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FÜNFTES CAPITEL. HAIDERÖSCHEN.

Wie die am Himmel einhersegelnden Wolkengebilde ihre Schaum auf die im Sommerschmuck prangende Erde niedersandten, diese über mich hinglitten und ringsum einen steten Wechsel der Beleuchtung erzeugten, so wechselten in meiner Seele tiefe Niedergeschlagenheit und schüchterne Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Letztere wurde getragen von dem Bewußtsein meiner kaum gewonnenen Freiheit; jene genährt durch die jüngsten Erfahrungen und die nie schlummernden Besorgnisse vor den Ungewittern, welche nicht nur mich, sondern auch andere, liebgewonnene Gestalten mit Verderben bedrohten. Hierzu gesellte sich das beschämende Gefühl eigener Hülflosigkeit, und am schmerzlichsten, wenn mein Weg an Feldern vorbeiführte, auf welchen Menschen, unter diesen sogar Kinder, rege beschäftigt waren und, wenn auch im Schweiße ihres Angesichtes, heiter und zufrieden ihr tägliches Brod erwarben. Die dem Kindesalter kaum entwachsenen frischen Erscheinungen beneidete ich vorzugsweise um ihr glückliches Loos. Sie kannten keine Furcht vor Nachstellungen, brauchten nicht über den nächsten Tag hinauszudenken oder jeden ihnen begegnenden Fremden scheu zu betrachten. Frei von Zweifeln schauten sie den Leuten offen in's Antlitz; sie beteten zu ihrem Schöpfer, wie die Vögel des Waldes, welche die Natur selber lehrte, in Liedern jeden neuen jungen Tag zu begrüßen, in Liedern der purpurn scheidenden Sonne ein süßes ›Gute Nacht‹ zuzurufen. Je ermüdeter ihr Körper nach des Tages Last, mit um so behaglicherer Sorglosigkeit hießen sie die ihnen winkende nächtliche Ruhe willkommen.

Ich dagegen, auf der Grenze des Mannesalters stehend, war noch immer von den Wohlthaten Anderer abhängig. Qualvoll durchschauerte mich dieses Bewußtsein. Das Geld, wenige Thaler waren es, welches Sophie mir scheidend gab, das Geld, welches sie mühsam mit ihren treuen Händen verdiente, wie flüssiges Erz brannte es bei solchen Betrachtungen in meinen Händen, und der lebhaftesten Erinnerung an die liebe uneigennützige Freundin bedurfte es, um es nicht von mir zu werfen, das Gefühl der Scham in mir zu mildern. Und wie weit wäre ich gekommen, ohne die Aufmerksamkeit argwöhnischer Sicherheits-Beamten auf mich zu ziehen, hätten mir die Mittel gefehlt, meinem Körper die allernothwendigste Pflege angedeihen zu lassen? Unter den obwaltenden Umständen dagegen galt ich als Schüler, der in den Ferien heimwärts wandert. Ein Strohlager im ersten besten Dorfkruge nahm zur nächtlichen Stunde meine müden Glieder auf, und oft kaum nennenswerth war die Entschädigung, welche die im Vorgefühl einer gesegneten Ernte schwelgenden Landbewohner dem stillen fahrenden Studenten beim Abschied mit lachendem Munde abforderten.

So wanderte ich Tag für Tag ungestört und unbelästigt. Heiteres Sommerwetter begünstigte meine Reise, und schöpfte ich aus der geneigten Haltung samenschwerer Halme trübe Gedanken, so lebte ich im schattigen Walde wieder von neuem auf, wie wenn ich daselbst mich im Kreise lieber, treuer Freunde befunden hätte. Ich bewunderte die kraftvollen Stämme mit ihren weit verzweigten Kronen, und an ihrem Beispiel mich gleichsam ermuthigend, fragte ich, wie vielen Stürmen sie in ihrem langen Leben ohne eine andere Wirkung trotzten, als daß die Erde sich fester um ihre Wurzeln legte, ihnen einen sicherern, zuverlässigeren Halt gewährend.

Am sechsten Tage traf ich auf einer Stelle ein, auf welcher die Straße sich theilte. Ein bemooster Wegweiser verkündete, daß ich nunmehr endgültig über die ferner inne zu haltende Richtung zu entscheiden habe. Wohin sollte ich mich wenden? Auf der einen Seite die Winkelliese und der Hänge-Gensdarm, auf der andern das lieblich umrankte Schweizerhäuschen mit seinen theuern Bewohnern. Dort die mit hinterlistiger Berechnung für mich aufgestellten Fallen, hier die Nachbarschaft des schwarzen Candidaten, welchen ich als meinen erbittertsten Feind betrachtete.

Grübelnd saß ich auf dem Rande des den Kreuzweg begrenzenden Grabens. Als Rücklehne diente mir der Wegweiser. Nach drei verschiedenen Richtungen streckte er seine Arme aus. Ihm war es gleichgültig, welche ich wählte; seine ausdruckslose Physiognomie wäre keine andere geworden, und hatte ich von der Stelle aus den Rückweg eingeschlagen, um mich schleunigst wieder in die Gewalt meiner Peiniger zu begeben. Hinter mir in einem röthlich blühenden Kleefelde summten unzählige Bienen, schwirrten goldbeschwingte Käfer, wiegten farbenschillernde Falter sich im süßen Duft. Keiner, Keiner sagte mir, wohin ich gehen sollte. Wie ein wüster Traum erschien mir die jüngste Vergangenheit. Nur die gute Winkelliese hob sich deutlicher von den nebelhaft verschleierten, durcheinander wogenden Bildern ab. Haideröschen und Lilie hatte sie die Zwillinge genannt. Vor meiner Seele erstanden zwei blondgelockte Engelsköpfchen mit glücklich lächelnden blauen Augen, das eine das getreue Spiegelbild des andern, zwei liebliche Haideröschen. Da drängte sich zwischen sie, wie ein drohendes Gespenst, der Candidat mit seinem höhnischen kalten Lächeln. Laut aufschreien hätte ich mögen vor Entsetzen. Mit Gewalt schüttelte ich die beängstigende Vision von mir, und entschlossen nach dem neben mir im Grase liegenden Stabe greifend, zog ich des Weges, welcher nach der Försterei führte.

Noch einmal übernachtete ich in einem Dorfe; in einem anderen fand ich für billige Bezahlung ein gutes Mittagbrod, dann trat ich in einen Wald ein, auf dessen Grenze mich kaum eine Wegestunde von meinem Ziele trennte. Dort mäßigte ich meine Eile; es galt vorzubeugen, daß durch mein plötzliches Erscheinen in dem Schweizerhäuschen die Kunde von meiner Anwesenheit nach dem Schloß getragen, die erste freudige Ueberraschung zur Verrätherin an mir wurde.

Langsam und schwermüthigen Träumereien hingegeben, bewegte ich mich im Schatten der Bäume einher. Heute kam ich aus einer anderen Richtung, als damals, da der lebenslustige Forstmann die Pferde lenkte und der nur wenig federnde Wagen die biedere Winkelliese, wie einen Gummiball von der einen Seite nach der andern hinüberschleuderte. Selbst dieser Umstand trug dazu bei, das Gefühl des Fremdseins in mir zu verschärfen.

Eine altmodische Kutsche, gezogen von zwei Pferden, kam mir entgegen. Ich erkannte sie auf der Stelle wieder. Gerade so, wie vor Jahren, schwankte sie auf dem hindernißreichen Waldwege, gerade so, wie damals, hielt der betreßte Seltsam Zügel und Peitsche. Meine erste Empfindung, tiefer in's Dickicht einzudringen und mich dort zu verbergen, wurde überwogen durch den unwiderstehlichen Drang, einen Blick auf den alten Herrn zu werfen, welcher mich einst in dem grauen Schloß umherführte und dessen wunderbar klingende Worte der Candidat als Aeußerungen gefährlichen Wahnsinns bezeichnete. Nur wiedersehen wollte ich ihn, ohne selbst bemerkt zu werden. Streifte aber wirklich ein Blick des Kutschers oder seines Gebieters den bestaubten Wanderburschen, was konnte es schaden? In den letzten Jahren hatte ich mich so sehr verändert, daß ich ein flüchtiges Begegnen nicht zu scheuen brauchte. Ich trat indessen hinter einen hart am Wege stehenden Baum, um wenig auffällig um denselben herumzulugen.

Näher stampften die Pferde in gleichmäßigem Schritt und näher polterte der geschlossene Wagen. Finster stierte der Kutscher vor sich nieder; nur gelegentlich warf er einen Blick vor sich in den Weg. Hatte er mich aus der Ferne zwischen den Baumstämmen hindurch entdeckt, so legte er kein Gewicht auf diesen Umstand; denn auf den letzten hundert Ellen, welche ihn von mir trennten, schien sein Leben durch dieselben Ursachen bedingt zu sein, wie die Bewegungen des Wagens.

Dadurch kühner geworden, schob ich meinen Kopf etwas weiter hinter dem mich schützenden Stamme hervor, und vor mir sah ich den greisen Schloßgebieter.

Auch heute saß er allein, auf der anderen Seite durch das geschlossene Fenster in den Wald hineinstarrend. Sein Antlitz war hagerer und bleicher, als vor Jahren, dagegen trug er einen ähnlichen Sammetpelz, wie damals, und ein ähnliches Sammetkäppchen ruhte auf seinen weißen Locken.

Nur wenige Secunden war mir der Anblick des stillen Greises vergönnt, doch übte dieser kurze Zeitraum eine Wirkung auf mich aus, als hätte ich Jahre hindurch in täglichem engen Verkehr mit ihm gestanden. War es sein früheres, Zutrauen erweckendes Entgegenkommen allein, was mich mit Theilnahme für ihn erfüllte, mit eigenthümlicher Gewalt zu ihm hinzog?

»Das ist nicht das Bild eines Wahnwitzigen,« sprach es in meinem Innern, »nicht eines Menschen, welcher von Irrsinn umnachtet, sich in die Rolle eines Blaubart hineindenkt.«

Die Kutsche war vorüber. Ich wollte wieder in den Weg treten, als eine Peitsche vor mich hinfiel. Fast gleichzeitig wurden die Pferde angehalten.

»Gnädiger Herr,« tönte des alten Seltsam mürrische Stimme in den Wagen hinein, »verzeihen Sie einen Augenblick. Die Peitsche blieb an einem Zweige hängen.«

Eine Antwort erfolgte nicht. Dagegen vernahm ich das Geräusch, mit welchem der Kutscher vom Bock stieg. Nicht ohne Besorgniß lauschte ich auf die sich nähernden Schritte und fester schmiegte ich mich an den Baumstamm.

»Junger Herr, hüten Sie sich vor den Schloßbewohnern,« flüsterte Seltsam mir zu, indem er sich n ach der Peitsche bückte, in dieser Stellung um den Baum herumlugte und mir finster, jedoch nicht feindselig in die Augen schaute. »Ich hätte Sie schwerlich erkannt, wüßte ich nicht, daß man Sie erwartet; aber Sie sind's, ich weiß es. Traun Sie keinem Andern, als dem Förster Wallmuth, und scheiden Sie nicht aus dieser Gegend, bevor Sie mich gesprochen haben.«

Wiederum das hohle Dröhnen der Schritte auf dem von Wurzeln durchzogenen Erdboden; dann das Geräusch des Hinaufkletterns nach dem Kutschersitz. Die Pferde zogen im Schritt an, die Räder mahlten im lockeren Sande; die Kutsche schwankte von dannen; ich aber stand noch immer auf derselben Stelle, die Augen dahin gerichtet, wo eben noch das breite, verwitterte Gesicht Seltsams hinter dem Baumstamm hervorsah.

»Hüten Sie sich vor den Schloßbewohnern, trauen Sie nur dem Förster,« wiederholte ich in Gedanken die geheimnißvolle Warnung.

Erschöpft setzte ich mich nieder, und Kopf auf Arme und Kniee rastend, versenkte ich mich in ein solches Meer bitterer Anklagen gegen den Himmel und alle Menschen, daß ich kaum noch Widerstand geleistet hätte, wäre der schwarze Candidat vor mich hingetreten, mich auffordernd, ihm auf's Neue in die entsetzlichste Gefangenschaft zu folgen.

Die Zeit verrann. Unter den Bäumen schlichen leise die Schatten der Dämmerung einher und abendliche Kühle senkte sich auf die müden Wipfel. Mit Gewalt streifte ich den Kleinmuth von mir, in welchen Seltsams Warnung mich jählings stürzte. Eine halbe Stunde hatte ich wohl noch bis zum Schweizerhäuschen zu gehen; dann war es hinlänglich dunkel, von irgend einem sicheren Versteck aus mich mit dem Förster in Verbindung zu setzen. Träumerisch verfolgte ich meinen Weg. Nicht lange, und zu mir herüber drang das Bellen des die heimkehrenden Rinder begleitenden Hundes.

Bilder, unendlich süß und friedlich tauchten vor meiner Seele auf. Sie erhöhten meine Schwermuth, aber auch meinen Haß gegen diejenigen, welchen ich verdankte, solcher Bilder nur noch als holder Träume, als etwas für mich Unerreichbaren gedenken zu dürfen. Als endlich die in sommerlichem Dunkel fast verschwindende Försterei in meinen Gesichtskreis trat, da waren durch solche Betrachtungen alle milderen Regungen weit zurückgedrängt worden.

Eine kurze Strecke von dem anmuthig gelegenen Gehöft hatte ich gemeinschaftlich mit den beiden Zwillingen eine Laube gegründet. Buchen- und Haselschößlinge hatten wir mit Hülfe des gutmüthigen Försters im Kreise auf einer Stelle angepflanzt, wo Bodengestaltung und anderes Buschwerk unseren Plan begünstigten. Dorthin lenkte ich meine Schritte. Das sich allmählich nach Norden herumschiebende letzte Abendroth erleichterte es mir, jene Stätte wieder zu finden. Eine Gruppe verwilderten Gesträuchs hatte ich erwartet zu sehen, und nun entdeckte ich, daß die vor Jahren gepflanzten Schößlinge sich in hohem Bogen zu einander hinneigten und eine mit Sorgfalt gepflegte und beschnittene Laube bildeten.

Was ich empfand, es ist unbeschreiblich. Aber niederwerfen hätte ich mich mögen, um zu sterben und in der Mitte des traulich schattigen Plätzchens begraben zu werden.

Das Andenken an den verwaisten Knaben hatte also auf der Försterei fortgelebt! Während ich in weiter Ferne geduldig alle nur denkbaren, den Geist verkrüppelnden Mißhandlungen ertrug, während man mit grausamer Kälte mich zum Auswurf der Menschheit zählte, mein Auflehnen gegen hirnverwirrende Einflüsse als Beweise der Verstocktheit meines Gemüthes deutete, hatten hier freundliche Seelen meiner gedacht, mich wohl gar der Undankbarkeit geziehen, weil ich so gänzlich für sie verschollen war.

Mit Empfindungen, als hätte ich die ganze Laube, jedes einzelne Zweiglein jammernd an mein Herz drücken mögen, näherte ich mich dem bogenförmig ausgeschnittenen Eingange, als grimmiges Knurren mich zurückschreckte. Leise wollte ich mich entfernen, allein es war zu spät. Ein großer, weiß- und dunkelgefleckter Hund vertrat mir den Weg und beschnupperte mich argwöhnisch. Dann aber, als sei es plötzlich in seiner Erinnerung hell geworden, begann er zu winseln, und an mir emporspringend, zog er mich förmlich zu sich nieder, daß ich meinen Arm um seinen Hals legte, ihm meine Wangen bot und willig seine stürmischen Liebkosungen duldete.

»So allein?« fragte ich halblaut, und den breiten Kopf zärtlich streichelnd, wie damals, als das kluge Thier dem fremden, vergessenen Knaben, ihn gleichsam tröstend, zutraulich die Nase in die Hand schob.

Da vernahm ich leises Rauschen in der Laube; in dem Eingange erschien eine hellgekleidete Gestalt, welche beinahe meine Größe erreichte, und bevor ich sie erkannte oder ihre Absicht errieth, fühlte ich mich umschlungen, warme Lippen preßten sich auf meinen Mund, und »Indigo, Indigo!« tönte es mir, halb erstickt durch heftiges Schluchzen, unaussprechlich süß entgegen.

»Hedwig, bist Du es wirklich?« fragte ich zaghaft, noch immer meinend, in der hohen schlanken Gestalt ein Trugbild meiner Phantasie in den Armen zu halten, und zugleich suchte ich die verschwimmenden holden Züge, wie sie mir aus früheren Zeiten vorschwebten, von dem nächtlichen Schauen zu trennen.

»Nein, nicht Hedwig,« hieß es wie klagend, »sondern Hannchen, – entsinne Dich, Hannchen mit dem blauen Halsband, – ach, das ist ja so lange, lange her – und wie groß Du geworden bist,« – dann von mir ablassend, trat sie befangen einen Schritt zurück; wäre es aber Tag gewesen, dann hätte die Sonne schwerlich jemals ein holdseligeres Erröthen mit ihren schönsten Strahlen umkränzt, als das Hannchens, indem jungfräuliche Scham sich ihrer bei der Entdeckung bemächtigte, daß wir nicht mehr die Kinder, welche sich einst durch sinnigen Farrnkrautschmuck in lustige Waldgötter verwandelten.

Doch auch ich fühlte nach diesem ersten stürmischen, noch von keinen überlegenden Rücksichten gelenkten Wiedersehen, nach diesem innigen Gruß aus weit zurückliegender, sorgloser Kindheit, eine gewisse Befangenheit, und dem lieben Mädchen mit mehr ernster Fassung die Hand reichend, sprach ich tief bewegt:

»Hannchen oder Hedwig; wie einst nicht in der Wirklichkeit, vermochte ich in der Erinnerung Euch noch viel weniger von einander zu trennen. Und so sei mir denn herzlich und viel tausendmal gegrüßt, Du liebes, süßes Hannchen; ich grüße Dich und in Dir Deine mir nicht minder theuere Schwester. Wie oft besuchte ich im Geiste diese liebe Stätte; wie oft in meinen Träumen wäret Ihr Alle, Alle um mich versammelt, unverändert, genau so, wie ich einst Euch kennen lernte. Was aber die Träume mir zeigten, ich hielt es für Wahrheit: Unverändert glaubte ich Euch wiederzusehen, unverändert die beiden blondlockigen Engel; einen solchen Wechsel – ich konnte ihn mir nicht vorstellen.«

»Und so bliebst auch Du uns bis heute der freundliche, durch die Großmutter zu uns gehörende Knabe,« entschuldigte Hannchen sich mit holdseliger Verwirrung, »und als ich den Hund beobachtete und den ersten Ton Deiner Stimme vernahm, obwohl sie so viel tiefer geworden – da konnte ich nicht anders, ich mußte Dir entgegeneilen, mußte – wie damals –«

»Das lohne Dir Gott,« fuhr ich fort, sobald sie stockte, und ihre Hand ergreifend, führte ich sie in die Laube, wo wir auf einer von knorrigen Birkenästen zusammengefügten Bank Platz nahmen und nach mir fast sagenhaft erscheinender alter Weise dicht neben einander rückten; »ja, möge Gott es Dir lohnen, Du theures Haideröschen, denn Du ahnst nicht, welche Wohlthat Du mir erwiesest, welches große Glück Du mir, einem Geächteten, durch den herzlichen Empfang bereitetest. Ja, einem Geächteten,« wiederholte ich, als sie, von dem Ernst meiner Stimme betroffen, meine Hand unwillkürlich fester drücke, »und alles Unheil, welches mich bisher ereilte und nur noch droht, es hat seinen Ursprung drüben in dem unheimlichen Schlosse.«

»Auch Du bist dem räthselhaften Einfluß jener Menschen unterworfen?« seufzte Hannchen schmerzlich. Sie brach ab, wie um mir etwas zu verheimlichen; dann aber fuhr sie in ihrer lieben, herzigen Kindesweise fort: »Dein Eintreffen begrüße ich als ein Glück – Du wirst meine Mutter verändert finden, und meine arme Schwester –«

»Eine stille, bleiche Lilie,« fiel ich träumerisch ein.

»Eine Lilie,« bestätigte das Haideröschen, »so bleich, so still und ergebungsvoll. O, mein Gott, womit hat sie das verdient, sie, die nur Gutes gedacht und gethan? Doch Du wirst sie sehen, und gelingt es Dir nicht, sie wieder aufzurichten, Dir, an welchem sie seit jenen frohen Tagen noch immer mit ganzer Seele hängt –«

»Nein, nein!« unterbrach ich leidenschaftlich die herzzerreißende Schilderung, »weder sie, noch Deine Mutter, noch sonst Jemand Eures Hausstandes darf meine Nähe ahnen, oder ich bin verloren –«

»Verloren?« fragte Hannchen bestürzt, und wiederum drückte sie meine Hand krampfhaft, denn die Hoffnung, bei dem Jugendgespielen Trost und Rath zu finden, hatte schnell die Befangenheit verscheucht, welche sich nach der ersten Begrüßung entfremdend zwischen uns drängte.

»Aus der Anstalt und Pension, wo ich gewaltsam zurückgehalten wurde, bin ich entwichen,« erklärte ich zähneknirschend, jedoch bedachtsam die Grenze im Auge, bis zu welcher ich meinte, ohne Gefahr für mich und die Försterfamilie mit meinen Offenbarungen gehen zu dürfen; »ja, ich entwich; aber unermüdlich stellt man mir nach. Sogar bis hierher dehnen die grausamen Feinde ihre Nachforschungen aus – ich weiß es aus sicherster Quelle – und entdecken mich die Bewohner des Schlosses, dann, ich wiederhole es, bin ich rettungslos verloren.«

»Aber was hast Du ihnen gethan? Welches Recht besitzen sie, Deine Freiheit zu beschränken, Dich feindlich zu verfolgen?« fragte Hannchen erschüttert.

»Nichts geschah von meiner Seite,« fuhr ich verzweiflungsvoll auf, daß das arme Haideröschen erschreckt zusammenschauerte, »nichts, wofür ich eine schmachvolle Behandlung verdiente, wie sie mir angekündigt wurde. Nur frei wollte ich sein, frei am Körper, frei am Geiste, anstatt gegen meine Natur in einen mir verhaßten Beruf hineingezwängt zu werden. Ja, frei will ich sein; frei, Jeden zu lieben, zu welchem mein Herz sich hingezogen fühlt; frei, zu denken und zu glauben, was die Vernunft und die Natur mich lehren.«

»Wie Deine Sprache geheimnißvoll, so ganz anders klingt, als in früheren Zeiten,« flüsterte Hannchen, eingeschüchtert durch meine Heftigkeit; »fast fürchte ich mich vor Dir; was Du meinst, ich verstehe es nicht genau, allein großes Unrecht hat man Dir zugefügt, Dein Gemüth hätte sonst unmöglich auf solche Art verbittert werden können.«

»Wohl verbitterten sie mein Gemüth,« entgegnete ich milder, »und Gott mag wissen, welchen Grund sie dazu ersannen – doch möge das ruhen jetzt; erinnere mich nicht daran, sondern gönne mir, die kurzen Minuten der Freude des Wiedersehens – sie sind ohnehin wehevoll genug – ungetrübt zu genießen. Ja, Hannchen, damals, als wir mit Blumen in den Händen und kindlichen Thränen in den Augen uns scheidend küßten und vom Wiedersehen sprachen, da ahnten wir nicht, daß, wie der Sturm zuletzt alle Blüthen knickt und tödtet, die vorüberrauschenden Zeiten die meisten, fast alle kindlichen Hoffnungen zu Grabe tragen. Oder wäre ich etwa durch meine Jahre schon zu einem Ernst berechtigt, wie er sich weit eher für das Greisenalter geziemt?«

Vom Schweizerhäuschen drang ein gellender Pfiff herüber.

»Ich komme!« rief Hannchen laut, indem sie sich erhob, dann kehrte sie sich mir wieder zu.

»Der Vater,« flüsterte sie ängstlich, »was soll ich ihm sagen, und wo und wann darf ich Dich wiedersehen? Armer Indigo, das Herz bricht mir bei dem Gedanken, daß es meiner Mutter und Hedwig verwehrt sein soll, Dich zu begrüßen und willkommen zu heißen, daß Du vielleicht gezwungen bist, wohl gar unter freiem Himmel zu übernachten!«

»Sorge nicht um mich, Haideröschen,« sprach ich leise, die beiden schlanken Hände fest drückend, »erzähle Deinem Vater, ich erwartete ihn hier, und wenn er geht, um mich aufzusuchen – es wird ihm ja leicht, einen Vorwand zu finden – stecke etwas Brod in seine Jagdtasche. Ich leide zwar nicht, allein ich könnte in die Lage gerathen, auch von hier flüchten zu müssen, und dann – ja – warum sollte ich es nicht einräumen – wäre ich von Allem entblößt.«

»Brod?« tönte es mit dem Ausdruck des Unglaubens, gleichsam ersterbend von den bebenden Lippen der theuern Gespielin, als hätte sie nicht fassen können, daß ich wirklich in Noth gerathen sei.

»Etwas Landbrod,« bestätigte ich erzwungen sorglos, »ich aß es immer gern, und in der Stadt wurde es mir gänzlich vorenthalten – doch nun gehe, meine rosenrothe Herzallerliebste – so nannte ich Dich ja in jenen schönen Tagen – nur noch eine Frage: War der Candidat in jüngster Zeit verreist?«

»Er verreist jetzt häufiger, als in früheren Jahren,« erklärte Hannchen sinnend, »indessen – vier Tage werden es her sein, da kehrte er nach längerer Abwesenheit in's Schloß zurück. Näheres weiß ich darüber nicht – ich besuche nämlich die Unterrichtsstunden nicht mehr, so dringend Mutter und Schwester es auch wünschen. Für den Stand einer Förstertochter lernte ich vielleicht schon zu viel; und dann –«

»Und dann?« fragte ich gespannt, als sie plötzlich abbrach.

»Dir darf ich es anvertrauen,« flüsterte sie zögernd, und ihre Lippen meinem Ohr nähernd, umschlang sie wieder meinen Hals nach alter trauter Weise, »einem anderen Menschen möchte ich es nicht verrathen – nicht einmal meinem Vater. Den Candidaten fürchte ich; er sprach in den Unterrichtsstunden und namentlich bei den Erklärungen einzelner Stellen aus der Bibel und dem Katechismus Dinge zu uns, welche mir erschienen – vielleicht irrte ich mich – als ob ein junges Mädchen sie wohl nicht hören sollte. Ich war empört, wogegen meine Schwester mich tadelte und die von mir geäußerten Ansichten auf mein zu starkes Hinneigen zu weltlichen Dingen zurückführte. Sie selbst, meinte sie, fühle sich bei solchen Erklärungen, welche ihr die unverhüllte Göttlichkeit näher brächten, von heiligen, ahnungsvollen Schauern durchströmt, daß sie nicht müde würde, den frommen Lehren zu lauschen. Ich zog mich indessen zurück, trotzdem Fräulein Thekla allen Lehrstunden beiwohnte und schließlich meine Mutter überredete, selbst über ihre Kinder zu wachen.

»Wie meine arme Mutter über das Verhältniß denkt, ich weiß es nicht, denn ich vermeide, über Dinge zu sprechen, welche namentlich meinen Vater sehr schmerzlich berühren; nachdem sie aber zwei- oder dreimal bei den Vorträgen zugegen gewesen, wurde sie eine eben so eifrige Besucherin des Schlosses, wie meine Schwester, und manches harte Wort traf mich, weil ich mich absonderte und dem Fräulein wie dem Candidaten scheu auswich. O, mein Gott! sonst waren wir in unserer Familie stets ein Herz und eine Seele; und jetzt? Wo blieb das alte, beglückende, hingebende Vertrauen? Die opferwillige Anhänglichkeit ist wohl noch immer dieselbe; allein zu beobachten, wie Jeder die Worte abwägt, um den Anderen nicht zu verletzen, als ob Geheimnisse, dazu geeignet, uns gegenseitig zu entfremden, als böse Saat zwischen uns ausgestreut worden wären, ach, das ist es ja, was mich oft so namenlos traurig stimmt, mich so manche, manche heimliche Thräne kostet.«

Noch immer hing das liebe, zutrauliche Mädchen an meinem Halse, als hätte es mich nie wieder von sich lassen wollen. Es war die gleichsam unbewußte Kundgebung eines Gefühls der Vereinsamung, der Verlassenheit, von welcher sie sich keine klare Rechenschaft abzulegen wußte; aber auch ein Beweis, daß sie, deren Leben in stiller Abgeschiedenheit verrann, den früheren Verkehr mit dem fremden verwaisten Knaben noch immer als einen freundlichen Lichtpunkt in ihrer Vergangenheit betrachtete. Die beiderseitige Noth und Bedrängniß hatten daher leichtes Spiel, uns in jene Zeiten zurückzuversetzen, in welchen Worte und Blicke nur allein den Regungen der kindlichen Herzen unterthan, weder jungfräuliche Schüchternheit, noch irgend eine andere, der reiferen Lebensstufe gezollte Rücksicht dieselben beeinflußten.

»Ihr seid evangelisch getauft und erzogen,« fragte ich unter den auf mich einstürmenden wirren Gedanken träumerisch.

»Evangelisch,« bestätigte Hannchen, »wir sowohl, wie Die auf dem Schloß –«

»Auch der Candidat?« fuhr ich bestürzt auf, denn daß er, den ich für katholisch halten mußte, hier eine andere Maske tragen könne, überstieg mein Begriffsvermögen.

»Er selbst unterrichtete uns nach dem lutherischen Katechismus,« antwortete Hannchen beklommen; »nachdem wir eingesegnet waren, setzte er diesen Unterricht noch fort, nur daß seine Erklärungen dann etwas anders lauteten. Er meinte, wir seien keine Kinder mehr und dürften daher nicht länger kindlichen Ansichten huldigen. Gerade das aber mißfiel mir, und ich sträubte mich gegen die Anerkennung eines Schutzheiligen, trotzdem er mir einen solchen mit glühendem Eifer in den lieblichsten Farben schilderte, wie er zwischen mir und meinem Gott vermitteln sollte. Dies war die erste Ursache der heute noch zwischen uns bestehenden Entfremdung. Manches noch könnte ich Dir erzählen – aber Du zitterst, Indigo –«

»Und soll ich nicht zittern? Soll ich Dich, Du armes, liebes Haideröschen nicht bange an mein Herz drücken?« fragte ich, die zu mir erhobenen Lippen mit einem Gefühl unsäglichen Weh's innig küssend, »soll ich nicht besorgt sein, wenn ich sehe, wie man gräßlich wirkendes Gift in Euer Familienglück säet, das gegenseitige Vertrauen erschüttert und langsam abtödtet, um Argwohn und Zwietracht an dessen Stelle zu pflanzen? Soll ich nicht verzweiflungsvoll zum Himmel aufschreien, wenn ich entdecke, wie man Netze um Euch spinnt, welche, rosigen Fesseln gleichend, dennoch darauf berechnet sind, Euch Alle zu lähmen, Euch des köstlichsten aller Güter, der freien Entwickelung der besten und edelsten Herzensregungen zu berauben, Euch elendiglich verkrüppeln und dahinwelken zu lassen?«

Wiederum tönte der schrille Pfiff herüber.

»Ich komme, ich komme!« rief Hannchen zurück, indem sie sich bebend an mich anschmiegte, denn meine letzten Worte hatten sie mit neuer Bangigkeit erfüllt, »man ist daran gewöhnt,« fügte sie beruhigend leise hinzu, »daß ich die abendliche Einsamkeit suche – so änderte sich Alles – nur unsere Beziehungen zu Dir sind dieselben geblieben,« denn als ich Dich erkannte, da jauchzte es tief in meinem Herzen, indem ich meinte, daß nunmehr unsere Noth ein Ende habe und Du eine Wandlung zum Guten bewirken würdest. Denn Du bist der Einzige, welchem ich einen Einblick in die traurigen Verhältnisse gestatten möchte. Nicht einmal dem Geistlichen im Kirchdorf, der mir das Abendmahl reichte, wage ich die Wahrheit einzugestehen, wenn er sich nach Mutter und Schwester liebreich erkundigt.

»Ach, Indigo,« und fester drückte sie mich an sich, »nun bist Du da, aber ein Flüchtling, für welchen ich zittere, anstatt daß Du frei und offen die verderblichen Gewebe zerreißen dürftest, jene geheimnißvollen Schlingen, deren Du eben erwähntest.«

»Ein Flüchtling,« wiederholte ich ernst, »aber ein Flüchtling, dessen Geist in den letzten Wochen – in dieser Stunde so klar geworden, daß ich erhaben über alle jene Zweifel, welche mich bisher marterten. Und so rathe ich auch Dir, Hannchen, bleibe auf dem Wege, welchen Du eingeschlagen hast. Traue weder dem Fräulein noch dem Candidaten. Deinen Angehörigen zu Liebe verheimliche vor Fremden, was Dein Herz beschwert, und überlasse das Uebrige Deinem braven Vater und mir. Doch nun gehe, Du süßes Haideröschen, gehe, bevor man Dich sucht, und theile Deinem Vater mit, daß ich ihn erwarte. Er liebt mich, ich weiß es, und gern wird er mir Gelegenheit verschaffen, Dich wiederzusehen, bevor ich aus dieser Gegend scheide – – die arme, arme Hedwig.«

»Die arme Schwester,« sprach Hannchen leise, und gesenkten Hauptes und sichtbar nach Fassung ringend, schritt sie auf das Schweizerhäuschen zu.

Der Hund, nachdem er ein Weilchen, gleichsam mich einladend, zu mir emporgeschaut, folgte ihr auf dem Fuße nach. Meine Blicke ruhten auf ihr, so lange ich die hellgekleidete theure Gestalt zu unterscheiden vermochte, so lange bis der in der nächsten Umgebung der Försterei herrschende Schatten sie in sich aufnahm. Ich hörte die Hofpforte zufallen. Es klang genau so, wie vor Jahren, und doch meinte ich, eine teuflische Schadenfreude in dem knarrenden Schlage des todten Holzes zu erkennen. Mit den Empfindungen eines Ausgestoßenen trat ich in die Laube zurück; mich auf die Bank werfend wiederholte ich in Gedanken jedes einzelne der mit dem Haideröschen gewechselten Worte.


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