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NEUNTES CAPITEL. IM SCHWEIZERHÄUSCHEN.

Scharfer Frost hatte die Erde erstarrt und trübe und eintönig wölbte sich der Himmel über die in Winterschlaf versenkte Natur. Nach langer Fahrt auf sturmdurchwühlten schäumenden Wogen gelangten wir jetzt in einer von zwei bescheidenen Pferden gezogenen noch bescheideneren Miethskutsche von der Stelle. Statt des drohenden Heulens zwischen straff gespanntem Takelwerk, drang das eigenthümlich melancholische Singen des Nordwindes zwischen den Nadeln stolz emporragender, immergrüner Baumwipfel zu uns nieder. Wir befanden uns in dem Walde, dessen Mittelpunkt der See, das Gespensterschloß und das theuere, theuere Schweizerhäuschen bildeten. Nach ernster Berathung hatten wir uns dahin entschieden, erst von hier aus zu der guten Winkelliese und dem getreuen Hänge zu reisen. Sie wußten ja, daß ich lebte und gesund sei; über meine jüngsten Erlebnisse, über meine Vereinigung mit Vater und Schwester wie über unsere baldige Heimkehr hatte ich in meinem Briefe dagegen vorsichtig geschwiegen. Unerwartet wollten wir in dem Gespensterschloß erscheinen. Mochte dem Candidaten immerhin die Kunde über das Scheitern aller gegen mich eingeleiteten Pläne zugegangen sein, wenn er nur über den Zeitpunkt im Dunkeln blieb, in welchem ich, Rechenschaft fordernd, vor ihn hintreten würde.

Je näher wir unserem Ziel rückten, um so einsilbiger wurde die Unterhaltung. Auf dem Gemüthe meines Vaters sowohl, als auch auf dem meinigen lastete die Erinnerung an entschwundene Zeiten, lastete der Gedanke an das Ungewisse der nächsten Zukunft. Selbst meine Schwester war diesen Einflüssen unterworfen; denn nicht wie sonst bestürmte sie mich mit Fragen über alles ihr Neue und Fremde, sondern mit einem Ausdruck heimlicher Besorgniß blickte sie bald auf der einen, bald auf der anderen Seite zum Wagen hinaus, wie befürchtend, daß die gedrängt stehenden Tannen, deren sie nie zuvor eine ähnliche Anzahl sah, sich zu einer undurchdringlichen Mauer zusammenschaaren, uns auf ewig von der übrigen Welt abschließen würden.

Wir befanden uns auf demselben Wege, welchen ich auf meiner Flucht aus dem Convict verfolgte. Wie Vieles hatte sich seitdem geändert! Der Anblick eines Fremden flößte mir keine Besorgniß mehr ein; allein ebenso wenig vermochte ich aus meiner Umgebung Muth zu schöpfen. Denn nicht lieblich grün, wie damals, blumenreich und geschmückt mit anmuthig geschweiften Farrnkräutern lagen die kleinen Lichtungen und Wiesenstreifen da, sondern bräunlich und abgestorben; wo aber Buchen und Eichen gruppenweise den düsteren Tannen sich zugesellten, da hauchte der Wind zwischen kahlen Zweigen und Aesten hindurch, unmelodisch raschelnd mit dürren Blättern, welche, gleichsam fröstelnd und in den letzten Todeszuckungen, sich krampfhaft an ihre winzigen Heimstätten festklammerten. Dazu der trübe Himmel und das melancholische Singen hoch oben, wie wirkte es niederdrückend auf mich ein! Ahnungen, unendlich traurige Ahnungen erwachten. Wo die Räder des Wagens geräuschlos im lockeren Sand wühlten, da lauschte ich unwillkürlich in die Ferne, um das Grabgeläute der Unken im See zu unterscheiden. Doch eine Eislage bedeckte den breiten, winterlich eingerahmten Wasserspiegel; und die Unken waren in schwarzer Tiefe schlafen gegangen, um im Frühlinge erst wieder das heitere Aufathmen der Natur, das neue Ersprießen zahlloser junger Leben mit ihrem traurigen Grabgeläute zu begrüßen. Grabgeläute und Frühlingslust! Woher kamen die trüben Ahnungen, welche mich hinderten, der freundlichen Will o' the Wisp unbefangen in's Antlitz zu schauen? Was war es, das sich schwerer und schwerer auf meine Brust senkte, mir das Blut bald schneller, bald langsamer zum Herzen trieb?

Mein Athem stockte, wenn hier ein erschrecktes Eichhörnchen an einem Baume emporschlüpfte und aus sicherem Hinterhalte mißtrauisch zu uns niederspähte, dort ein grasendes Stück Wild den Kopf nach dem Wagen emporhob, ein Holzhäher uns mißtönend ankreischte oder hungrige Krähen hoch über die Tannenwipfel hinschweiften und mit verdrossenen Stimmen über den freudelosen Winter klagten?

Die Räder mahlten im lockeren Sande, die Pferde schnaubten und sehnten den Abend herbei. Vereinzelte Schneeflöckchen fanden mit genauer Noth ihren hindernißreichen Weg zwischen den immergrünen Baumkronen hindurch. Ungern schienen sie sich von den in einander geflossenen Wolken zu trennen. Es war so kalt, und doch scheute der schwer verhangene Himmel sich, der fröstelnden Erde von seinem Ueberfluß mitzutheilen. Es war zu kalt.

Das Bellen eines Hundes drang zu uns herüber. Ich meinte seine Stimme zu erkennen und neigte mich aus dem Wagen. Die Försterei lag vor uns. Da war auch die Laube, die liebe freundliche Laube, allein kein Blättchen schmückte sie. Zwischen den kahlen Zweigen hindurch sah ich die Bank, auf welcher ich Arm in Arm mit dem Haideröschen saß. Wie nahm sich Alles öde, vereinsamt aus! Ueberall das Bild des Todes.

»Der Weg nach dem Schloß biegt rechts ab!« rief eine rauhe Männerstimme unserem Kutscher zu.

Dieser hielt an.

»Mein Ziel ist die Försterei,« wollte er antworten, allein ich hatte den Wagenschlag aufgerissen; ein Ausruf freudigen Erstaunens, und ich erstickte fast in der Umarmung des biederen Försters Wallmuth. Gleich darauf stellte ich ihm meinen Vater und Will o' the Wisp vor.

Mit einfachen, herzlichen Worten hieß er sie willkommen; dann führte er uns über den Hof dem von entlaubten Ranken und Hirschgeweihen gleichsam starrenden Schweizerhäuschen zu.

Er ging zwischen meinem Vater und Will o' the Wisp. Ich selbst hielt mich etwas seitwärts, um heimlich aus seinen Zügen herauszulesen, was offen zu fragen ich mich scheute. Er schien schmächtiger geworden zu sein: auch hatten sich einige weiße Haare in seinen schönen Vollbart gestohlen. In seinem Antlitz aber ruhte, trotz der seinen Gästen entgegengetragenen Freundlichkeit, ein tiefer Ernst, daß es mich wie ein dem Herzen Stillstand gebietender Schauer durchströmte.

Noch einige Schritte waren wir von der Thüre entfernt, als das Haideröschen in derselben erschien. Einen flüchtigen Blick warf es auf die fremden Gestalten. Kaum aber hatte es mich erkannt, als – ich sah es ja deutlich – die frische Farbe der Gesundheit von seinen Wangen wich, Thränen die guten lieben Augen umflorten und es mir, unfähig, einen Laut der Freude von sich zu geben, beide Arme entgegenstreckte. Mit zwei Schritten stand ich vor der theueren Jugendgespielin; aber die Arme, von welchen ich meinte, daß sie mich umschlingen würden, sie hatten sich wieder gesenkt, und indem ihre schüchternen Blicke sich auf Will o' the Wisp und meinen Vater richteten, schmückte die holden Züge ein so liebliches Roth, wie nur je eine sich öffnende Rosenknospe duftspendend den Strahlen der Frühsonne darbot, um aus ihrem Kelch süßen erquickenden Thau zu trinken. Es lag etwas eigenthümlich Abwehrendes in ihrer Haltung, so daß ich nicht wagte, wie einst in der Laube beim plötzlichen Wiedersehen, ihre Lippen zu küssen. Aber ihre beiden Hände nahm ich, und ihr fest in die großen Augen blickend, vermochte ich nur, durch einen innigen Druck sie zu begrüßen. Sie verstand mich; ihr Gegengruß ruhte in einem unbeschreiblich süßen Lächeln; dann trat sie an mir vorbei, mit sittiger Bescheidenheit die Fremden willkommen zu heißen. Ja, sie lächelte beglückt; sie lächelte nicht wie Jemand, der den Verlust eines theueren Familienmitgliedes zu beklagen hat, sondern wie Jemand, dem es leicht wird, alle anderen Empfindungen in dem einzigen Gefühl hoch aufwallender Freude vorübergehend zu ersticken.

Ich athmete auf, aber wiederum schnürte sich mir die Brust zusammen, als auf dem Wege nach dem großen Wohnzimmer weder Hedwig noch des Försters eigenes Hannchen, die sonst so rührige Hausfrau, uns begegneten.

Endlich traten wir ein. Ueberall die gewohnte Ordnung und Sauberkeit; jeder Stuhl an seinem Platz, jede Handarbeit auf ihrer alten Stelle, aber Frau Hannchen und Hedwig, wo waren sie? Eben erst schienen sie das Zimmer verlassen zu haben, doch wo waren sie? Warum kehrten sie nicht zurück? Wo sollte ich sie suchen?

Die Zeit verrann. In holdem Geplauder machte das Haideröschen sich vertraut mit meiner Schwester. In eine ernste Unterhaltung vertieften sich mein Vater und Wallmuth. Weder hier noch dort betheiligte ich mich an dem Gespräch; bald auf der einen, bald auf der andern Thür hafteten meine Blicke, meinend, daß die schmerzlich Vermißten eintreten würden. Der Angstschweiß perlte mir auf der Stirne, und doch erfüllte mich eine namenlose Furcht zu fragen: »Wo sind sie?«

»Ich hörte von einer zweiten Tochter,« bemerkte mein Vater endlich.

»Ja, Indigo,« versetzte der Förster, sich mir zukehrend, und ich entdeckte, wie es auf seinem wettergebräunten Antlitz arbeitete und zuckte, »hier hat sich seit Deinem letzten Besuche Manches geändert, Einzelnes zum Guten, Anderes zum Bösen.«

Eine kurze Pause trat ein. Mir stockte der Athem; in rasendem Kreislauf wirkte die gleichsam fiebernde Phantasie.

»Hedwig –« brachte ich mühsam heraus, und ich fühlte, wie ich erbleichte.

»Ja, Hedwig, das arme Kind,« ergänzte der Förster traurig, »seit jenen verhängnißvollen Tagen – Du entsinnst Dich – wollte sie sich gar nicht wieder recht erholen. Ich befolgte daher Deinen Rath und brachte sie zu der Großmutter, und dort weilt sie heute noch.«

»Sie ist krank – schwer krank?« rief ich erschüttert aus. »Kränklich wohl,« bestätigte Wallmuth, und im Tone seiner Stimme offenbarte sich väterliche Besorgniß, »schwer

krank dagegen nicht. Sie ist auf, zeitweise sogar recht munter, allein trauen kann man solchem Aufflackern nie. Ihr Leiden hat wohl einen tieferen Sitz; wir hoffen auf den Frühling. Das Frühjahr brachte schon Vielen Heilung, und so wird auch sie von Neuem aufleben, zumal es nichts mehr giebt, was störend auf ihr beruhigtes Gemüth einwirken könnte, 's ist mir recht schwer geworden, das Kind von mir zu lassen, und noch schwerer wird es mir, es fern zu wissen. Doch welches Opfer brächte man nicht gern zum Besten einer guten Tochter, 's ist freilich immer eine zerrissene Geschichte, denn meine Frau bringt manchen Tag und manche Woche bei ihrer alten Wohlthäterin zu, um das Kind selbst zu pflegen und ihm 's Heimweh zu bekämpfen, und ich wirthschafte unterdessen mit Hannchen allein, aber wie sollt' ich's anders einrichten? Ich muß mich fügen, obwohl mir zuweilen um's Herz ist, als lebte ich auf der Landstraße. Mein Trost bleibt der Frühling, welcher schon so manchem kränkelnden Pflänzchen, so manchem vom Wintersturm geknickten Schößling Heilung brachte.«

Todtenstille war bei diesen Erklärungen eingetreten. Ich fühlte, wie alle Blicke auf mir ruhten, wie das Haideröschen sich mir unwillkürlich näher zuneigte, wie von dem dumpfen Drange beseelt, mich zu ermuthigen und zu trösten, mir zu rathen, nicht zu schwarz zu sehen, sondern hoffnungsvoll des kommenden Frühlings zu gedenken. Ich dagegen starrte vor mich nieder auf den mit weißem Sand bestreuten Fußboden, als hätte ich mich allein in dem Zimmer befunden. Eine schmale Fußspur war in dem lockeren Sande ausgeprägt. Warum konnte Hedwig sie nicht hinterlassen haben? Sie, welche ich einst fast noch lebhafter, als ihre Schwester über denselben Fußboden hinschweben sah? Im Frühling, ach, im Frühling, wenn überall neues Leben dem durchwärmten Erdreich entkeimte, erwachten auch die Unken auf dem Boden des See's, um ihr geisterhaftes Grabgeläute anzustimmen. Dem Einen ersetzten sie freundlich die Glocken weidender Rinder; dem Andern bildeten sie eine träumerische Begleitung zu den süßen Melodieen der Nachtigall, und mir? Visionen, wie ich sie einst im Schilf des See's vor mir vorüberziehen sah, tauchten vor meiner Seele auf. Blumengeister sah ich, wie sie einen schlummernden bleichen Engel über den nächtlich milde beleuchteten stillen Wasserspiegel entführten.

»Aber auch im Schloß ist Vieles anders geworden,« brach der Förster wieder das Schweigen.

Ich schrak empor und lauschte gespannt.

»Vieles anders,« wiederholte er sinnend, »man sollte es nicht glauben. Vor etwa sechs Wochen verschwanden nämlich die Haushälterin und der ausländische Kammerdiener; dann dauerte es etwa drei Wochen, da verreiste auch der Candidat mit Sack und Pack, um, wie es scheint, nicht wieder zurückzukehren. Und so wirthschaften der alte Herr, das gnädige Fräulein und der Kutscher Seltsam allein. Wie sie's machen, verstehe ich nicht; aber 's muß doch gehen, denn einen Tag um den andern kommt eine Frau aus dem Dorf, um die gröbere Arbeit zu verrichten und sich demnächst wieder zu entfernen.«

Ich suchte die Augen meines Vaters. Er nicke, andeutend, daß er die Ursache dieses befremdenden Wechsels errathe.

»Jedenfalls fühlt Fräulein Thekla sich jetzt recht vereinsamt,« nahm Wallmuth seine Mittheilungen alsbald wieder auf, »denn seitdem der Candidat das Weite suchte – und der Teufel mag ihm auf seinen Wegen das Licht halten – spricht sie fast täglich vor, um sich nach dem Befinden meiner Tochter Hedwig und meiner Frau zu erkundigen. Und dabei gab es eine Zeit – ich glaube, weil ich meinen Kindern den Besuch des Schlosses untersagte – in welcher sie große Umwege beschrieb, nur um nicht vor meiner Thür vorüber zu gehen. Sie ist wohl recht zu bedauern; hätte ich sie nicht so lange gekannt, möchte ich sie für einen Geist halten, so weiß und durchsichtig ist ihr Gesicht geworden –«

Auf dem Hofe schlug ein Hund an. Ihm antworteten drei oder vier Teckel, welche mir zu Füßen kauerten und abwechselnd sich an meinen Knieen aufrichteten, um meine Liebkosungen entgegenzunehmen. Ich meinte, dieselben Thiere vor mir zu sehen, welche in jenen fernliegenden glücklichen Tagen, den Kreis meiner Gespielen vergrößernd, den blondgelockten Zwillingen auf Schritt und Tritt nachfolgten.

Auf das Bellen des Hundes hatte Wallmuth sich erhoben und schnell trat er auf den Flur hinaus; anstatt aber die Zimmerthür zu schließen, lehnte er sie nur an. Gleich darauf hieß er das Burgfräulein willkommen. Unwillkürlich beobachtete ich meinen Vater, es war noch hell genug, um zu unterscheiden, daß Leichenblässe sich über sein Antlitz ausgebreitet hatte.

»Ich erlaube mir zu bemerken, gnädiges Fräulein, daß Besuch da drinnen ist, Besuch, von welchem ich nicht weiß, ob es Ihnen angenehm wäre, wenn –« erklärte Wallmuth höflich.

»Sie sind da!« tönte Thekla's Stimme mit einem tiefen, schmerzlichen Seufzer zu uns herein.

»Ja, gnädiges Fräulein, der junge Mann, der Indigo –«

»Das stört nicht, lieber Wallmuth,« fiel jene mit geisterhafter, jedoch unverkennbar schwer erzwungener Ruhe ein, ein Beweis, daß wir längst erwartet worden waren; »ich bin etwas erschöpft, lassen Sie mich immerhin eintreten.«

Hannchen, welche ihr entgegeneilte, hatte die Thür geöffnet, und auf der Schwelle erschien mit aufrechter Haltung Thekla. Einen langen ernsten Blick warf sie um sich, als hätte die vor ihr liegende Aufgabe sie noch im letzten Augenblick mit Entsetzen erfüllt. Wie damals, als ich sie zum ersten Male sah, führte sie auch heute einen einfachen Stab in der Hand. Wie damals, war sie auch heute schwarz gekleidet; aber noch unheimlicher contrastirte ihr marmorweißes Antlitz zu der dunkeln, sie gegen die Kälte schützende Umhüllung.

Mein Vater, Martha und ich hatten uns erhoben. Man hätte ein Blatt können fallen hören.

Ein Weilchen verrann, ohne daß Einer gewagt hätte, die tiefe Stille zu unterbrechen. Kaum daß Thekla weit genug vorschritt, um Hannchen das Schließen der Thür zu ermöglichen. Auge ruhte in Auge. Man schien sich gegenseitig bis auf den tiefsten Grund der Seele hinabspähen zu wollen. Meines Vaters Haltung, anfänglich wie durch eine gewaltige Last beeinflußt, wurde allmählich entschlossener, fast drohend; die Bilder einer verhängnißvollen Vergangenheit zogen vor seinem Geiste vorüber. Thekla dagegen beugte sich tiefer und tiefer, bis sie endlich die linke Hand zu der rechten auf den Stab legte, um sich vor unsicherem Schwanken zu bewahren.

»Dies sind Ihre beiden Kinder?« fragte sie endlich, mit den Blicken auf mich und Will o' the Wisp deutend.

»Meine Kinder, die Kinder einer armen, in Kummer und Elend gestorbenen Mutter,« antwortete mein Vater mit fester Stimme.

»Auch eine Tochter,« bemerkte Thekla wie im Selbstgespräch, »wer hätte das geahnt?«

»Eine Tochter, welche, obwohl mit Thränen des Entzückens begrüßt, durch ihr Dasein den ersten Keim zu dem verfrühten Ende einer treuen, in ihr hartes Loos ergebenen Dulderin legte,« bestätigte mein Vater rauh.

Thekla richtete sich mit einer heftigen Bewegung empor, und meinen Vater starr ansehend, fragte sie vorwurfsvoll:

»Wie soll man über einen Vater urtheilen, welcher sich grausam von seinem Erstgeborenen trennt und es diesem anheimstellt, nach achtzehn langen Jahren ihn aufzusuchen?«

»Wer mit allen Kräften um ein kärgliches tägliches Brod für sich und eine heißgeliebte Tochter arbeitet, dem stehen die Mittel nicht zu Gebote, Weltreisen als Fliegenschritte zu betrachten,« versetzte mein Vater düster, »am wenigsten aber, wenn ihm die Beweise zugestellt wurden, daß er nur einem Grabhügel mehr seine Liebe hätte zutragen können –«

»Das geschah?« fiel Thekla sichtbar entsetzt ein und schwerer lehnte sie sich auf den Stab.

»Ja, es geschah,« bestätigte mein Vater lebhafter, »und leichtfertig, grausam sollte ich mich von meinem Sohn getrennt haben?«

Er war im Begriff, in tief einschneidender Weise von vergangenen Tagen zu sprechen, als die Zimmerthür wieder geöffnet wurde und der Knecht des Försters und unser Kutscher in derselben erschienen. Sie trugen behutsam das von meinem Vater in der Blockhütte gemalte Bild, welches nach unserer Ankunft in Europa aufgespannt und in einen einfachen Goldrahmen gebracht worden war. Das Eintreffen Thekla's hatte uns gehindert, es selbst aus dem Wagen zu nehmen. Kaum aber wurde mein Vater der beiden Leute ansichtig, als er ihnen entgegeneilte, mit jugendlicher Rüstigkeit das Bild aus ihren Händen nahm und, nachdem jene wieder hinausgetreten waren, es so aufstellte, daß das ermattende Tageslicht es aus der günstigsten Richtung traf.

»Hier ist meine Erklärung,« sprach er sodann, sich Thekla zuwendend; er stockte, denn diese, nachdem sie zwei Schritte vorgetreten, hatte ihren Stab zur Erde fallen lassen und war auf einen neben ihr stehenden Stuhl gesunken. Dort sah sie, die Hände, vor sich auf den Knieen gefaltet und die Blicke so starr auf das Bild gerichtet, als wäre ihr Leben im Begriff gewesen, von der sterblichen Hülle auf ewig zu scheiden. Auch mein Vater hatte seine Fassung verloren, indem er eine derartige Wirkung von seinem Verfahren nicht erwartete. Die übrigen Anwesenden aber beobachteten mit sichtbarer Bangigkeit eine Scene, welche doppelt ergreifend für sie, weil sie deren Bedeutung nicht in ihrem ganzen Umfange ahnten.

Die drückende, schwüle Stille raubte mir fast den Athem. Den beängstigenden Anblick ertrug ich endlich nicht länger, und leise vor das Bild hintretend, kehrte ich es um. Der Bann war gebrochen. Thekla nahm den ihr von Will o' the Wisp schüchtern dargereichten Stab und erhob sich mit einem tiefen Seufzer.

»Ich danke Dir,« flüsterte sie kaum verständlich; dann wendete sie sich an meinen Vater.

»Was soll dieses Bild?« fragte sie wie geistesabwesend.

»Ein Mittel soll es mir sein –« hob dieser an, als Thekla, offenbar seine Erklärung fürchtend, ihm schnell in's Wort fiel.

»Ich begreife,« sprach sie mit sichtbarer Anstrengung, »indem Sie die Rechte der Kinder einer – einer tiefgekränkten Mutter vertreten – glauben Sie, Ihre Pflicht zu erfüllen; ich rathe Ihnen nicht ab, noch weniger bitte ich um Schonung für – Andere; aber auch ich kenne meine Pflichten; und nun gar noch der Jahrestag – morgen ist der achtzehnte Januar –«

»Der Gedanke an eine Zeitrechnung lag mir fern,« erwiderte mein Vater verstört, aber ich las in seinen Zügen, wie die Erinnerung an jenen Jahrestag sich klärte.

»Dann ist die Wahl des Zeitpunktes um so mehr eine wunderbare Fügung des Geschickes,« fuhr Thekla ruhiger fort, »und Sie dürfen nicht säumen, einem solchen Winke Folge zu leisten. Ja, kommen Sie morgen auf's Schloß; kommen Sie in Begleitung Ihrer Kinder und bringen Sie das Bild; denn ich bin die Letzte, welche Sie in dem von Ihnen beschlossenen Verfahren stören oder anders bestimmen möchte, und würde durch dasselbe ein Todesurtheil besiegelt.«

Mein Vater antwortete nicht. Ein Heer von Zweifeln schien ihn zu bestürmen. Thekla war an ihm vorbeigetreten, und Will o' the Wisp's Hand ergreifend, zog sie dieselbe nach dem Fenster hin. Lange sah sie in das schüchtern zu ihr erhobene Antlitz; lange, als hätte sie nach Aehnlichkeiten geforscht.

»Nur Martha kann Dein Name sein,« sprach sie leise, wie unbewußt.

Will o' the Wisp in ihrer Befangenheit antwortete nur durch zustimmendes Neigen des Hauptes.

»Du hast mehr von Deinem Vater,« fuhr Thekla unbeschreiblich traurig fort, »von Deinem Vater in seinen jungen Jahren. Willst Du indessen ein treues Bild von Deiner Mutter haben, so blicke in die Augen Deines Bruders.«

Dann küßte sie Will o' the Wisp auf die Stirne. Mir reichte sie die Hand, und schweigend begab sie sich zur Thüre hinaus. Hannchen, welche ihr das Geleite geben wollte, wies sie mit einer abwehrenden Handbewegung zurück und hastig trat sie auf den Hof hinaus. Gleich darauf war sie hinter dem Thorwege verschwunden. Auch mich duldete es nicht länger in dem Zimmer. Die gebeugte Gestalt meines Vaters, Hannchen, meine Schwester und Wallmuth, die keinen Laut von sich zu geben wagten, das umgekehrte Bild, welches mit unheimlichen Zauberkräften ausgestattet zu sein schien, dazu das sich verdichtende Zwielicht, dies Alles wirkte auf mich ein, als habe drückende Schwüle in dem Zimmer geherrscht und mir das Blut nach dem Kopfe getrieben. Draußen athmete ich freier, doch der Hof war mir noch zu enge, und schnellen Schrittes begab ich mich nach dem Thor hinüber. Wie durch einen grauen Florschleier hindurch erkannte ich in der Entfernung von kaum hundert Schritten Thekla's Gestalt. In sich zusammengebrochen verfolgte sie langsam ihren Weg heimwärts. Ich vernahm das Geräusch, mit welchem sie ihren Stab auf den gefrorenen Erdboden stieß, um ihren schwankenden Körper zu stützen. Ich meinte, daß die marmorne Jägerin vor dem Schloßhofe ihr den Platz auf dem Postament habe einräumen müssen, um das von unsäglicher Seelenqual gefolterte Gemüth unter dem Schutze des nächtlichen Dunkels in der erstarrenden Kälte zur Ruhe gelangen zu lassen.

Endlich verschwand sie zwischen den scheinbar näher zusammenrückenden Baumstämmen.

Was sollte der nächste Tag mir und den Meinigen bringen? Wo lag die Lösung des Räthsels, daß wir bisher Alles so ganz anders gefunden, als zu finden wir erwarten durften? Träumerisch blickte ich zum Himmel empor, dessen tiefgraue Farbe nirgend die leiseste Unterbrechung zeigte. Schneeflöckchen sanken noch immer nieder. Sie waren zu klein und ihrer zu wenige waren es, um dem Erdboden eine weiße Farbe zu verleihen. Sie verloren sich zwischen dürren Halmen und im Sande. In den Tannenwipfeln sang der Wind seine vieltausendjährigen Weisen, dazwischen ächzte und knarrte es geheimnißvoll, wo nachbarlich zusammengewachsene Zweige sich an einander rieben. Mich fröstelte, denn eisig hauchte es um die Försterei herum. Aber in dem trauten Zimmer des Schweizerhäuschens herrschte behagliche Wärme. Ernste Häupter neigten sich zu einander hin; es öffneten sich vor einander die hartbedrängten Gemüther; versöhnliche Gefühle lockerten die durch erlittene Unbilden um treue Herzen geschmiedete Rinde des Hasses. Angesichts des lieblichen Haideröschens und des sich ihm zutraulich anschmiegenden Irrlichtes erstarb das krankhafte Trachten nach Vergeltung.


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