegenden Büchern zu säubern, worauf er etwa ein Dutzend Folianten zum Sitz für mich übereinander schichtete und den einzigen leeren Schemel für sich selbst herbeiholte, »aber glaube mir, die wahre Bedeutung dieses Spruches wird Dir eines schönen Tages begreiflich gemacht werden, und es giebt in der That Lebenslagen, in welchen er vollkommen gerechtfertigt ist. Du kennst unsern gemeinschaftlichen Freund Sachs?«

»Ich sollte ihn wohl allmählich kennen gelernt haben?« erwiderte ich gespannt.

»Gut; Du kennst ihn aber nicht, wie ich jede Faser seines Zellgewebes durchschaue. Dieser Sachs ist nämlich eine so herzlose Creatur, wie nur je eine für ein paar Pfennige eine hungernde Gelehrten-Wittwe um den kostbarsten Theil von ihres verstorbenen Gatten classischer Hinterlassenschaft prellte; ein so durchtriebener Jesuit, wie nur je einer bei den Jüngern Loyola's Handlangerdienste verrichtete. Wie er sich Dir gegenüber stellt, kümmert mich nicht, suche ich nicht zu ergründen, wohl aber weiß ich, daß er mich auf eine unverantwortliche Weise ausbeutet. Doch auch das betrachte ich als Nebensache. Unverzeihlich dagegen, sogar grausam, unmenschlich ist es, daß er mir zwar die Benutzung der ihm von allen Seiten zugetragenen und zuweilen sehr werthvollen Werke gestattet, sie mir aber gerade dann entzieht und verkauft, wenn ich sie am nothwendigsten gebrauche. Er fußt darauf, daß mir die Mittel fehlen, anderweitig die meinen Studien entsprechenden Quellen zu öffnen. Um mich nun gänzlich zu seinem Sclaven zu machen, führt er mich gelegentlich nebenan in die Rumpelkammern, wo ich dann das eine oder das andere Werk bemerke, welches ich wohl auf einige Zeit besitzen möchte, welches mir aber vorzuenthalten ihm einen besonderen Genuß gewährt. Das letzte Mal war ich indessen auf meiner Hut. Vorsichtig unterdrückte ich meine Empfindungen beim Anblick eines Bandes Sanscrit-Erläuterungen, hoffend, daß sich mir eine günstige Gelegenheit bieten würde, den Schatz heimlich an mich zu bringen. Doch bisher erwiesen sich meine Hoffnungen als vergebliche, und da in den nächsten Wochen eine neue Katalogisirung des Gerümpels bevorsteht, so muß ich das Buch noch heute in meine Hände bekommen, oder es ist auf ewig für mich verloren, und da bleibt mir allerdings kein anderes Mittel, als das des Stehlens.«

»Stehlen?« fragte ich nach diesen, mit der Entschiedenheit eines Einbrechers von Profession gesprochenen Worten wiederum zweifelnd, und vor meiner Phantasie schwebten Ketten, eiserne Gitter und Wasser und Brod.

»Ja, stehlen und noch einmal: Stehlen,« bestätigte Fröhlich, und sein schiefes Haupt sank noch, tiefer auf die rechte Schulter, während sich seine Blicke förmlich in meine Seele bohrten. »Freilich kein Stehlen, was man im Allgemeinen darunter versteht, indem ich den erwähnten Schatz nur auf einige Zeit mir heimlich entleihe, allein ein unerlaubter Eingriff in fremdes Eigenthum bleibt es immer, der eben nur durch den damit verbundenen Zweck entschuldigt wird.«

»Dabei soll ich helfen?« fragte ich besorgt.

»Nur deshalb rief ich Dich herein. Heute ist die einzige und letzte Gelegenheit.«

»Wenn man uns entdeckt?« fragte ich weiter und, wie ich glaube, für meine beinah zwanzig Jahre recht kläglich und von Scheu gegen eine Handlung erfüllt, welche mein angeborener Rechtlichkeitssinn verdammte; »oder wenn Sachs Verdacht schöpfte und mich zur Untersuchung meinen Lehrern überwiese, diese aber –«

»Gehe mir mit diesen scheinbaren treuen Nacheiferern des Herrn Christus,« fiel Fröhlich lebhaft ein, »gehe mir mit den Menschen, die selbst unfehlbar sein wollen und darüber vergessen, daß unser Herr Christus als Mensch selber menschlichen Irrthümern unterworfen gewesen! Du staunst? Wie willst Du es denn nennen, wenn er Kranke als von Teufeln, von persönlichen Teufeln besessen erklärt und diesen gestattet, in eine Heerde Säue zu fahren, oder wenn er das Niederfahren des Teufels vom Himmel in Blitzesform, also eine Vision als wirkliche Thatsache hinstellt? Frage doch Deine weisen Lehrer, wenn sie Dich durch ihr Inquisitionsverfahren in die Enge treiben, frage sie danach und beachte, wie sie sich aus der Schlinge ziehen möchten.

Dann aber frage Dein eigenes Gewissen, das heißt nicht jene Gespenster, welche Deinem geknechteten Geiste vorschweben, sondern frage Dein Gewissen, indem Du von dem Grundsatze ausgehst, daß des Menschen Größe nicht in seinem Glauben, sondern in seinem Wissen besteht, nicht in furchtsamem Sclavensinn, sondern in freithätiger Liebe.«

Starr vor Erstaunen blickte ich auf meinen Verführer. Was er mir so entschieden und begreiflich erklärte, stand in so krassem Widerspruch zu Allem, was mir bisher gelehrt worden war und was zu glauben mir zur Gewohnheit geworden, daß ich es in meiner Unselbständigkeit schon als eine Art Verbrechen betrachtete, ihn nur angehört zu haben.

»So sind Sie kein Christ?« fragte ich verstört.

Fröhlich lachte sorglos.

»Ein besserer Christ, als diejenigen, welche Dich mit den ihren Zwecken angemessenen Bibelsprüchen überfüttern und Dir trotzdem den freien Gebrauch der heiligen Schrift verwehren,« eiferte er sodann, » ein besserer Christ, als diejenigen, welche den Namen Gottes beständig auf den Lippen tragen und dabei den Menschen, wie einen Taxusbaum, in bestimmte Formen ziehen und beschneiden möchten. Hahaha! Der gute Darwin will den Menschen nur zu einem Thier degradiren, Deine Lehrer dagegen, oder vielmehr der Jesuitismus, vor welchem Du Dich zitternd beugst, erniedrigt ihn noch tiefer: Er macht ihn zum Leichnam, zu einer Zuchtruthe für Andere, zu einer gedanken- und willenlosen Maschine. Und

dies Alles ›ad majorem dei gloriam ‹, und daher mit einem gewissen einschüchternden Pomp, einem sinnverwirrenden blendenden Glanze.

»Doch höre, wie der Altmeister Göthe sich darüber äußert und welche Eindrücke er auf seiner italienischen Reise in Regensburg gerade durch dieses Gepränge empfing!« Und aufspringend griff er nach einem auf der Hobelbank liegenden Buche, welches, als sei die Stelle besonders bezeichnet gewesen, in seinen Händen auseinanderfiel. Dann las er mit beinah krankhaftem Eifer:

›Der Jesuiten Thun und Wesen hält meine Betrachtungen fest. Kirchen, Thürme, Gebäude haben etwas Großes, Vollständiges in der Anlage, das allen Menschen insgeheim Ehrfurcht einflößt. Als Decoration ist nur Gold, Silber, Metall, geschliffene Steine in solcher Pracht und Reichthum gehäuft, der die Bettler aller Stände blenden muß. Hie und da fehlt es nicht an etwas Abgeschmacktem, damit die Menschheit versöhnt und angezogen werde. Es ist dieses überhaupt der Genius des katholischen äußeren Gottesdienstes; noch nie habe ich es aber mit so viel Verstand, Geschick und Consequenz ausgeführt gesehen, als bei den Jesuiten. Alles trifft darin überein, daß sie nicht wie andere Ordensgeistliche eine alte abgestumpfte Andacht fortsetzen, sondern sie, dem Geist der Zeit zu Liebe, durch Prunk und Pracht wieder aufstutzen.‹

»So weit Göthe,« rief er aus, zwischen einem Wust von Büchern einen anderen unscheinbaren Band hervorziehend und nach einigem Blättern ebenfalls auseinanderschlagend, »doch wenn der Dichter in klaren Worten sein Urtheil fällt und geltend macht, so braucht der Forscher nur ein Bild der Natur vor uns zu entrollen, um Jedem, der sich zum Vertheidiger der Wahrheit aufwerfen möchte, eine sichere Handhabe zu seiner Selbstbelehrung zu bieten! Aber höre weiter,« und er begann von Neuem zu lesen:

›Was unsichtbar die lebendige Waffe dieser Wasserbewohner; was durch die Berührung feuchter und ungleichartiger Theile erweckt, in allen Organen der Thier- und Pflanzenwelt umtreibt; was die weite Himmelsdecke donnernd entflammt, was Eisen an Eisen bindet und den stillen wiederkehrenden Gang der leitenden Nadel lenkt; Alles, wie die Farbe des getheilten Lichtstrahls, fließt aus einer Quelle; Alles schmilzt in eine ewige, allverbreitete Kraft zusammen!‹

»Ha Knabe,« fuhr er leidenschaftlicher und das Buch auf die Hobelbank werfend fort, »das sagt ein Mann, der ein besserer Christ, als Du und ich und alle Deine strengen Lehrer zusammengenommen! Und wie sagt er es? Ueberzeugend, überwältigend, ohne nur einmal den Namen Gottes dabei auszusprechen, und dennoch unerreichbar im Ausdruck wahrer Gottes-Verehrung – freilich, gerade dieser Umstand hat ihm von gewissen Seiten den Beinamen: Seelenmörder eingetragen; Du aber, der Du in Deinem angehenden Mannesalter und beim zauberischen Klange voll- und freitönender Worte um Dich schaust, als seien Dir schon bei Deiner Geburt die Schwingen geknickt und gelähmt worden. Du magst den Vorwurf der Seelenmörderei denjenigen zurückgeben, welche Dir einzuimpfen suchen, daß die wahre Religion nur von Aeußerlichkeiten abhängig, welche Dir das Denken verbieten, Deine natürlichsten und berechtigten Gefühle, sogar die Liebe zu Freunden und Blutsverwandten vernichten möchten. Ha, Knabe, ich bin in meinen Erörterungen weiter gegangen, als ich ursprünglich beabsichtigte – doch Du wirst jetzt wenigstens über mich ein klares Urtheil gewonnen haben; oder bezweifelst Du etwa noch, daß ich, trotz meines beabsichtigten Fehlens gegen das siebente Gebot, ein so guter Christ, wie nur irgend einer Deiner überfrommen Inquisitoren genannt zu werden verdient?«

Ein Weilchen betrachtete ich den alten Herrn sprachlos. Ich erkannte den unscheinbaren Gelehrten kaum wieder, wie er leuchtenden Auges vor mir stand, als ob ihn plötzlich die wohl ein halbes Jahrhundert weit hinter ihm liegende Jugendkraft auf's Neue durchströmt habe.«

»Wer spricht so? Wer lehrt so?« fragte ich, statt zu antworten, stotternd unter dem vollen Eindruck des Vernommenen, oder vielmehr nach dem Genuß des ersten klaren, erquickenden Wassertropfens, nachdem ich die langen Jahre hindurch nur mit stagnirenden, wenn auch glänzend gefärbten Stoffen genährt worden war.

»Das fragst Du?« fuhr Fröhlich sichtbar entrüstet auf, »Du solltest den großen Alexander nicht kennen? Diesen Heros der Wissenschaften –«

»Alexander von Humboldt?« fiel ich erschrocken ein, »nein, nimmermehr können jene Worte von einem Manne herrühren, der freventlich –«

»Einfältiger Knabe!« schnitt Fröhlich mit Heftigkeit ab, was ich weiter sagen wollte, »elender, verblendeter Knabe! Sprich nicht weiter! Versündige Dich nicht an einem Manne, der, fern jedem oppositionellen Wesen, nur der treue Dolmetscher der unverfälschten Natur genannt zu werden verdient; versündige Dich nicht an ihm und seinem Andenken, indem Du die giftigen und auch doch wieder ohnmächtigen Schmähungen derjenigen wiederholst, welche auf ihr

Banner geschrieben haben: › Die Wissenschaft muß umkehren!Lerne, Knabe, lerne denken, Dein eigenes Urtheil bilden, anstatt in blinder, sklavischer Unterwürfigkeit die Gedanken Anderer mechanisch zu den Deinigen zu machen. Und nun, nachdem ich so weit abschweifte, sage mir endlich, ob Du bezweifelst, daß auch ich mit meinen Anschauungen zu den Christen gezählt werden darf.«

»Ich bezweifle es nicht,« antwortete ich fest, obwohl es in meinem Kopfe schwirrte.

»Gut, Indigo,« fuhr Fröhlich alsbald fort, und er legte die Hand feierlich auf mein Haupt, »so wirst Du auch nicht bezweifeln, daß ich Dich nie zu einer verächtlichen, wirklich strafbaren Handlung verleiten möchte. Ich leugne nicht, daß die Wissenschaft in der Verfolgung ihrer Zwecke sich nicht immer streng an das Corpus juris hält. Wie aber der junge Mediziner den Hyänen in's Handwerk pfuscht, Gräber öffnet und Leichen aus ihren Särgen raubt, um sich die Mittel zu verschaffen, seinen Geist zu erleuchten und den Mitmenschen, der Nachwelt zu nützen; wie sogar der Geologe kostbare Steinproben aus seines besten Freundes Sammlung hinterlistig verschlingt, um ungestört seine Anschauungen über den Weltenbau zu erweitern, so steht mein Sinn nach jenem Buche, ohne daß ich durch die angewendeten Mittel zur Erlangung desselben zum gemeinen Dieb würde. Doch nun entscheide Dich; die Zeit entflieht; willst Du mir in meiner Noth beistehen oder nicht?«

Ich war wie berauscht. Die Worte, welche Fröhlich mir eben vorgelesen hatte, vibrirten noch immer in meinem Innern. Aehnlich einem elektrischen Strome hatten sie mich erschüttert. Wie die in stillem Gewässer niederschlagenden festeren Bestandtheile als todte Masse auf dem Boden ruhen, durch Sturm und Wellendrang aber frisches Leben erhalten und sich auf's Neue mit ihrer Umgebung vermischen, so wogte es in meinem Geiste. Es erwachten die seit Jahren im Scheintode schlummernden Regungen. Ein gewisser trotziger Stolz bemächtigte sich meiner. Es keimte die Neigung, die Wirkung jener seltsam zündenden Worte nicht nur an dem heuchlerischen Antiquar, sondern im Fall der Noth sogar an meinen strengsten Lehrern zu versuchen.

»Ich bin zu Allem bereit,« erwiderte ich nach kurzem Sinnen, entschlossen in die mir gebotene Hand Fröhlichs einschlagend, »geben Sie mir den Schlüssel und die betreffenden Anweisungen, und ich bringe Ihnen, was Sie wünschen.«

Fröhlich lachte sorglos und seine Augen leuchteten vor Entzücken, indem er ausrief:

»Besäße ich einen Schlüssel, würde ich schwerlich daran gedacht haben, Dich in diese kleine gesetzwidrige Handlung zu verwickeln. Nein, nein, so leicht ist es uns nicht gemacht worden. Schau her,« und er entfernte einen Stoß Bücher von der gelb übertünchten Bretterwand, welche sein Stübchen von den Magazinräumen trennte, »mit unsäglicher Mühe habe ich hier unten die Nägel gelöst, welche diese beiden Bretter mit der Fußleiste verbinden. Die Elasticität der Bretter gestattet, sie bis zu einer gewissen Grenze nach innen zu ziehen, ohne sie zugleich oben an der Decke aus ihren Fugen zu reißen. Doch überzeuge Dich.«

Dann holte er seinen Stiefelknecht, und vor den bezeichneten Brettern niederknieend, zwängte er mit Hülfe eines abgebrochenen Messers dessen schwächeres Ende in die sich leicht vergrößernde Fuge. Sobald er aber einen Halt für seine Finger fand, griff er mit beiden Händen zu, und ohne erhebliche Mühe zog er beide Bretter gegen anderthalb Fuß weit nach sich, worauf er mit den Füßen einige Bücher in die keilförmige Oeffnung schob.

»So weit ginge Alles ohne fremde Hülfe,« kehrte Fröhlich sich nunmehr mir wieder zu, »jetzt aber entsteht die Frage: Wie komme ich hinein? Bleiben die Bücher als Stütze in der Fuge, so ist der freie Raum für mich viel zu enge; beseitige ich dagegen während des Hineinkriechens die Bücher, so laufe ich Gefahr, wie ein Fuchs im Hühnerstall gefangen oder gar guillotinirt zu werden. Begreifst Du das?«

Ich gab ein zustimmendes Zeichen. Zu sprechen vermochte ich nicht; kaum glaubte ich, meinen Augen trauen zu dürfen, als ich beobachtete, wie der alte Mann mit jugendlicher Lebhaftigkeit arbeitete und seinen Körper in die an Verrenkungen streifenden unbequemsten Lagen zwängte.

»Gut also,« nahm er sofort seine Erklärungen wieder auf, »wenn wir unsere Kräfte vereinigen, fallen alle diese Schwierigkeiten fort. Denn während ich selbst, statt der Bücher, die Bretter halte, schlüpfst Du hindurch, worauf ich Deine Schritte durch Zurufe so lenke, daß Du nicht irren kannst. Ich würde selber gehen, allein Dein Körper ist geschmeidiger; außerdem verlangt gerade das Biegen der Bretter die größte Aufmerksamkeit und Uebung, um keine auffällige Spuren zu hinterlassen.«

Er sprach noch, da hatte ich die stützenden Bücher zur Seite geschoben. Er selbst saß auf der Erde, und beide Füße gegen die Wand stemmend, lehnte er sich mit der ganze Schwere seines Oberkörpers rückwärts. Die Bretter bogen sich knarrend bis zum gänzlichen Losbrechen; ich aber legte mich nieder und nach einer kurzen Anstrengung richtete ich mich auf der andern Seite der Wand auf die Füße empor.

Bis jetzt waren meine Bewegungen mehr mechanische gewesen und bedingt durch den zügellosen Enthusiasmus, mit welchem der alte Herr mir dieselben erleichterte. Als ich aber in dem fremden engen Raume um mich spähte und mich von den nach einer bestimmten Ordnung auf dem Fußboden aufgeschichteten Büchern mißtrauisch angeschielt meinte, kam es über mich wie ein Gefühl der Reue, der Besorgniß, zumal Fröhlich die Bretter bis auf eine schmale Spalte zurückgleiten ließ und ich in Folge dessen mich eingesperrt wähnte.

»Was siehst Du?« fragte er, lang auf der Erde liegend, mit unverkennbarer Spannung durch die Spalte zu mir herein.

»Nur Bücher,« antwortete ich beklommenen Herzens, »Hunderte von Büchern in allen Formen und Einbänden; auch große Rollen – Landkarten –«

»Schund, lauter Schund,« fiel Fröhlich ungeduldig ein, »siehst Du denn nicht eine leere Thüröffnung?«

»Ich sehe sie.«

»So tritt in dieselbe, blicke in das nächste Zimmer und schräge nach dem Fenster hinüber!«

Schnell führte ich aus, was mir geheißen war.

»Und nun?« ertönte Fröhlichs Stimme wieder.

»Geordnete Bücherthürme an den Wänden und massenhaften Staub!« antwortete ich.

»Ich meine, mitten im Zimmer auf der Erde!«

»Einen Berg unordentlich durcheinander geworfener Bücher!«

»Richtig! Obenauf liegt ein rothgebundener Atlas?«

»Roth gebunden, indessen kaum noch erkennbar vor Staub!«

»Rühr' ihn nicht an, Unglückseliger!« eiferte Fröhlich angstvoll, »rühr' ihn nicht an, denn hinterlassen Deine Finger eine Spur in der Staubschicht, so sind wir verloren! Nicht um die Breite eines Strohhalms darf der Atlas verschoben werden. Der Luchs ist ein Maulwurf im Vergleich mit dem Antiquar. Doch höre weiter: Richte Deine Blicke auf die linke Basis des Bücherberges.«

»Ich sehe!«

»Ein Quartband – vergilbtes Schweinsleder – verschossener, stockfleckiger rother Schnitt – vier Finger stark – lugt unter verschiedenen Papierrollen und kleineren Büchern hervor! Sehen Deine jungen Augen ihn, Knabe?«

»Schweinsleder und rother Schnitt!« wiederholte ich, »ein Irrthum ist nicht möglich; die andern Bücher sind kleiner und zeigen farbige Einbände!«

»Gut, gut, Indigo,« stöhnte Fröhlich vor Erwartung, »Du bist ein scharfsinniger, ein vortrefflicher Bursche – suche also, das Buch unter dem andern werthlosen Gerumpel hervorzuziehen, ohne den Berg zu erschüttern – ja, Indigo, thue das, bringe mir die Beute und im Grabe will ich Dir's noch danken!«

Der innige, zärtliche Ausdruck, mit welchem der alte Herr dies sagte, beschwichtigte meine letzten Bedenken. Noch einmal wiederholte ich die Betheuerungen meines guten Willens, und mit zwei Schritten war ich auf der bezeichneten Stelle, wo ich sogleich niederkniete. Indem ich aber den schweren Band hervorziehen wollte, schwankte der ganze Berg, so daß ich mich gezwungen sah, mittelst anderer in meinem Bereich umherliegender Bücher die allmählich entstehende Fuge wieder auszufüllen und auf diese Art die Last, welche aus dem Gleichgewicht zu sinken drohte, zu stützen. Ueber meine Bewegungen stattete ich jedesmal laut Bericht ab, doch weniger, um den gespannt lauschenden alten Herrn zu befriedigen, als durch seine Stimme daran erinnert zu werden – und er lobte mein Verfahren fortgesetzt – daß ich nicht allein sei, sondern bei meinem Thun in dem dumpfigen Raume einen ebenso strafwürdigen und sogar noch weit verstockteren Gehilfen habe, wie selbst zu sein ich meinte.

Unter den losen Büchern fiel mir endlich eins in die Hände, welches sich vor allen andern durch einen verblichenen, blauseidenen Deckel auszeichnete. Etwas weniger umfangreich, als der zu meiner Beute bestimmte Quartband, mochte es kaum einen Zoll stark sein. Die blaue Seide und der erblindete Goldschnitt lockten mich und mechanisch schlug ich es auseinander. Statt mit bedruckten Blättern, war es mit starkem Zeichenpapier angefüllt; auf diesem aber erblickte ich, theils weniger, theils mehr sorgfältig, jedoch von sicherer Künstlerhand ausgeführt, Bleifederskizzen und Aquarellen, abwechselnd Landschaften und Gruppen von Menschen und Thieren.

Blatt für Blatt schlug ich um; indem ich mich aber in das Anschauen der charakteristischen, noch wohlerhaltenen Zeichnungen vertiefte, erwachte der Wunsch in mir, die kleine, jedenfalls kostbare Sammlung mein Eigenthum zu nennen. Ich besaß ja nichts, gar nichts, als meine Schulbücher, woran ich mich hätte erfreuen können, und diese Skizzen und vereinzelte, mit zierlicher Handschrift eingetragenen Verse übten durch den mächtigen Anblick einen Eindruck auf mich aus, als hätte ich stundenlang vor ihnen sitzen und sie betrachten mögen.

Ich überlegte, ob der Antiquar, wenn ich ihn darum ersuchte, den kleinen Schatz für das noch immer in seiner Verwaltung befindliche Taschengeld an mich abtreten würde. Allein wie konnte ich ihn bitten, ohne zugleich mein heimliches Eindringen in die Magazinräume zu verrathen?

Sinnend betrachtete ich auf dem gerade mir vorliegenden Blatte die verschlungenen Buchstaben, welche der Künstler dieser, wie allen anderen Zeichnungen am untern Rande gleichsam einverleibt hatte. Ein W. und ein Z. waren es; darunter ein noch mehrere Jahre vor meinen ersten Geburtstag fallendes Datum. Meine Phantasie begann zu arbeiten. Wo lebte zur Zeit die Hand, welche einst mit so viel Liebe die kleinen Kunstwerke schuf? Oder decke sie bereits Grabesnacht?

»Indigo, ich höre Dich nicht mehr!« ertönte Fröhlichs Stimme gedämpft zu mir herüber.

Ein namenloser Schreck bemächtigte sich meiner; das Buch entsank meinen Händen und entsetzt stierte ich um mich.

Erregt, wie meine Phantasie war, glaubte ich, daß Sachs selber mich gerufen habe.

»Gleich, gleich,« antwortete ich nach kurzem Säumen bebend, »ich muß sehr vorsichtig zu Werke gehen – der ganze Berg schwankt und droht umzustürzen,« und emsig begann ich wieder zu arbeiten.

»Recht so, Knabe,« ermahnte Fröhlich alsbald wieder, »Vorsicht ist die Mutter der Weisheit. Hüte Dich, Spuren zurückzulassen, oder schweres Ungemach bricht über uns Beide herein.«

Wiederum verrannen einige Minuten, und indem ich andere Bücher an dessen Stelle schob, gelang es mir endlich, den Quartband ganz frei zu legen. Nur von einigen Büchern war noch der Gleichmäßigkeit wegen die Staubschicht ganz zu entfernen, und nichts hinderte mich, mit dem Buche unter dem Arme zu Fröhlich zurückzukehren.

Im Begriff, mich zu erheben, fielen meine Blicke wieder auf den seidenen Einband. Sieben oder acht Skizzen hatte ich erst gesehen. Ringsum herrschte tiefe Stille. Wie mit unwiderstehlicher Gewalt zog es meine Hände nach dem geheimnißvollen Buche hin. Ob ich einige Minuten früher oder später dem alten Gelehrten mich zugesellte, konnte unmöglich in Betracht kommen, wenn ich dafür der, meine ganze Seele fesselnden Bilder einige mehr meinem Gedächtniß eingeprägt hatte.

Schnell, wie meine Gedanken sich jagten, handelte ich. Anstatt aber, wie früher, die Wahl dem Zufall zu überlassen, schlug ich die erste Seite auf.

›Martha‹, stand auf derselben, jedoch nicht geschrieben, sondern sauber gezeichnet und geschmückt mit kunstvoll ausgeführten Guirlanden, Schmetterlingen, Libellen und Gnomen.

»Martha, Martha,« sprach ich vor mich hin. Der Name hatte solch ein eigenthümlich befreundeten Klang, als ob er mir im Schlafe zugeraunt worden wäre. Ich meinte, von einem kleinen, ganz kleinen Kinde geträumt zu haben. Zwischen diesem und einer sich über mich hinneigenden Frauengestalt schwankte der Name hin und her.

Dichter wurde der Schleier vor meiner Vergangenheit, indem beim vergeblichen Hindurchspähen durch denselben die hinter ihm liegenden Bilder sich verwirrten.

»Martha, Martha,« wiederholte ich sinnend, indem ich das Titelblatt umschlug und meine Blicke dem ebenfalls mit Bleistift ausgeführten, jedoch mit zarter Farbe angehauchten Portrait eines lieblichen Mädchens begegneten. Ich hatte vergessen, wo ich mich befand, was ich an dem staubigen Ort bezweckte.

»Indigo!« tönte es dringend zu mir herein, »Knabe ich höre Dich nicht! Wo bleibst Du noch? Beeile Dich, Sachs kann in jedem Augenblick eintreffen und wir sind verloren!«

Ich verstand nur den Namen des Antiquars, und Grausen bemächtigte sich meiner.

»Ich komme!« rief ich entsetzt, und bevor ich eigentlich Klarheit über meine Handlungsweise gewann, hatte ich das Skizzenbuch unterhalb der Weste auf meiner Brust geborgen. Der Gedanke an eine Veruntreuung lag mir dabei unerreichbar fern; aber sehen wollte ich alle in demselben enthaltene Zeichnungen, nur ein einziges Mal noch mich ungestört den seltsamen, mich wehmüthig anheimelnden Träumereien hingeben, aus welchen ich so harsch aufgerüttelt worden war. Außerdem schwebte mir die Möglichkeit vor, später durch Fröhlich Gelegenheit zu finden, meinen Raub zusammen mit dem seinigen an Ort und Stelle zurückzutragen.

»Ich komme!« wiederholte ich gepreßt, indem ich den schweren Quartband hastig unter den Arm nahm, und fast ebenso schnell erreichte ich die gelösten Bretter, an welchen mein Weg vorbeiführte.

Fröhlich saß bereits wieder auf der Erde, mit äußerster Anstrengung die Bretter nach sich ziehend. Ohne Säumen schob ich zuerst das Buch zu ihm hinein, und mich niederwerfend traf ich Anstalt, ebenso schnell selbst nachzufolgen.

»Das ist's, Knabe, das ist's,« schrie der alte Gelehrte förmlich vor Entzücken auf, sobald er den ersten Blick auf den in Schweinsleder gehüllten Schatz geworfen, und viel fehlte nicht, daß er, um diesen an sein Herz zu drücken, die Bretter mit den langen Nägeln mir gegen den Kopf hätte schnellen lassen, »o, Knabe, ein guter Genius lenkte Deine Schritte,« fuhr er begeistert fort, »denn Du hast Großes geleistet, und die Nachwelt wird es Dir Dank wissen – wenigstens mittelbar – und noch in meinem Grabe will ich Dich für diese kühne That segnen!«

Doch was kümmerte mich in jenem Augenblick die Nachwelt oder ein später Segen? Nur der einzige Gedanke an meine Rettung erfüllte mich, und gewandter schlüpfte schwerlich jemals eine Feldmaus vor dem sie verfolgenden Wiesel in ihre Höhle, als ich über das dem alten Gelehrten als Stütze dienende Bein fort in sein Tusculum hineinpolterte.

»Wo ist er?« fragte ich verstört, sobald ich mich aufgerichtet hatte und Fröhlich die Bretter geräuschlos in ihre gewohnte Lage zurückgleiten ließ.

»Wer? Sachs?« fragte dieser gleichmüthig und dadurch eine Centnerlast von meiner Brust entfernend, »o, der sitzt zur Zeit wohl noch bei seinem Kaffee oder Bier und ahnt nicht, daß er von dem Geschick dazu auserkoren wurde, gewiß sehr gegen seinen Wunsch und obenein umsonst der Wissenschaft einen erheblichen Dienst zu leisten.«

Dann mit dem Stiefelknecht auf die willig nachgebenden Nägel einhämmernd, vereinigte er die Bretter wieder mit der Fußleiste, worauf er einen Haufen Bücher vor die verhängnißvolle Stelle schob und dadurch die letzten Spuren unseres gewaltsamen Einbruchs vollständig verwischte.

Länger vermochte er aber auch nicht seine Selbstbeherrschung zu bewahren. Zuerst umarmte er das Buch stürmisch; dann mich mit demselben Ungestüm, und er war eben im Begriff, vor seiner Hobelbank Platz zu nehmen, um sofort mit der Arbeit zu beginnen, als er sich plötzlich entsann, daß meine Gegenwart nunmehr überflüssig geworden sein dürfte.

»Das arme Kind oben wird gewiß ungeduldig geworden sein?« sprach er, indem er mich sanft der Thür zudrängte, »denn statt des festgesetzten halben Stündchens ist eine halbe Ewigkeit verstrichen.«

Mit der Ueberzeugung, daß eine unmittelbare Gefahr nicht drohe, war ein Theil meiner Ruhe zurückgekehrt.

»Wann soll ich das Buch wieder hineinschaffen?« fragte ich daher befangen, denn der leichte Druck unter der festgeknöpften Weste mahnte mich, daß ich ein doppeltes Vergehen zu sühnen hatte.

»Das eilt nicht, das eilt nicht,« antwortete der verstockte alte Herr, mit wunderlicher Erhabenheit die geschwärzte Zimmerdecke betrachtend, als hätte er eine Reihe von Jahren berechnen wollen, »das Buch ist hier bei mir jedenfalls am sichersten aufgehoben, und ungern möchte ich Dich der Gefahr aussetzen, auf einer bösen That ertappt zu werden.«

Ich zögerte noch immer. Es lag ja in meiner Gewalt, die eigene Beute eines Tages im Geschäftsraum unbemerkt unter den Ladentisch zu werfen, und mit solchen Gedanken mein Gewissen einschläfernd, kehrte ich mich meinem Verführer wieder zu.

»Die Worte, welche Sie zuletzt vorlasen, möchten Sie dieselben nicht noch einmal wiederholen?« fragte ich bittend.

»Nein, nein, jetzt nicht,« hieß es ungeduldig zurück, »denn keine halbe Minute Zeit habe ich übrig – ei – sieh doch,« verfiel er plötzlich in einen freundlicheren Ton, »das hat Dir gefallen? Glaub's gern, hat doch der verrufene Seelenmörder schon Manchen durch seine Ansichten der Natur bezaubert. Behagt aber Jemand solche Speise, dann wäre es verbrecherisch, sie ihm vorzuenthalten,« und nach der Hobelbank hinübereilend, nahm er das betreffende Buch, in welches er, zum leichteren Auffinden der angedeuteten Stelle, während des Gehens ein Blatt einkniffte, worauf er es mir darreichte; »nimm daher diesen Band – das heißt leihweise – und studire und lerne aus ihm, so viel Du kannst und magst. Doch wohl verstanden, Indigo, Du mußt ihn hüten, wie Deinen Augapfel. Findet man ihn bei Dir, so bist Du verloren, denn ich selbst wasche meine Hände in Unschuld, und ich bürge Dir dafür, für jedes Wort, welches Du in demselben gelesen hast, wirst Du von Deinen Herren Inquisitoren mit einer Carcerstunde bezahlt. Also aufgepaßt, Knabe; denn Du ahnst nicht, wie inbrünstig diese Finsterlinge solche Seelenmörder hassen und verdammen. Hahaha! Seelenmörder! Sollte Deine Seele durch die Lehren des Verfassers dieses Buches wirklich gemordet werden – was ich Dir von Herzen gönne – so wirst Du dem Tode dereinst verteufelt viel ruhiger in's Auge schauen, als heute dem heuchlerischen Antiquar oder gar Deinem unfehlbaren Herrn Director. Doch nun beeile Dich – das arme Mädchen oben stirbt vor Ungeduld – gehe – bist ein prächtiger Jüngling – und wenn Du liesest, so thue es mit Verstand, und nicht, als ob Du in einer Bilderfibel blättertest.«

So sprechend schob er mich sehr wenig förmlich auf den engen Flur hinaus, worauf er die Thür schnell hinter mir abschloß.

Langsam erstieg ich die Bodentreppe, langsam und sinnend, auf der Brust die in Seide gebundenen Skizzen, in der Hand das mir von Fröhlich anvertraute Buch.

»Was ist's,« fragte ich mich, »was dem hart gegen Noth kämpfenden alten Gelehrten jene beneidenswerthe, sorglose Heiterkeit des Gemüthes, jenes Vertrauen erweckende Wohlwollen für Andere verleiht? Was ist, das mich plötzlich so gewaltig treibt, diesen geheimnißvollen Lehren von der ›allverbreiteten Kraft‹ mit ganzer Seele zu lauschen und ihnen zu huldigen?«

Wie die schmale Kost aus den auf Auctionen erstandenen, vergoldeten, aber abgestoßenen und geborstenen Schüsseln auf dem Tische des Antiquars, hatte ich bisher gewohnheitsmäßig, kalt und theilnahmlos alle streng begrenzten religiösen Ueberweisungen entgegengenommen. Wie ganz anders wirkten dagegen die ersten, über jene Grenzen hinausreichenden Offenbarungen! Träumerisch vergegenwärtigte ich mir den Sinnenrausch, welchem ich in der weihraucherfüllten Kirche unterworfen gewesen; träumerisch verglich ich ihn mit den Empfindungen, welche mich durchschauerten, als der schlichte Gelehrte im ärmlichen Gewande und inmitten einer staubigen Umgebung mir jene Zauberworte mit dem Ausdruck heiliger, triumphirender Ueberzeugung zurief.

»Recht lange hast Du Deine vereinsamte Freundin warten lassen,« tönte Sophiens ernste Stimme von dem Altan zu mir nieder, »und dabei so nachdenklich,« fuhr sie fort, mir die Hand reichend, um mir das Hinaufsteigen zu erleichtern, »hoffentlich sind es keine bösen Geheimnisse, welche man Dir anvertraute?«

»Keine bösen!« rief ich wie auflebend aus, indem ich an ihrer Seite Platz nahm, »wenigstens keine Geheimnisse, welche ich Dir vorenthalten möchte.«

Dann aber begann ich zu beichten und zu erzählen – sie war ja verschwiegen, wie das Grab – von meinen Erlebnissen in des alten Fröhlichs Wohnung und von den Mitteln, welche er anwendete, mein Gewissen zu beschwichtigen und mich für seine Pläne zu gewinnen. Ich schilderte ihr meine Abneigung, in die Magazinräume einzudringen, und wie ich schließlich dennoch der Verführung unterlag. Von meinem eigenen Raube sprach ich dagegen nicht zu ihr, obwohl ich ihr so herzlich gern einen Blick in das Skizzenbuch gestattet hätte. Ich scheute den strafenden, vorwurfsvollen Ausdruck ihrer ernsten Augen, und doch hatte ich nichts Schlimmeres verbrochen, als Fröhlich, von welchem sie lächelnd meinte, daß ihm die harmlose Freude wohl zu gönnen sei, zumal ihr Vater nicht benachteiligt würde, wenn sein Miether das Buch eine Weile zu gelehrten Forschungen benutze.

Das mir von Fröhlich anvertraute Buch zeigte ich ihr dagegen. Eine kurze Erklärung schickte ich voraus; dann schlug ich die bezeichnete Stelle auf.

Gemeinschaftlich lasen wir sie. Wir lasen sie einmal, zweimal und immer wieder; wir konnten nicht satt werden. Wir lasen sie uns gegenseitig vor, so lange wir die Buchstaben zu unterscheiden vermochten und bis wir sie endlich auswendig kannten. Sogar als die Dunkelheit längst eingetreten war, machte sich die Wirkung auf unsere, zum erstenmal über die Grenzen unseres, gleichsam in eine Schnürbrust eingeengten Wissens schüchtern und erstaunt hinauslugenden Gemüther geltend. Einem seltsamen Zauber unterworfen, trachteten wir mit der Unsicherheit von Kindern, welche zum erstenmal die Kraft ihrer Füße prüfen, unsern Gesichtskreis zu erweitern. Aehnlich einer süßen Musik umschwebte es uns. Dann blickten wir wieder schweigend zu dem reichgestirnten Himmel empor. Wie klein erschienen mir die mich bisher mit andächtigem Staunen erfüllenden Räume der Kathedrale im Vergleich mit den mir aus unberechenbaren Fernen entgegenfunkelnden Weltkörpern; wie nichtssagend das Ora pro nobis des schillernd geschmückten Priesters im Vergleich mit der ewigen, die Himmelsdecke donnernd entflammenden, den stillen, wiederkehrenden Gang der leitenden Nadel lenkenden, allverbreiteten Kraft!

Es war ein lieblicher Augustabend. Wie gewöhnlich in diesem Monat, zogen auch an dem heutigen Abend glühende Meteore ihre Feuerlinie an dem nächtlich strahlenden Firmament. Als habe sie sich vor den flüchtig auftauchenden, rätselhaften Himmelskörpern gefürchtet, rückte Sophie mir näher.

»Wie die Sterne stehen,« bemerkte ich nach einer längeren Pause, »ihr plötzliches Erscheinen und ebenso plötzliches Verschwinden muß eine Ursache haben. Was würde man mir antworten, bäte ich eines Tages um Bekehrung? Wohl gar, es seien umherfliegende Engelein mit brennendem Wachsstock in den Händen, oder Abfälle der kohlenden Dochte vereinzelter, Oel bedürftiger Sterne.«

»Mir würde das genügen,« versetzte Sophie ernst, »es gewährt mir sogar Freude, durch einen fallenden Stern meine Gedanken in Orakel zu verwandeln.«

»Wohlan, so gieb Deinen Wünschen und Hoffnungen freien Spielraum, und laß die Sterne darüber entscheiden,« erwiderte ich heiterer.

Sophie neigte das Haupt. Trotz der nächtlichen Schatten meinte ich Thränen zu erkennen – vielleicht ahnte ich sie nur – die langsam und schwer über ihre Wangen rollten.

»Ich wünsche, Fröhlich hätte Dir das Buch nicht gegeben,« sprach sie traurig, »und Du hättest mir jene Worte nie gezeigt.«

»Aus welchem Grunde? Möchte ich selbst die Erfahrungen der letzten Stunden doch nicht um die Welt hingeben.«

»Weil sie die Ursache unserer Trennung sind,« klagte Sophie leise. Und wie sie gethan, als ich mit meiner Stirn kaum bis an ihre Augen reichte, legte sie auch jetzt ihren Arm wieder um mich, nach alter Weise mich an sich drückend; »wenigstens unserer beschleunigten Trennung,« wiederholte sie fester, »denn viele Jahre hätten wir ohnehin wohl nicht mehr zusammen bleiben können. Weilst Du mir aber fern, dann habe ich keinen Menschen mehr auf der Welt, welchen ich aufrichtig liebe und der das häßliche Mädchen mit der unglückseligen Gestalt wieder liebt.«

»Beunruhige Dich nicht,« versetzte ich aufmunternd, und gewiß lag im Tone meiner Stimme, wie treu ich es meinte, »wenn ich von Dir scheide, so scheide ich nicht auf ewig. So oft, wie möglich, werde ich Gelegenheit suchen und finden, diejenige wieder zu sehen, welche sich des armen verwaisten Knaben erbarmte, als alle Menschen ihn kalt und lieblos von sich stießen. Und dann, Sophie, heute oder morgen gehe ich noch nicht.«

»Und kehrtest Du wirklich nach langer Abwesenheit hierher zurück, so wäre Alles anders geworden,« erwiderte Sophie beinah flüsternd, wie von heimlicher Scheu beseelt, »nachdem Du mehr von der Welt gesehen, nachdem Du Unterschiede kennen gelernt hättest, würde ich mich schämen – das fühle ich schon heute – Dir in's Antlitz zu schauen; und auch Du – doch ich wiederhole, eine Ahnung sagt mir, daß Deine Tage in diesem Hause gezählt sind. Was dieses Buch lehrt, ist zu verschieden von Allem, was wir bisher erfuhren. Es hat Dich in der kurzen Frist von wenigen Stunden in einen andern Menschen verwandelt. Du bist stolz geworden. Du sprichst so zuversichtlich und furchtlos, wie es Deine Lehrer schwerlich billigen, und unter solchen Bedingungen ist ein Friede von längerer Dauer kaum noch möglich.«

Ich erwog den Inhalt des Vernommenen und war im Begriff, tröstlich zu antworten, als unten die Hausthür ging.

»Sie kehren heim,« bemerkte Sophie, und sie seufzte lief auf, als wäre die Unterbrechung unseres Gespräches ihr willkommen gewesen.

Schweigend stiegen wir von dem Gerüst. Sophie eilte die Treppe hinab; ich selbst schlich in mein Kämmerchen. Bei der dürftigen Beleuchtung einer Talgkerze, welche ich in den Hals einer leeren Flasche gesteckt hatte, verbarg ich die beiden Bücher unter den Strohsack meines Bettes. Nur flüchtig betrachtete ich die verblichene blaue Seide. Einen Blick auf die Skizzen selber wagte ich nicht; ich fürchtete deren bannenden Einfluß; und womit hätte ich mein längeres einsames Verweilen auf dem Boden entschuldigen sollen, zumal jegliche Benutzung von Licht in meinem Kämmerchen mir streng untersagt war? Im Großen, wie im Kleinen war man ängstlich darauf bedacht, mit den dahinrollenden Jahren nicht das Gefühl einer gänzlichen Abhängigkeit in mir einschlummern zu lassen.


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