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ELFTES CAPITEL. TAGE, WOCHEN UND MONATE.

»Und so grüße mir denn viel tausendmal mein armes Kind, meine Hedwig,« trug Wallmuth mir auf, als wir im Begriff standen, im Städtchen, wohin er selber mich gefahren hatte, von einander zu scheiden, »ja, grüße es viel tausendmal – ich nenne Dich noch immer Du, weil Du's nicht anders willst, – und küsse sie in meinem Namen, und sage ihr, daß ihr Vater Tag und Nacht im Geiste bei ihr weile und sich unablässig danach sehne, daß sie wieder munter um ihn herumspringe, wie vor Zeiten. Dann grüße mir mein eigenes Hannchen; bei ihr bedarf es nur dieses einzigen Wortes, und sie weiß, was es bedeutet. Aber auch der Winkelliese mache mein Compliment – die gute Seele, 's wird 'ne rechte Ueberraschung für sie sein, nicht minder für den Hänge-Gensdarm, der, seitdem Du das Weite suchtest, nicht mehr gelacht haben soll.«

»Und grüßen Sie viel tausendmal den Vater und die Schloßbewohner, vor Allem die beiden Mädchen, und sagen Sie ihnen, daß, wenn ich an sie dächte, ihre Bilder in einander zerstoßen, als wären Beide mein einziges liebes Schwesterlein. Auch sie werden verstehen, wie ich's meine, und sich dadurch um so inniger zu einander hingezogen fühlen. Allen aber sagen Sie noch besonders, man möchte nicht auf mich warten, nicht ängstlich nach mir ausschauen, denn ich wäre da, wohin ich gehörte, wo es mein ganzes Herz, mein ganzes Leben fesselte.«

Wallmuth schien zu erschrecken. Dann legte er beide Hände auf meine Schultern, und erstaunt, wie bei der plötzlichen wunderbaren Lösung eines Räthsels, blickte er mir in die Augen.

»Indigo,« hob er an – er konnte diesen Namen nicht vergessen – »Indigo, wenn Du's nicht selber sagtest, glaubte ich's nimmermehr, sagtest Du's aber nicht, würde ich es in Deinem Angesicht lesen – nun, Gott segne Dich dafür, wenn's mir auch seltsam genug erschein oder wohl gar unmöglich – ja, segne Dich Gott, denn ich denke, Du bist der Einzige, welcher mir das Kind zu erhalten vermöchte.«

Schnell kehrte er sich ab und hastigen Schrittes eilte er von dannen. Ich dagegen bestieg den Hauderer, und mich in eine Ecke drückend, schloß ich die Augen. –

Wie lang, wie endlos erschien mir der Weg, und schließlich dennoch wie kurz, als ich endlich das alte Dorf, welches so lange meine Heimat gewesen, wieder vor mir sah. Nichts an demselben hatte sich verändert. Wie in früheren Tagen, lag es auch heute träumerisch unter einer tiefen Schneedecke. Dort der Kirchthurm, die langen Scheunen und Ställe, hier wieder eine Reihe von Wohngebäuden, und endlich vor Allem, Allem, das Häuschen mit daranstoßendem Stall und verschneitem Garten, das Eigenthum der regsamen Plätterin, der treuen Winkelliese, meiner geliebten alten Wohlthäterin. –

Geräuschlos in dem lockeren Schnee war der Wagen vorgefahren. Der dem Schornstein massig entquellende Rauch schien mich zu begrüßen, der standhafte Blech-Ulan, vor Entzücken über meine Heimkehr, mit Hilfe eines gefälligen Windstoßes doppelt so tapfer einen Angriff nach verschiedenen Richtungen ausführen zu wollen. Von der Straße bis zur Hausthür war ein Pfad geschaufelt und gefegt worden. Kein Anderer, als der Hänge-Gensdarm hatte das gethan, und die Winkelliese hatte ihm redlich dabei geholfen. Durch solche Zeichen gleichsam ermuthigt, stieg ich aus dem Wagen. Kaum aber war das Gartenpförtchen mit lautem Schlage hinter mir zugefallen, als ein heller Aufschrei zu mir herausdrang. Gleich darauf wurde die Hausthür aufgerissen, und trotz Winter und Schnee auf den Strümpfen, – die Pantoffel hätten ja ihre Eile gehemmt – stürzte mir die Winkelliese entgegen. Ihr Antlitz glühte, ihre ehrlichen Augen strahlten. Es konnten keine bösen Nachrichten mich erwarten, und mit ganzer Seele gab ich mich der Freude des Wiedersehens hin. Und was hätte ich machen sollen? Wenn die gute Seele erst meinen Kopf zwischen ihren nervigen, arbeitgewohnten Armen hielt, dann war es mit meiner Selbstständigkeit vorbei. Ich mußte mich in mein Schicksal ergeben, wollte ich nicht ersticken oder auf irgend eine andere Art gräßlich hingerichtet werden. Und ich ergab mich gern in die herzlich gemeinten Liebkosungen, und gern lauschte ich den unzähligen Neuigkeiten, welche sie mir am liebsten alle auf ein Mal mitgetheilt hätte.

»Ich hab's allemal gesagt,« seufzte und jubelte sie abwechselnd und immer mit beiden Strümpfen im Schnee, »allemal Jahnchen, und Niemand wollt's glauben. Ich sagte immer: Der Jahn kommt unverhofft, und nun bist Du da und fragen will ich, wer recht hatte. Auch gesund siehst Du aus, Du armes Kind, und wohlgenährt – nicht verhungert, wie bei dem Doctor, 'n schöner Doctor mit einem Bücherkram und ohne Namensunterschrift – und das ist die Hauptsache. Und hier ist Alles beim Alten, nichts hat sich geändert« – und nun zählte sie erst recht alle Veränderungen auf – »denn wir Alle sind wohl und munter, und Hannchen ist hier mit der Hedwig –, das Kind war recht krank, allein ich hab's wieder herausgemustert, Jahnchen, Du weißt, ich habe eine gute Hand zum Pflegen, und der Hänge – Prahldaniehr – ist nach wie vor auf der Landstraße der Schrecken aller Handwerksburschen, und zu Hause der reine Waisenknabe. Auf dem Kirchhofe liegt Schnee, Jahnchen, allein das Kreuz hat 'nen andern Anstrich erhalten, und mit dem Schmetterling, das habe ich besorgt: Schwarze Flügel mit gelben Rändern und blauen Punkten, Leichenbitter heißen sie ihn, oder Leichenmantel glaub' ich, und bringst Du keinen andern Namen mit, so schreiben wir Winkler dahinter, und vor Gericht adoptir' ich Dich als meinen Sohn – Jahn Winkler klingt nicht schlecht, und machen sie Winkeljahnchen d'raus, ist's kein Unglück –«

»Aber der Schnee und die Strümpfe,« fiel ich besorgt ein, »Winkellieschen, Du solltest an Deine Gesundheit –«

»Ja, Gesundheit,« unterbrach mich die gute Seele wieder, und sie blieb neben dem verschneiten Buchsbaumherzen stehen, um mich noch ein Weilchen für sich allein zu behalten, denn in der Thüre erschienen theure, traute Gestalten, mich ihr streitig zu machen, »ja, die Gesundheit ist die Hauptsache, daß wiederhole ich täglich dem Hänge, wenn er über's Reißen in den Füßen klagt – er ist freilich kein Kind mehr. Aber Jahnchen, es ist ja schrecklich, so unverhofft« – rief sie plötzlich vorwurfsvoll aus, nachdem sie mich recht sicher gepackt hatte, »nicht 'ne Guirlande, nicht Strauß oder Kranz, nicht einmal ein Blumentopf ist zu Deinem Empfange da! Und Alles hatte ich mir so schön ausgedacht. Den Ulanen wollte ich verzinnen lassen, daß er leuchtete, wie Silber – doch am Ladenfenster hängt 'ne Gans, Jahnchen, und der Grünkohl ist prächtig ausgefroren, daß er sich kocht, wie junger Spinat –«

Sie mußte abbrechen, es ging nicht anders, denn eine kräftige Gensdarmenfaust umspannte mein Handgelenk, ein Gensdarmenarm zog mich sammt der Winkelliese auf den Hausflur, und wenn je in einer Gensdarmenstimme, rauh wie sie klingen mochte, ein Ausdruck kindlicher Milde sich ausprägte, dann geschah dies, als der biedere Hänge sein Antlitz dem meinigen näherte, mir fest in die Augen schaute und dabei sprach:

»Balde, Prrohl-Dannehr! ich habe mir immer gewünscht, daß Du noch einmal am hellen Tage frei und offen in dies Haus einziehen möchtest und keinen Menschen zu scheuen brauchtest.«

Wie im Traume begrüßte ich die Försterfrau, wie im Traume verkündete ich ihr, daß ich geraden Weges von dem Gespensterschloß komme, in Begleitung der herzlichsten Wünsche der Ihrigen. Dann trat ich in das Zimmer ein. Hedwig, der untersagt worden war, bei der scharfen Winterluft sich vor die Thür zu begeben, stand mitten in demselben.

Ich meinte einen Engel vor mir zu sehen, so weiß und zart schimmerte ihr schönes Antlitz, so lieblich glühten ihre Wangen. Einen Engel des ewigen Friedens, so treu, so sanft, so schüchtern und doch so innig beglückt strahlten ihre lieben blauen Augen. Da war keine Spur mehr zu entdecken, von jenen gottesschänderisch mißleiteten religiösen Empfindungen, mit welchen sie ein todtes Gebilde zum ohnmächtigen Vermittler zwischen sich und ihrem Schöpfer erkor, nichts von jenem verbrecherisch geschürten Zagen, mit welchem sie für sich und Andere über die Grenzen des irdischen Daseins hinausdachte. Ihre Furcht, wie ihre Hoffnungen, die einem künstlich für sie geschaffenem Ideal dargebrachten Huldigungen, ihr ganzer Glaube, Alles, Alles hatte sich vereinigt zu dem einzigen Gefühl einer unergründlichen Liebe, welche mir aus ihren verklärten Blicken entgegenleuchtete, indem sie, kaum fähig, sich aufrecht zu erhalten, zum innigen Willkommen an meine Brust sank. Die Anregungen, welche sie durch das fluchwürdige Beginnen des verbrecherischen Jesuiten empfing, die Ideale, an welche ihre Seele vergeblich sich anzuklammern suchte, in der steten Gemeinschaft mit der Winkelliese hatten sie sich gleichsam verkörpert. In traumhafter Ferne versank das Bild des starren Schutzheiligen; ihr heimliches Sehnen wandte sich demjenigen zu, an welchen sie von der treuen Pflegerin beständig erinnert wurde, und welchen diese mit mütterlichem Stolze als den Liebling aller Götter und Menschen schilderte. Seit unseren Kinderjahren hatte sie mich nicht wiedergesehen, und doch ruhte sie an meinem Herzen, als ob sie seit jenen goldenen Tagen dahin gehört hätte, als ob unter ihren heiligen reinen Küssen das Bild des Apostels mit den befreundeten Zügen, wie durch Zauberspruch, belebt worden wäre, um sie heiß, und treu zu lieben und zu verehren, sein einziges Glück nur in ihr allein zu suchen. –

»Um Dich nie wieder von mir zu trennen?« fragte Hedwig zutraulich und so offen, als wären statt der sechs Paar erstaunten Augen nur die Blicke der papierenen Kosaken, Franzosen und sonstigen Gesindels auf den Bilderbogen an den Wänden auf uns gerichtet gewesen. »Um Dein ganzes Leben lang bei mir – bei mir zu bleiben?« fragte sie abermals, und tiefer glühten ihre Wangen, und feuchter glänzten die lieben Augen und kürzer – ach so kurz entwand sich der Athem ihren leicht geöffneten Lippen.

Ich führte sie nach dem Tische hin, vor welchem ich sie behutsam auf einen Stuhl niedergleiten ließ.

»Mein ganzes Leben lang,« betheuerte ich entzückt, während ein unsägliches Weh meine Brust durchzog. Denn was den sie umringenden Theuren im täglichen Verkehr entging, mir, der ich nach langer Trennung sie wiedersah, mir konnte nicht verborgen bleiben, daß es an ihrem innersten Lebensmark zehrte, daß es mehr als sorgfältiger körperlicher Pflege bedurfte, um sie von Neuem frisch und kräftig emporblühen zu sehen.

»Ich nannte, sie einst Lilie,« meinte die gute Winkelliese, mit natürlichem weiblichem Zartgefühl die Scene, deren Zeuge sie eben gewesen, als etwas Selbstverständliches und daher für den Augenblick nicht zu Erörterndes betrachtend, »und sie war eine Lilie, Jahnchen; aber jetzt betrachte sie, ob jemals ein Haideröschen sich munterer erschloß. Aber unter meinen Händen gedeiht Alles, muß Alles gedeihen, und ich behaupte, Jahnchen, wir müssen bald wieder ein rothes und ein blaues Bändchen hervorsuchen, um die Kinder von einander zu unterscheiden, und dann, Jahnchen« – und die gute Seele konnte nicht weiter sprechen vor Lachen, und der Hänge-Gensdarm und Frau Hannchen stimmten mit ein, wenn auch nicht so herzlich – »und dann, Jahnchen – ich mag's nicht sagen – 's könnten aber recht böse Verwechselungen – so späterhin, meine ich – denn sprich, Jahnchen,« und sie wies auf Hedwig, deren Antlitz sich plötzlich mit einer sie zauberisch schmückenden flammenden Gluth überzogen hatte, »blühte ihre Schwester jemals frischer? Ist's nicht ein wahres Haideröschen, welches da vor Dir sitzt?«

Und wie ein Haideröschen erglühte Hedwig noch immer, wie ein Haideröschen, erschlossen im lieblichsten Waldesgrün; aber es war wie jenes aus ungemessenen Fernen herüberstrahlende milde Roth, von welchem der nach langem, langem Schlummer Erwachende nicht weiß, ob es den anbrechenden Morgen verkündet, oder der scheidende Tag ihm ein letztes süßes Lebewohl zuruft.

Und dunkler noch erglühte sie, als sie sich plötzlich mit einer lebhaften Bewegung erhob, meine Hand ergriff und mich in die Thür der Schlafkammer führte.

»Wenn Alle glücklich sind,« sprach sie mit einer Innigkeit, daß ich jedes einzelne Wort von ihren Lippen hätte küssen mögen, »wenn Alle sich Deiner Heimkehr freuen, soll dann Deine beste Freundin vergessen werden?«

»Sophie! Wo ist Sophie?« ertönte es hinter mir herzlich und dringend, wie um zu sühnen, daß man in der ersten stürmischen Freude der Hausgenossin nicht gedachte.

»Sophie!« rief auch ich erstaunt aus, als ich in der That die treue Freundin vor mir stehen sah.

Wie ich selber bei meinem ersten Besuch auf der Försterei, als man den fremden Waisenknaben in der Verwirrung des ersten Wiedersehens außer Acht ließ, traurig davonschlich, ähnlich hatte auch sie keine Störung verursachen wollen. Ach, ich kannte ja solche Gefühle, und mit der theuren Beschützerin meiner Knabenjahre ihre Verlassenheit bitter empfindend, suchte ich durch ungeheuchelte Herzlichkeit mildernd auf ihre mir vollständig klare Gemüthsstimmung einzuwirken. In meinem Gruß lag freudiges Erstaunen über das Wiedersehen, erleichtertes Aufathmen nach den mir von Splint zugetragenen schwarzen Gerüchten, lag tiefe, von unverwelklicher Dankbarkeit getragene brüderliche Zuneigung.

Sophie erbleichte. Sobald sie aber erkannte, daß meine aufrichtige Anhänglichkeit für sie keine Aenderung erlitten hatte, schoß eine flammende Gluth in ihr redliches Antlitz, während mit Gewalt zurückgehaltene Thränen sich ihren Weg zu den ernsten Augen bahnten. Wie hätten diese Zeichen mich erfreut, wäre mein Blick nicht durch die beständige, von nie schlummerndem Mißtrauen genährte Wachsamkeit so verschärft worden! Ja, ich sah mehr, als alles Andere; ich entdeckte, daß sie wahr sprach, als sie einst prophetisch behauptete: »Indigo, wenn ich Dich wiedersehe, werde ich mich vor Dir schämen.« Und was hatte sie begangen, um ein solches Gefühl zu erzeugen? Sie hatte mich geliebt, vielleicht mehr geliebt, als ihre nächsten Angehörigen; sie hatte mich geküßt und geherzt, gewissermaßen allein in ihrem, sich getröstet an sie anschmiegenden Schützlinge gelebt, und das war ihr einziges Vergehen. Doch auf dem armen mißhandelten Wesen ruhte der Fluch unverschuldeter, so oft schmachvoll ihr zum Vorwurf gemachter körperlicher Verbildung; durch freudiges, lebhaftes Entgegenkommen glaubte sie selbst da das Auge zu verletzen, wo alle Herzen und Arme sich ihr öffneten.

Ich sah vielleicht zu scharf, um manche Freuden ungetrübt zu genießen! Sogar als Hedwig, wie meine Gedanken errathend, ihren Arm um Sophiens Schultern schlang und sie unter Schmeichelworten in das große Zimmer führte, wich der Ausdruck ihrer Empfindungen nicht aus dem ernst sinnenden Antlitz. Nur der Winkelliese gelang es, vorübergehend die Wolken zu verscheuchen, welche der armen Freundin Seele umdüsterten.

»Du erstaunst, mich hier bei Deiner Wohlthäterin zu finden?« bemerkte Sophie nach einer flüchtigen Verwirrung freier, »allein wohin sollte ich mich wenden, nachdem – doch Du weißt – daheim –«

»Eine betrübende Kunde erreichte mich,« fiel ich ein, um ihr ein peinliches Geständniß zu ersparen.

»In meinem elterlichen Hause warst Du?« fragte sie gespannt.

»Nicht dort,« antwortete ich, »auf der anderen Seite des Oceans traf ich mit Jemand zusammen –«

»Der Elende,« versetzte Sophie hastig und in ihren Augen funkelte es feindselig, wie einst, wenn sie zu meiner Vertheidigung auftrat. Dann sah sie ernst vor sich nieder, wie überlegend, ob sie weiter sprechen dürfe. – »Der Elende,« brach sie indessen nach kurzem Sinnen wieder das plötzlich eingetretene theilnahmvolle Schweigen, »schmachvoll mißbrauchte er das Vertrauen meines Vaters. Bis auf's Letzte betrog er ihn um seine Habe, so daß er es als ein Glück betrachtete, die Stelle des verstorbenen Pedell in dem Convict übernehmen zu können. Das Haus wurde verkauft; mit genauer Noth gelang es, die Bibliothek zu retten, und in dieser und den daran stoßenden engen Räumlichkeiten walten jetzt meine Mutter und Schwestern. Als ich Kunde von dem Unglück erhielt, wollte ich mich ihnen wieder zugesellen, allein hinweisend auf die eigene, mehr als bescheidene Lage, baten sie mich, wenn irgend möglich, fern zu bleiben. Und es ist besser so,« fügte sie mit einem unsäglich bitteren Lächeln hinzu, »in der Fremde vermag ich zur Erleichterung ihres traurigen Looses beizutragen, was mir bei ihnen zu Hause gewiß sehr schwer geworden wäre.«

»Und Fröhlich, unser gemeinschaftlicher treuer Freund?« fragte ich nicht ohne Besorgniß, als das Bild des alten ramponirten Gelehrten vor meine Seele trat.

»Bis zum Frühling wird er noch sein Stübchen behalten,« versetzte Sophie theilnahmvoll, »was dann aber aus ihm werden wird, mag Gott wissen. Ich bezweifle wenigstens, daß er selbst jemals über jenen Zeitpunkt hinaus dachte. Er wird so lange fortstudiren, bis eines Tages die Leute ihn mit der Nachricht aus seiner Sorglosigkeit rütteln, daß er seine Wohnung augenblicklich zu räumen habe. Der arme, arme Fröhlich!«

»Hier ist Platz für ihn, wenigstens auf so lange, bis ich einen ordentlichen Menschen aus ihm gemacht habe,« warf die Winkelliese enthusiastisch ein, »denn wer meinem armen Kinde, dem Jahn, auch nur einmal freundlich in die Augen schaute, der hat Ansprüche auf meine Dankbarkeit. Mag er also kommen, ein Plätzchen für ihn findet sich noch, ebenso für seinen gelehrten Kram, und müßte der Herr Hänge, um damit zu räumen, seine Bücher eins nach dem andern zu Häckerling für den schwarzen Rappen zerschneiden!«

Die gute Winkelliese mit ihrem goldenen Herzen! Wie sie, die praktische resolute Frau, stets mit Leichtigkeit einen Ausweg aus allen Wirren entdeckte! So diente schon allein der Ton ihrer Stimme dazu, dem ernstesten Gespräch einen heiteren Charakter zu verleihen. Wenn es aber draußen fror, daß der Schnee unter den Rädern der vorüberrollenden Wagen sang und knirschte und alle Fenster und Thüren dicht verschlossen gehalten werden mußten, so hinderte das die gute Winkelliese nicht im Entferntesten, in dem sie umgebenden trauten Kreise unermüdlich für Alle zugleich und mit gleicher Aufmerksamkeit zu sorgen. Unter dem Einfluß ihrer unverfälschten Treuherzigkeit erwärmten sich schnell alle Gemüther; selbst die peinlichsten Rückerinnerungen, nachdem sie dieselben erst mit derber Zuversicht berührt hatte, verloren ihren Stachel. Es öffneten sich die Herzen, es klärten sich die Blicke, es wichen die trüben Schatten, welche hier und da freudigen Hoffnungen sich beigesellten. Mußte doch sogar der biedere Hänge dulden, daß seine gestrenge Hauswirthin ihn einen schwachen Mann des Gesetzes nannte, weil der höchst fühlbare Abschiedsgruß eines gefährlichen Flüchtlings ihn nicht aus seinen Träumen zu stören vermocht habe.

Glückliche Stunden waren es, jener erste Abend, welchen ich wieder unter dem heimatlichen Dache verlebte, glückliche Stunden, als ich erzählte von meinen Erlebnissen in der Fremde und endlich von dem Empfange, welcher mir in Gemeinschaft mit Vater und Schwester in dem Gespensterschloß zu Theil geworden. Glückliche Stunden, in welchen alle Blicke an meinen Lippen hingen und die gute Winkelliese bald heiße Thränen vergoß, weil ich ihr nicht mehr angehören dürfe, bald den still vor sich hin lächelnden Hänge-Gensdarm resolut fragte, ob es nicht ein guter Gedanke von ihr gewesen, den verwaisten Knaben bei sich aufzunehmen und ihm später wieder zur Flucht zu verhelfen, trotz aller Gensdarmen der Welt.

Die gute Seele, es fehlte nicht viel, daß sie sich damit brüstete, selbst jenen nächtlichen Ritt unternommen und mich aus den Armen meiner todten Mutter gehoben zu haben. Ich aber saß neben Hedwig, ihre Hand in der meinigen haltend, und wenn Frau Hannchen, oder die rührige Großmutter meinten, daß ich doch wohl ein zu vornehmer Herr werden würde, dann brauchte ich nur einen Blick auf das theure, theure Antlitz an meiner Seite zu werfen, um in dem süßen Lächeln den Ausdruck des hingebendsten, über alle Zweifel erhabenen Vertrauens zu finden. Ich meinte zu träumen, wenn ich mir vergegenwärtigte, daß nach einer im Kindesalter geschlossenen Bekanntschaft der geistige Verkehr genügt hatte, einen Zwischenraum von Jahren auszufüllen und uns einander in treuer Liebe zuzugesellen. Was unsere Herzen ersehnten, was wir hofften und heimlich vom Himmel erflehten, es war nie zwischen uns zur Sprache gekommen; wir hatten uns gefunden, uns gegenseitig in die Augen geschaut und wir wußten, daß wir zusammen gehörten, nur der Tod uns von einander trennen könne.

Ein glücklicher Abend war es; an ihn aber schlossen sich Tage und Wochen an, so glücklich, als ob alle Mächte des Himmels sich verewigt gehabt hätten, uns schon auf Erden ein Paradies zu bereiten. Lieblicher und holdseliger erblühte diejenige, der ich bisher nur als einer bleichen Lilie gedachte, und dennoch hätte ich es nicht über mich gewonnen, sie freien Herzens ›Haideröschen‹ zu nennen. Denn ob ihre Wangen sich rötheten, ihre sanften Augen strahlten und ihre anmuthigen Bewegungen zunehmende Kräfte verriethen, die Farbe ihrer Stirne und Schläfen wurde von Tag zu Tag klarer; durchsichtiger und schlanker wurden ihre kleinen Hände, während ich in der tiefsten Tiefe ihrer Blicke zwischen aller Liebe hindurch einen verstohlen glimmenden Funken stiller Schwermuth zu entdecken meinte. Sogar Spuren von Thränen, heimlich, ganz heimlich geweint, entdeckte ich mehrfach; allein was wäre geeigneter gewesen, meine immer wieder auf's Neue erwachenden Besorgnisse zu verscheuchen, als wenn sie krampfhaft ihre Arme um meinen Hals schlang, ihr erglühendes Antlitz auf meiner Schulter barg, mir zuflüsternd, daß sie ihr Glück nicht fasse, noch immer bei dem Gedanken: ich hätte ihr entrissen werden können, zittere. Wohl flossen ihre Thränen dann freier und reichlicher; zwischen diesen hindurch, aber lächelte sie wie ein thauiger, verheißender Frühlingsmorgen, daß ihr Anblick mich berauschte und ich meinte, sie nie schöner, holdseliger gesehen zu haben!

Ach, es waren zu glückliche Zeiten! Noch immer begrenzen sie, ähnlich einer zauberisch wechselnden Fata Morgana auf dem weiten Ocean, den Horizont meiner Vergangenheit. Ueber Alles, Alles hinweg eilen noch immer gern die rückwärts schweifenden Blicke; bei ihnen rasten sie wehmuthsvoll; was dagegen hinter ihnen liegt, es versinkt nebelartig, wie zerrissenes Gewölk vor den zertheilenden milden Strahlen eines freundlichen Mondes.

Es waren zu glückliche Zeiten, jene Tage goldener Hoffnungen; hin und her ging es auf der Strecke zwischen der Försterei, dem Gespensterschloß und der Winkelliese trauter Heimstätte. Hin und her! Bald war es Dieser, bald Jener, welcher den Verkehr aufrecht erhielt und wieder erneuerte, bald Dieser, bald Jener, welcher die Kunde des Wohlbefindens von Haus zu Haus trug. Alle, bis auf den greisen Schloßherrn, zogen sie hin und her; selbst Thekla, welche in der heiteren Will o' the Wisp einen treuen Schutzgeist gegen ihre eigenen düsteren Grübeleien gefunden hatte und sie kaum von ihrer Seite ließ, kam, um sich von dem Erblühen meiner zarten Lilie zu überzeugen. Nur die zarte Lilie selber wanderte nicht von Ort zu Ort. Für sie war der Winter nicht geschaffen; ein Frühling und ein Sommer mußten ihre Wirkung auf sie ausgeübt haben, bevor sie wagen durfte, rauhen Lüften und Stürmen wieder Trotz zu bieten.

Ich selbst war überall zu Hause: Bei meinem Vater, der sich bei dem Förster Wallmuth eingerichtet hatte, auf dem Gespensterschloß, dessen düstere Räume von dem hellen Singen und Lachen meiner irrlichtartigen Schwester widerhallten, und endlich bei der Winkelliese, wo der getreue Hänge sein Zimmer gewissenhaft mit mir theilte. Ueberall fühlte ich mich zu Hause, und dennoch wollte nirgend eine peinigende Unruhe von mir weichen. Ich betrachtete diese Rastlosigkeit als eine natürliche Wirkung der uns Allen im Frühlinge bevorstehenden großen Veränderungen. Denn mit dem Beginn des Sommers sollte der greise Schloßherr auf seine herrschaftliche Besitzung zurückkehren, um daselbst seinen Lebensabend zu beschließen, und mit ihm sollten ziehen diejenigen, die zu ihm gehörten, die er selbst mit aufflackernder Lebenslust, im stillen Familienkreise, wie in bindender Gesetzesform als zu ihm gehörig bezeichnete. Er kannte keine anderen Rücksichten mehr, als solche, welche in seinem Herzen ihren Ursprung fanden. Eine gewisse Aengstlichkeit lag sogar in seinem Wesen, als hätte er befürchtet, durch ein unbedachtsames, mißverstandenes Wort die freundlichen, ihn gleichsam kräftigenden Bilder zu verscheuchen, welche seine tägliche, gern gesehene Umgebung bildeten. Mit einem gewissen Stolze schickte er mich hierhin und dorthin; mit herzlichem Wohlwollen nahm er meine geschäftlichen Mittheilungen entgegen und tadelte er, daß es mir so sehr schwer wurde, mich in die neuen Verhältnisse zu finden, selbstständig zu handeln, wo er festes Auftreten erwartete, mit freier Hand einzugreifen, wo ich nur schüchtern zu bitten wagte. Nur einmal machte ich von den mir zugestandenen Rechten in größerem Maßstabe Gebrauch; es war, als der Tag herannahte, an welchem der alte Fröhlich im vollen Sinne des Wortes sammt seinen Scripturen vor die Thür gesetzt werden sollte. Eine uralte Bibliothek in dem Schloß hatte einen Plan in mir zur Reife gebracht, welcher nach keiner Richtung hin auf Einwendungen stieß. Im Gegentheil, man wünschte mir Glück zu meiner Umsicht, und schon am folgenden Tage begab ich mich auf die Reise.

Zufrieden und heiter fand ich den alten ramponirten Gelehrten. Die ihm angekündigte Exmission hatte er längst vergessen.

Den Vorschlag, mich zu begleiten, unterstützt durch die Schilderung verschimmelter, in Schweinsleder gebundener Folianten, begrüßte er mit hellem Enthusiasmus. Trotzdem kostete es mich große Mühe, ihn in seinem Lager los zu machen. Jedes einzelne Buch mußte ich eigenhändig in die bereit gehaltenen Kisten einpacken, um zu verhüten, daß er es öffnete, eine besonders wichtige Stelle entdeckte, sich auf Stunden in dieselbe vertiefte oder gar Alles, was ich mühsam geordnet hatte, wieder durcheinander warf, um in drei oder vier anderen Büchern nachzuschlagen. Nicht geringere Noth verursachte es, sein Aeußeres etwas herauszumustern, und geradezu unbegreiflich erschienen ihm unsere Besuche bei den Kleiderhändlern und im Wäscheladen.

Da mehrere Tage durch diese Vorbereitungen in Anspruch genommen wurden, konnte ich nicht vermeiden, mit der christlich-frommen Familie meines früheren Peinigers zusammen zu treffen. Alle weinten Thränen der Freude und der Rührung; Keiner aber größere und heißere, als der zur Würde eines Pedell herabgesunkene Doctor Sachs, indem er enthusiastisch behauptete, schon am ersten Tage der Ehre meiner Bekanntschaft einen Charakter in mir entdeckt zu haben. Meiner ganzen Erinnerung und Anhänglichkeit an die mißhandelte und verstoßene Sophie – deren übrigens Niemand erwähnte – bedurfte es, daß ich nicht eher davonging, als bis Alle der Reihe nach mir ihre herzliche Zuneigung betheuert und zugleich die Hoffnung ausgesprochen hatten, fernerhin die Ehre meiner Freundschaft und Theilnahme zu genießen. Sachs dankte mir noch besonders für den sehr bemerkenswerthen Beweis meiner Hochachtung, welchen ich ihm durch den Besuch seines früheren bescheidenen Hauses dargebracht habe. Aeußerlich schien der verlassenen Braut ihre Wittwenschaft nicht schlecht zu bekommen, wenigstens nicht schlechter, als ihrem Vater der Verlust seiner Habe. –

Endlich, endlich waren wir flügge; allein viermal verlor ich unterwegs den alten sorglosen Freund, bevor ich ihn als gesichert betrachten konnte. Zweimal fand ich ihn an Orten, wo unsere Reise eine kurze Unterbrechung erlitt, in Antiquariatsbuchhandlungen wieder; einmal war er eben im Begriff, der Einladung eines gaunerhaft dareinschauenden Individuums zu einem gelehrten Frühstück zu folgen, als ich seiner ansichtig wurde, und das vierte Mal rettete ich ihn aus der Verlegenheit, als er einen Constabler sehr ernsthaft nach dem Jesuitenweg und der Leihbibliothek des Herrn Doctor Sachs fragte.

Seine Aufnahme im Schloß war so, wie ich es gewünscht hatte. Jeder kam dem stillen schüchternen Gelehrten freundlich entgegen, und noch keine zwei Stunden waren seit unserem Eintreffen verstrichen, da saß er in der Bibliothek oben auf einer Stehleiter, unter jedem Arme einen hundertjährigen Duodezband und vor sich auf den Knieen einen Folianten, während der Schloßherr selber vor einem Tischchen saß und mit lauter Stimme für taube Ohren aus einem vergilbten Katalog die ältesten und vorzüglichsten Werke über Wappenkunde aufzählte.

Diese mit heiteren Schlaglichtern geschmückte Ueberführung des gleichsam neu gebundenen lebendigen Lexicons in ein dauerndes Asyl bildete den Abschluß jener, an freudigen Hoffnungen so reichen Tage. Ein anderer Zeitabschnitt liegt vor mir. Meine Hand zittert, mein Herz bebt. Die Augen versagen mir den Dienst, indem sie die Bewegungen der über das Papier hineilenden Feder verfolgen, und doch möchte ich um keinen Preis von den meiner Seele vorschwebenden Bildern forttreten, ohne sie auch Andern zugänglich gemacht zu haben.


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