Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

NEUNTES CAPITEL. IN DER GOLDENEN HARPUNE.

Warmer Duft von Grog, Theer und glimmendem Teufelskanaster charakterisiren im Allgemeinen jede Matrosenschänke. Verschärft wird dieser Duft, wenn, wie in der ›Goldenen Harpune‹, die Decke recht tief über den Häuptern der Zechenden hängt und der nächtliche Zusammenkunftsort – ebenfalls wie die Goldene Harpune – so eingepfercht zwischen anderen, wenig einladenden Baracken liegt, daß der Wind um ein halbes Dutzend stumpfe, rechte und scharfe Winkel herumblasen müßte, um nur so viel frische Luft durch geöffnete Fenster und Thüren hineinzutragen, wie dazu gehört, die Flamme einer einzigen triefenden und schwälenden Talgkerze in irrlichtartige Schwankungen zu versetzen.

Derartig waren Lage und Bauart der berüchtigten Goldenen Harpune. Das Gebäude selber war dem Einsturz nahe; der Weg zu demselben schlüpfrig und dunkel, so daß außer den Stammgästen nicht leicht ein ehrlicher Mann sich dorthin verirrte, und die Gäste endlich, namentlich diejenigen, welche nach Einbruch der Dunkelheit sich daselbst einstellten, die gehörten einer Menschenklasse an, daß einem zum Matrosenpressen heimlich umherschleichenden Schmuggler oder Corsaren bei deren Anblick das Herz in der Brust vor Freude erzittert hätte: Lauter verwilderte Theers, von welchen die meisten wohl schon nähere Bekanntschaft mit Handschellen und neunschwänziger Katze gemacht hatten; Burschen, die von der Arbeit gerade so dachten, wie der Haifisch von einer verrosteten Ankerkette, und schließlich Galgenvögel, welche ihr Kappmesser mit derselben Gemüthsruhe in das warme Fleisch ihres Nebenmenschen schoben, wie den Marlpfriem durch ein hülfsbedürftiges Tauende.

Eigener dieser Spelunke war der ›Fliegende Holländer‹, ein vierschrötiges Weibsbild, welches seinen Tabak so gewandt auf jede nur denkbare Art ausnutzte, so nachhaltig seinen Lieblingsgästen zutrank und bei Ausgleichung von ernsteren Meinungsverschiedenheiten eine Handspeiche so eindringlich handhabte, daß kaum ein Tag verging, an welchem nicht der Eine oder der Andere beschwor, ein rüstigerer Topgast sei schwerlich jemals von einem Kriegsschiff desertirt, als der unter falscher Flagge segelnde Fliegende Holländer.

Doch wie und was man über ihn denken mochte, kümmerte den Fliegenden Holländer ebensowenig, wie der Staub von Jahrzehenden, welcher die kleinen Fensterscheiben seines Reiches trübte. Er begnügte sich, seine Weiblichkeit dadurch zu veranschaulichen, daß er sich unter männlichen Schutz stellte, und wer diesen Schutz nicht anerkennen wollte, konnte sicher sein, so unhöflich verabschiedet zu werden, daß er gern das Wiederkommen vergaß.

Ein großer Vorzug dieses männlichen Schutzes war seine unerschütterliche Treue. Denn hätte er wirklich die Neigung verspürt, seiner Gönnerin undankbar zu entlaufen, so wäre ihm dies aus Mangel am Nothwendigsten, nämlich den Beinen, nicht möglich gewesen.

Wigham, oder Spinnrad, unter welchem bezeichnenden Namen er seines Erzählertalentes wegen unter Freunden und Verehrern bekannt war, stammte aus Irland und zwar aus demselben Orte, in welchem O'Cullen einst das Licht der Welt erblickte. Die beiden Landsleute hatten zusammen auf Kehrichthaufen gespielt, gemeinschaftlich Kartoffeln, Eier, Hühner und sogar einmal einen Hammel gestohlen, und konnte es daher nicht überraschen, daß die unter so ernsten Umständen geschlossene Freundschaft alle Wechselfälle ihres Lebens überdauerte.

O'Cullen griff zur Drehorgel, Wigham zu Theer und Hanf. Viele, viele Jahre hörten sie nichts von einander, bis der Zufall sie eines Tages in den Straßen New-Yorks wieder zusammenführte. Wigham saß bei dieser Gelegenheit auf einem mit drei Rädern versehenen Lehnstuhl, in jeder Faust eine kurze feste Pieke, mittelst deren er sich mühsam vorwärts bewegte. Dieser Stuhl war die Pension, welche ihm der Capitain des Schiffes bewilligte, an dessen Bord seine Beine durch eine fallende Spiere derartig zerschmettert worden waren, daß beide, um der Welt einen starken Charakter zu erhalten, oberhalb der Kniee amputirt werden mußten. Seit diesem Zusammentreffen war die alte Freundschaft eine noch innigere geworden. Wigham hegte eine gewisse Ehrerbietung vor den Geldmitteln O'Cullens, und dieser wieder natürliche Hochachtung vor der Gelehrsamkeit des lese- und schreibekundigen Wigham. Der Eine hatte Jemand gefunden, welcher dem auf die öffentliche Wohlthätigkeit angewiesenen Krüppel ein behagliches und seinen Neigungen entsprechendes Unterkommen bei dem Fliegenden Holländer verschaffte; der Andere Jemand, der ihm durch Vorlesen seiner Correspondenzen die Ueberzeugung verschaffte, daß seine Frau ihn nicht hinterging und wirklich niederschrieb, was ihr in die Feder dictirt wurde, und hatten somit beide Theile alle Ursache, mit den wunderbaren Fügungen des Schicksals vollkommen zufrieden zu sein. Sogar der Fliegende Holländer fuhr nicht schlecht dabei, indem das mauerfeste Spinnrad mit seinen Riesenkräften nicht nur von dem beweglichen Stuhle aus eine Art Herrschaft über alle Raufbolde ausübte, sondern auch durch manch' lustiges Garn, welches er abspann, die Gäste oft bis zum hellen Tage bei dampfenden Whiskybowlen zu fesseln verstand. Auch äußerlich paßte er vortrefflich zu dem Fliegenden Holländer. Er war nämlich das Urbild eines ausgewitterten, gelbhaarigen Matrosen mit stumpfer Nase, großen, unverschämt glotzenden Fuchsaugen und einem feuerrothen wohlgepflegten Kehlbart, lauter Eigenschaften, welchen die Wirthin der Goldenen Harpune mit ihren stechenden kleinen Rattenaugen, einer schief eingefügten spitzen Nase und einer unzähligen Menge von Blatternarben so ziemlich das Gleichgewicht hielt.

Obwohl Freund Bechler sogleich bereit war, mich auf dem abenteuerlichen Gange zu begleiten, hatte es doch längst elf Uhr geschlagen, als wir in der Nachbarschaft der Goldenen Harpune eintrafen. Denn die Nachbarschaft war Alles, was wir nach mancherlei Umwegen und Erkundigungen in Erfahrung zu bringen vermochten. Gehört hatten Einige von der verrufenen Schänke, dort gewesen war indessen Niemand.

Wir befanden uns auf dem Nordende der Stadt auf dem Ufer des Hudson, wo also der die Halbinselstadt umkränzende Gürtel von Fahrzeugen weniger dicht und nicht mehr fast ausschließlich aus wettergewohnten Seeschiffen bestehend. Auch so belebt war es dort nicht, wie auf anderen Stellen. Der Verkehr beschränkte sich zu der späten Stunde vorzugsweise auf die neben einander ankernden Fahrzeuge, wo die verschiedenen Wachen von Bord zu Bord ihre Ansichten austauschten, auch wohl ein Garn spannen oder eine alte Seemannsweise in die Nacht hinaussendeten.

Auf der anderen Seite der Straße erblickte man nur spärlich offene Thüren, aus welchen Gasbeleuchtung und wüster Lärm in's Freie drangen und, weithin verständlich, Schänken und Trinkhallen verkündeten. Alles Uebrige war dunkel und schwarz, unzulänglich beleuchtet von Gasflammen. Nur vorübergehend unterbrachen Gruppen geräuschvoll sich unterhaltender Männer und Weiber, unverkennbar den niedrigsten Volksschichten angehörend, die dumpfe, gewissermaßen Unheil brütende Einsamkeit.

Zwei Mal waren wir auf und ab gewandelt, so weit wir glaubten, daß das Gebiet der Goldenen Harpune reiche, und wir begannen zu fürchten, daß unser Forschen ohne Erfolg bleiben würde, als seitwärts von uns auf einer kurzen, von Schiffen nicht besetzten Strecke das Fallen eines Ruders ertönte. Unwillkürlich blieben wir stehen. Wir hatten die Mitte der Straße zu unserm Wege gewählt, befanden uns also nur wenige Schritte von der Stelle, auf welcher, wie wir deutlich unterschieden, ein leichtes Boot vor einer nach dem Bollwerk hinaufführenden Treppe anlegte. Mechanisch blickten wir hinüber. Der Schein einer nahen Laterne streifte die obersten Stufen der Landungsstätte.

»Treffe ich ihn heute nicht, werde ich wohl unverrichteter Sache heimkehren müssen,« drang eine gedämpfte, freundliche und, wie ich meinte, Knabenstimme zu uns herüber, »länger, als eine halbe Stunde, warte ich nicht; die Leute belästigen mich zwar nicht, allein auf die Dauer wird ihre Gesellschaft mir doch etwas unheimlich.«

»Geh, kleine Wisp,« antwortete eine tiefere, ebenfalls noch jugendliche Stimme auf dem Wasserspiegel, »solche Menschen, welche Dir zu nahe treten möchten, giebt es nicht auf der Welt.«

In demselben Augenblick erschien auf der obersten Stufe eine schlanke Mädchengestalt, von welcher ich bei der unzureichenden Beleuchtung nur erkannte, daß liebliche Jugendfrische ihr Antlitz schmückte, natürliche Anmuth sich mit ihren Bewegungen verband, und langes aufgelöstes Haar von dem unbedeckten Haupte tief über das ihren Oberkörper umhüllende Deckentuch hinabfloß.

Indem sie vor uns vorüberschlüpfte, gedachte ich der von ihr erwähnten unheimlichen Umgebung, und mich ihr schnell nähernd, fragte ich die sichtbar Ueberraschte mit höflicher und daher Zutrauen erweckender Zurückhaltung, ob sie mir Aufschluß über die Lage der Goldenen Harpune ertheilen könne.

»Die Goldene Harpune?« hieß es mit dem Ausdruck der Besorgniß und doch wunderbar wohlklingend zurück, »ich stehe eben im Begriff, mich dahin zu begeben. Wenn Ihr mir folgt – und dennoch möchte ich Euch warnen. Bei den Leuten, welche in der Goldenen Harpune verkehren, sind Fremde nicht gern gesehen.«

»Und Ihr selber begebt Euch dorthin?« fragte ich, und ich glaube, es lag ein gewisser Vorwurf im Tone meiner Stimme; denn indem wir, über die Straße hinüberschreitend, an einer Laterne vorbeikamen, blickte ich in ein so liebliches, unschuldreines Antlitz mit großen schüchternen Augen und eingerahmt von einer wahren Fluth des schönsten blonden Haars, daß ich nur noch das einzige Gefühl eines unendlichen Mitleids kannte.

»Mir droht keine Gefahr,« erwiderte das junge Mädchen mit rührender Einfachheit, »aber auch ich bliebe jenem Orte fern, wäre ich nicht gezwungen nach Jemand zu forschen.«

»Wenn mich ähnliche Zwecke hierher geführt hätten,« fragte ich wiederum, mich der größten Ehrerbietung befleißigend, »würdet Ihr dann mir gestatten, Euch zu begleiten?«

Wir waren vor einer Bretterwand stehen geblieben, und jetzt erst, da die geheimnißvolle Fremde ihre Hand nach derselben ausstreckte, entdeckte ich eine roh zusammengefügte Thür, welche bisher meinen Blicken entgangen war.

»Nein, nein, ich gehe lieber allein,« hieß es ängstlich, und knarrend wich die Thür etwa um Handbreite aus ihren Fugen, »Ihr seid gütig, und ich danke Euch, aber Eure Begleitung muß ich, wie die jedes anderen Menschen, ausschlagen – freilich – wenn Ihr in der Goldenen Harpune zu thun habt, hindert Euch nichts, mir zu folgen. Doch ich warne Euch noch einmal, die an dem häßlichen Orte verkehrenden Männer sind verwilderte Seeleute –«

»Hineingehen möchte ich nicht,« fiel ich dringend ein, und meine Theilnahme für das junge Wesen, welches ich für eine Fischertochter hielt, wuchs mit jedem neuen an mich gerichteten Worte, »ich wäre zufrieden, fände ich Gelegenheit, unbemerkt einen Blick durch's Fenster zu werfen. Habe ich mich überzeugt, daß derjenige, welchen ich suche, nicht anwesend, so ist mein Zweck erfüllt.«

Einige Secunden zögerte das freundliche Kind, dann antwortete es freimüthig:

»Das Haus steht abgesondert. Ein unbemerkter Blick in's Fenster wäre daher wohl zu ermöglichen, wenn Ihr vorsichtig seid – aber Euer Freund dort,« und sie deutete auf Bechler, der sich bisher nicht in unser Gespräch gemischt hatte, »Zweien gelingt es weniger leicht, sich zu verbergen, wie Einem.«

»Mein Freund wird mich hier erwarten,« versetzte ich schnell entschlossen zu Bechlers Erstaunen, welcher mir eine derartige Entschiedenheit nie zugetraut hätte. »Es ist mir sogar lieber,« kehrte ich mich diesem zu, denn ich hatte ihn bis zu einer bestimmten Grenze in mein Geheimniß eingeweiht, »ich erfahre dann, ob derjenige, welchen ich suche, dieses Thor vor mir durchschritt und wohin er sich wendete.«

»Ein guter Vorschlag,« meinte der professionirte Philanthrop, unverkennbar zufrieden mit der Aussicht, seine Cigarre ungestört weiterrauchen zu können, »außerdem weiß ich,« hier versetzte er mir einen leichten Stoß des Verständnisses, »wo ich meinen Freund zu suchen habe, wenn er nicht wieder zum Vorschein kommen sollte.«

Das Mädchen öffnete nunmehr die Pforte, einen Händedruck wechselte ich noch mit Bechler, und nachdem ich, meiner Führerin folgend, ebenfalls in den dunkeln, von Bretterwänden eingefriedigten Gang eingetreten war, schob sie die Thür hinter mir wieder zu. Von diesem Augenblick an stellte sie sich, als habe gar keine Beziehung zwischen uns bestanden, und so geräuschlos und flüchtig schwebte sie vor mir einher, daß ich meine ganze Gewandtheit aufbieten mußte, sie auf dem von hohen Gebäuden, vereinzelten Baumkronen und Waarenschuppen schwarz beschatteten Wege nicht aus den Augen zu verlieren. Nach Zurücklegung von etwa zweihundert Schritten in den unregelmäßigsten Windungen, öffnete sich vor uns eine Art Hof oder Zimmerplatz. Wüstes Geräusch, erzeugt durch rauhe Kehlen und tolles Stampfen mit den Füßen mit dazwischen gestreuten Tönen einer im schnellsten Rhythmus bearbeiteten Geige, drang mir deutlicher entgegen, und nicht ohne Besorgniß hafteten meine Blicke auf drei offenen Fenstern, hinter welchen in einem mangelhaft erleuchteten Raume eine jener grausigen Bachanalien gefeiert wurde, wie solche eben nur in größeren Hafenstädten, diesen Versammlungspunkten der rohesten und verwegensten Elemente aller seefahrenden Nationen der Erde möglich. Die Doppelwirkung der Dunkelheit und der erhellten Fenster hinderte mich, die äußeren Formen des frei liegenden einstöckigen Gebäudes genau zu erkennen. Es machte indessen auf mich den Eindruck einer Baracke, von welcher ich glaubte, daß sie in jedem Augenblick über der tanzenden und tobenden Gesellschaft zusammenbrechen müsse.

Meine Begleiterin war stehen geblieben und seufzte tief auf, wie sich fürchtend, ihren ursprünglichen Plan auszuführen.

»Tretet auf den Giebel des Hauses,« flüsterte sie mir zu, »auch dort liegen Fenster, durch welche Ihr Hineinzulugen vermögt. Während man hier vorne ab und zugeht, verbirgt Euch dort Buschwerk.«

»Ihr wollt Euch wirklich in jenes Getümmel wagen?« fragte ich besorgt.

»Nicht gleich, nein, so lange man tanzt, nicht,« antwortete meine Führerin befangen, »man würde versuchen, ohne mir deshalb ein Leid zuzufügen, mich in den Reigen hineinzuziehen, und ich hasse und verabscheue die Berührung jener entsetzlichen Menschen. Aber geht, geht, es möchte Jemand dieses Weges kommen, und Ihr gehört nicht zu denjenigen, welche man hier willkommen heißt.«

Ohne Einwendungen zu erheben befolgte ich den mir ertheilten Rath. Vorsichtig schlich ich nach dem Giebel der Baracke hinüber, wo ebenfalls zwei geöffnete und erhellte Fenster vor mir lagen. Das eine derselben gehörte indessen nur zu der Haupthalle, und behutsam mich in das Gebüsch drängend nahm ich eine solche Stellung ein, daß ich die Stätte der Orgie zu überblicken vermochte, jeder von dort aus durch's Fenster gesandte Blick dagegen, zumal bei dem plötzlichen Uebergange von der dampferfüllten Helligkeit zur nächtlichen Finsterniß, achtlos über mich hinstreifen mußte.

Anfänglich fiel Alles, was vor mir lag, in ein unbeschreibliches Knäuel durcheinander wirbelnder menschlicher Glieder zusammen. Selbst diese erkannte ich in der schweren, von Tabaksrauch und Staub erfüllten Atmosphäre nur unvollkommen, und Bangigkeit bemächtigte sich meiner bei dem Gedanken, daß meine jugendliche Führerin vielleicht binnen kurzer Frist gewaltsam in das scheußliche Getümmel hineingezogen würde. Meine Besorgniß wuchs in demselben Maße, in welchem die einzelnen Gegenstände sich vor meinen spähenden Blicken entwirrten. Ich unterschied bärtige und glatte Seemannsphysiognomien, mit allen nur denkbaren Kopfbedeckungen und in allen nur denkbaren verschrobenen Kleiderzusammenstellungen, welche den gleichen Stempel der Sittenlosigkeit auf ihren gerötheten Zügen trugen; ich unterschied vereinzelte weibliche Gestalten, welche, zerzaust und bestaubt, an Wildheit und Unmäßigkeit es ihren Genossen zuvor zu thun trachteten. Ich unterschied einen Geiger, welcher auf einem Tische thronte und mit heiserer Stimme zu immer neuen Anstrengungen aufmunterte, und endlich unterschied ich die Wirthin selber, den Fliegenden Holländer, wie sie auf dem Schanktisch zwischen Flaschen, Gläsern und über Spiritusflammen siedenden Getränken saß und mit unterschlagenen Armen, eine kurze Thonpfeife zwischen den Zähnen und einen Matrosenhut auf dem kurzen rothen Haar, gleichmüthig in das Getümmel hineinstierte.

Es war ein Grauen erregendes Weib, dieser corpulente Fliegende Holländer mit den muskulösen nackten Armen und den widerwärtig brutalen Gesichtszügen; ein Grauen erregendes Drehen, Springen und Stampfen Einzelner und dann wieder krampfhaft umschlungener Paare. Dazu das Jauchzen, Heulen, Fluchen und seemännische Jodeln, welches meine Ohren betäubte! Ich meinte in einen Höllenrachen zu schauen, meinte mich selber mit zu drehen, bei jedem neuen Athemzuge Funken sprühende Thonpfeifen, brennende Cigarren, schwälende Talgkerzen und knallrothe Zeugblumen, wie solche auf den zottigen Häuptern der scheußlichen Bachantinnen schwankten, massenweise einzuschlürfen.

Ein dröhnender Schlag von der Faust des Fliegenden Holländers auf den Schanktisch setzte den Anstrengungen des Geigers vorläufig ein Ziel. Die Tänzer dagegen in ihrer Tollwuth tobten weiter, ihre zügellosen Bewegungen mit der furchtbar geheulten und gekreischten Melodie des Yankee Doodle begleitend, bis der Fliegende Holländer auch ihnen durch einen Doppelschlag Halt gebot.

»Hinunter mit dem Staub aus Euren Kehlen!« gellte er in den tollen Haufen hinein, »hier ist Grog, so heiß, daß der Teufel selber daran ersticken müßte! Hier heran, wer noch 'nen Klüver von 'ner Kinderschürze zu unterscheiden vermag! Heran mit Jedem, der sich jemals die Zähne an 'nem schimmligen Schiffszwieback stumpf feilte! Die frische Bowle hier stammt aus meiner Tasche, das Andere auf Eure Rechnung!«

Ein wahrhaft höllisches Jauchzen und Brüllen schloß sich an diese Einladung an. »Hipp, hipp, Hurrah!« dröhnte es dreimal hinter einander aus den rauhen Kehlen; dann entstand gewaltiges Drängen nach dem Schanktisch hin, wo der Fliegende Holländer alle Hände voll zu thun hatte, die ihm entgegen gestreckten Gläser mit dem siedend heißen Getränk zu füllen.

Diese Pause schien meine jugendliche Begleiterin zur Ausführung ihres Planes gewählt zu haben; denn es ertönte plötzlich der Ruf: Will o' the Wisp, zuerst vereinzelt, dann aber im wilden Durcheinander, und indem sich in dem Gedränge eine Art Gasse bildete, gewahrte ich, wie von der in meinem Gesichtskreise befindlichen Thüre her die Genannte, zwar bleich und in unverkennbarer Angst, aber mit einer gewissen Zuversicht in ihrer Haltung sich gerade auf den Schanktisch zu bewegte.

Die verdichtete Atmosphäre und die gelegentlich meine Aussicht hemmenden Gestalten hinderten mich, einen vollen Anblick des zugleich schüchternen und doch so muthigen Kindes zu gewinnen. Was ich aber sah, genügte, Empfindungen in mir zu erwecken, als hätte ich die anmuthige Erscheinung durch einen lauten Zuruf warnen, zurückscheuchen müssen aus einer Umgebung, welche ich ihr gegenüber doppelt als einen mit giftiger Hefe angefüllten Abgrund betrachtete.

Eingehüllt in das faltige Tuch gelangte ihre Figur weniger zur Geltung; auf ihren von der Sonne leicht gebräunten kindlichen Zügen, in den großen, freundlichen blauen Augen und in dem Lächeln der Befangenheit um die, vor dem sichtbar verkürzten Athem geöffneten Lippen ruhte dagegen ein so sprechender Ausdruck rührender Unschuld, daß sogar die wilden Piratengestalten sich unwillkürlich vor demselben beugten und nicht nur selbst mit den ihnen geläufigen rohen Scherzen zurückhielten, sondern auch die alles Edlere und Bessere verhöhnenden Bachantinnen zügelten.

»Halloh! Platz für die kleine Will,« brüllte es hier, »Gut Glück zu Will o' the Wisp!« hieß es dort, indem ein dampfendes Glas an bärtige Lippen gehoben wurde, »eine volle Breitseite Jedem, der ihre Kielhölzerchen mit seinen thranigen Ballastkisten berührt!« »Die ewige Verdammniß und 'n Leck zwischen Wind und Wasser für die kleinste Havarie an ihren Spieren!« So kreuzten sich die von durchdringendem Jauchzen begleiteten Bemerkungen, welche bessere Bürgschaft für die Sicherheit des geängstigten Kindes boten, als hätte sich zu dessen Verteidigung ein erbitterter Streit entsponnen.

Will o' the Wisp, oder Irrlicht, wie das kaum siebenzehnjährige junge Mädchen genannt wurde, näherte sich unterdessen dem Schanktisch und dem sie mit eigenthümlich neugierigen Blicken beobachtenden schrecklichen Fliegenden Holländer. Sie versuchte zu lächeln, allein in ihren klaren, lieben Augen prägte sich aus, wie unendlich schwer es ihr wurde und welche unabweisliche Nothwendigkeit an sie herangetreten sein mußte, sich zur nächtlichen Stunde in einen solchen Pfuhl des Lasters und der Sittenlosigkeit zu wagen.

Vor dem Fliegenden Holländer angekommen, neigte sie ihre Lippen dessen Ohr zu, augenscheinlich eine Frage an ihn richtend.

Das Weib nickte zustimmend und wies mit dem Daumen der linken Hand auf eine verschlossene Thür, welche in das Nebenzimmer führte und ebenfalls in meinem Gesichtskreise lag. Ein Matrose, rittlings auf einem Stuhle sitzend und Arme und Kopf, wie schlafend, auf die Lehne, zugleich aber an die Thür selber gestützt, schien daselbst Wache zu halten.

Will o' the Wisp wollte auf die zustimmende Antwort in den verschlossenen Nebenraum eindringen, als sie durch einige in dem summenden Lärm verschwindende Worte des Fliegenden Holländers daran gehindert wurde. Rathlos blickte sie um sich; sie wagte nicht einmal, Ungeduld zu verrathen, als mehrere schwielige Fäuste sich nach ihr ausstreckten und in Begleitung bewundernder Ausrufe ihr langes, seidenweich schimmerndes blondes Haar zwischen den Fingern hindurchgleiten ließen. Diese Zudringlichkeiten mochten indessen dem Fliegenden Holländer nicht gefallen. Vielleicht betrachtete er sie als einen möglichen Grund zu einer blutigen Schlägerei, zumal immer mehr Fäuste nach dem lieblichen Haupte hinüberlangten; denn er wies auf einen neben dem Schanktisch stehenden Stuhl, worauf er den zunächst Stehenden gebieterisch zurief, klar Fahrwasser zu geben. Dann reichte er der bebenden Will o' the Wisp die Hand; diese zögerte wohl, doch endlich nachgebend den rauh aufmunternden Worten und der Kraft des muskulösen nackten Armes, schwebte sie leicht auf den Stuhl, von diesem auf den Schanktisch, und im nächsten Augenblick stand sie hinter diesem auf der Erde, den ihr gezollten erschütternden Beifallssturm mit einem wahrhaft ergreifenden Lächeln der Verzweiflung lohnend.

Sobald die zügellose Gesellschaft das junge Mädchen ihrem Bereiche entrückt und von dem Achtung gebietenden Cerberus bewacht sah, beruhigte sie sich schnell wieder. Das Summen dauerte zwar fort; indem aber Jeder nunmehr endlich die Hauptaufmerksamkeit der schweißtriefenden Stirne und dem in seiner Hand befindlichen Glase zuwendete, rief es für mich den Eindruck hervor, als ob plötzlich eine Todtenstille eingetreten wäre.

»Meike, lies mir das Letzte noch einmal vor,« tönte es zwar gedämpft, jedoch mit einer jedes Mißverständniß ausschließenden Deutlichkeit aus dem anderen, kaum vier Schritte von mir entfernten Fenster zu mir herüber. Wäre die Entfernung aber doppelt so groß gewesen, und hätte ich nur einen einzigen Laut vernommen, so wäre ich keinen Augenblick über das Organ O'Cullen's, meines Brodherrn, in Zweifel geblieben.

Anfänglich wirkte diese Entdeckung verwirrend auf mich ein. Dort die von dem schlafenden Matrosen bewachte Thür, welche offenbar nach dem von O'Cullen in Besitz genommenen Nebenzimmer führte; hinter dem Schanktisch das bebende Mädchen, welches augenscheinlich eine Zusammenkunft mit dem gewissenlosen Irländer wünschte; welche Beziehungen bestanden zwischen diesen beiden, so gewaltig zu einander contrastirenden Persönlichkeiten? Neue Räthsel, neue Verkettungen!

»Pünktlich – um – elf – Uhr – solltet – Ihr – ver – hindert sein – dann – bestimmt – einen – andern – Zeit – Zeitpunkt« – buchstabirte in dem Nebenzimmer eine Stimme, welche ihren Klang dem unheimlichen Sausen entlehnt zu haben schien, mit welchem der Sturmwind seinen Weg zwischen Tauen und Strickleitern hindurchsucht, und ich war wieder mir selbst zurückgegeben.

Mit äußerster Vorsicht schlich ich seitwärts. Da ich der Sicherheit halber mich einige Schritte vom Giebel der Baracke entfernt gehalten hatte, bedurfte es einer nur geringen Bewegung, um eine freie Aussicht in das Seitengemach zu gewinnen. Auf den ersten Blick erkannte ich O'Cullen. Er hatte sich mit dem Oberkörper über einen Tisch gelegt, das Stierhaupt auf die linke Faust stützend und mit der andern ein brennendes Licht haltend. Er leuchtete seinem Freunde Wigham, welcher auf der anderen Seite des Tisches in seinem Lehnstuhl saß, ein entfaltetes Schreiben in beiden Händen. Dieser kehrte mir sein Gesicht zu, und zwar ein so verwittertes und durch alle nur denkbarere sträflichen Leidenschaften widerwärtig entstelltes Gesicht, daß ein ehrlicher Mann wohl kaum in dasselbe zu schauen vermochte, ohne sich zugleich in Vertheidigungszustand zu versetzen. Selbst die über den Sitz seines Stuhles noch etwas vorragenden Beinstumpfen schienen keine Sicherheit dagegen zu bieten, daß er die gewaltigen Arme verlängerte und wohl gar vervierfachte, um, ähnlich einem ungeheuerlichen Polypen, sein Opfer zu umfangen und zur tödtlichen Umarmung an sich zu ziehen.

Neben O'Cullen lag auf dem Tische ein geöffneter Brief, in welchem ich denjenigen vermuthete, welchen er Tags zuvor der armen Milly dictirte. Der andere, mit dessen Lesung Wigham eben fertig geworden, konnte dagegen nur derjenige sein, welchen der Negerbursche gebracht hatte und dessen Inhalt der argwöhnische Irländer seiner Frau nicht anzuvertrauen wagte. Ich war also zu spät gekommen, um das zu erfahren, was zu wissen ich am meisten wünschte. Trotzdem blieb ich regungslos stehen, hoffend, aus dem Gespräch der beiden würdigen Genossen die eine oder andere sich auf mich beziehende Andeutung zu entnehmen.

»Um elf Uhr soll ich dort sein, und jetzt ist's Mitternacht,« bemerkte O'Cullen, nachdem Wigham den Brief zu dem anderen auf den Tisch geworfen hatte, »entweder die Gentlemen verdienen wegen Dummheit gehangen zu werden, oder Du – doch nein, bei der ewigen Versöhnung, wenn Du lesen könntest, wie die Hexe, die Milly, möcht ich Dir 'ne Fälschung zutrauen; allein wer die Buchstaben zusammensucht, als wären 's im Staub verstreute Haselnüsse, der muß bei der Wahrheit bleiben, er mag wollen oder nicht.«

»Für 'nen verdammten Piratencharakter hältst Du mich also doch,« schnarrte das Spinnrad gleichmüthig, indem es die vor seinem Gesicht schwebende Flamme zum Anzünden der während des Lesens erloschenen Thonpfeife benutzte.

»Beim heiligen Patrik,« schwor O'Cullen unwirsch, »ich kenne Dich besser, als mich selber.«

Wigham lachte, als hätte er ersticken wollen. Dann strich er seinen rothen Kehlbart.

»Beim Allmächtigen, John,« rief er aus, »da magst Du recht haben, wie 'n Schiffsdoctor, der 'nen einzigen Schluck Whisky 'nem ganzen Faß Salzwasser vorzieht. Doch ich weiß, was ich Dir schuldig bin; Du weißt, daß Du keinen zuverlässigeren Schriftgelehrten hättest finden können, und zehnmal in einem Athem will ich gehangen werden, wenn wir nicht bis in die Hölle hinein seitlängs von einander treiben.«

»Sonst noch etwas?« fragte er, als O'Cullen, welcher die Papiere wieder an sich genommen hatte, nachdenklich schwieg.

»Heute nicht,« antwortete er indessen auf des Genossen Frage, »aber vielleicht in den nächsten Tagen.«

»Verdammt, dann begreife ich nicht, was uns in diesem feuchten Loche hält,« versetzte Wigham, und die seitwärts von ihm lehnenden Pieken ergreifend, drehte er seinen Stuhl durch eine geringe Anstrengung auf derselben Stelle herum, worauf er sich mit drei oder vier Stößen nach der Thür hinüberrollte.

Auf einen dröhnenden Schlag von ihm gegen die morschen Bretter wurde sogleich geöffnet. Ein wildes Hurrah erschütterte die Baracke, als man des lustigen Spinnrades ansichtig wurde; gefällige Hände streckten sich nach dem Stuhl aus, um ihm über die Schwelle zu helfen, und gleich darauf war er im Gedränge verschwunden. Nur seine heiser brüllende Stimme unterschied sich noch, indem er sich bereit erklärte, mit Allen zu trinken und schließlich mit Allen, den Fliegenden Holländer an der Spitze, zur Hölle zu fahren.

O'Cullen, welcher sich an dem unheimlichen Orte vollkommen heimisch fühlte, wollte dem Genossen nachfolgen, als Will o' the Wisp in der Thür ihm entgegentrat. Sie hatte die durch das Spinnrad erzeugte geräuschvolle Scene dazu benutzt, hinter dem Schanktisch hervor und in das Nebenzimmer zu schlüpfen.

»Verdammt, kleine Wisp, Du selber?« rief O'Cullen laut aus, und vor Erstaunen einen Schritt zurückweichend, gestattete er dem Mädchen, die Thür zu schließen und sich dadurch den Blicken des zügellosen Haufens zu entziehen; »was in der Hölle Namen führt Dich schon wieder einmal hierher?«

Will o' the Wisp, fieberhaft geröthet durch Angst und innere Erregung, erbleichte.

»Soll ich bei Andern Hülfe suchen?« verstand ich noch die in sichtbarer Bangigkeit gesprochenen Worte; was sie dann aber hinzufügte, war nur für die Ohren des hinterlistigen Irländers bestimmt; es verhallte in leisem Geflüster. Die besorgnißvollen Blicke, welche sie verstohlen nach dem Fenster hinübersandte, bestätigten, daß sie meine Nähe ahnte und ihre Noth vor mir zu verbergen wünschte.

»Willst Du zu 'nem Andern gehn,« nahm O'Cullen endlich achselzuckend das Wort, und er näherte sich wieder dem Tisch, wohin das bebende Mädchen ihm nachfolgte, »beim heiligen Patrik, ich selber hindere Dich am wenigsten. Nur das merke Dir: Komm mir nicht wieder mit 'nem Anliegen, weil Du denkst, ich sei mildthätig und so viel besser, als andere Menschen. Hab' ich mir erst 'n Ding in den Kopf gesetzt, so ist's vorbei mit der Barmherzigkeit.«

Will o' the Wisp hatte die Hände gefaltet. Deutlich sah ich, wie die kleinen Finger sich krampfhaft in einander preßten, deutlich wie die schönen blauen Augen sich mit Thränen füllten. Dabei spähten sie so lange, ohne mich selber zu entdecken, verstohlen durch das offene Fenster in die Nacht hinaus und gerade zu mir herüber, daß ihr Blick mich förmlich anheimelte, ich meinte, schon früher einmal in ähnliche, wohl gar in dieselben lieben guten Augen geschaut zu haben. Ich konnte mich nicht satt sehen. Verloren ging für mich das Getöse in der Halle, verloren gingen die leisen Worte des lieblichen Kindes, verloren die Erwiderungen des Irländers, der bald lachte, bald drohte, bald mit dem Gelde in der Tasche klirrte und seine verbrecherische Hand mit der Miene eines erhabenen Beschützers auf das unschuldige Haupt legte.

Endlich zählte er Geld auf den Tisch. Es geschah mit sichtbarem Widerstreben. Sechs blanke Dollars waren es, welchen er indessen auf des armen Kindes dringende Vorstellungen noch einen siebenten beifügte.

»Später mehr,« drang es vernehmlich zu mir heraus, und obwohl ich seine Beziehungen zu Will o' the Wisp nicht kannte, hätte ich einen Mord an dem Scheusal begehen können, wegen der spöttischen Geringschätzung, mit welcher dessen Blicke über das holde, schmerzlich erregte Antlitz hinglitten.

»Und Ihr kommt bald?« verstand ich jetzt wieder die mit einem tiefen Seufzer verschmolzenen Worte Will o' the Wisps.

»Ich komme bald,« hieß es gleichmüthig.

»Und bringt –«

»Alles, Alles bringe ich, und 'n Halstuch für Dich obenein.«

Sie hatten sich der Thür genähert.

»Wäre ich erst im Freien!« las ich mehr aus der Bewegung der vollen frischen Lippen, als daß der Ton von des jungen Mädchens Stimme mich erreicht hätte.

»Verdammt, kleine Wisp, wenn Du Deinen Weg nicht zwischen den munteren Deckhänden hindurch findest, wer soll ihn finden?« höhnte O'Cullen, indem er die Thür aufriß. Dann tönte sein heiseres Organ in die vor ihm liegende Halle hinein. »Gebt Weg für das niedlichste kleine Irrlicht, welches jemals in einer Sommernacht auf 'nem Torfmoor einen Hochländer tanzte, ohne sich eine Fußspitze zu befeuchten!«

Ich stand bereits vor dem anderen Fenster, hatte also einen vollen Anblick der Scene, welche sich nunmehr in der Halle entwickelte.

»Gebt Weg für Will o' the Wisp!« gellte und heulte es in markerschütternder Weise, »Platz für die kleine Wisp!« »Die kleine Wisp will uns 'nen Hornpipe tanzen und 'nen Saylorboy giebt sie zu!«

In diesem Augenblicke sprang der Matrose, welcher noch immer neben der Thür auf seinem Stuhle ritt, empor, und wenn ich einestheils meinen Augen kaum traute, erfüllte es mich andererseits mit einem Gefühl erleichternder Freude, als ich in dem schlanken Seemanne keinen Andern, als meinen Beschützer aus dem Irrenhause, den ernsten Tenuga erkannte.

»Den braven Theer will ich sehen,« rief er mit seinem hellen wohlklingenden Organ aus, »welcher ein Kind zwingen möchte, gegen seinen Willen 'nen Fuß aufzuheben!«

»Der Bursche hat Recht!« donnerte Wigham, und ein Dutzend Stimmen wiederholten enthusiastisch seine Worte, indem er aus dem Hintergrunde, eine Bahn schaffend, mitten in die Halle hineinrollte, »nicht 'nen Fuß soll sie auswärts stellen, bei allen fliegenden Holländern, welche jemals 'nem grünen Schiffsjungen das Haar zu Berge trieben.«

»Und sie soll tanzen und muß tanzen!« gellten die Bachantinnen, der bei weitem gefährlichste Theil der Versammlung, jetzt dazwischen, »sie ist nicht besser, als wir! Platz zum Reigen für die kleine Wisp! Platz, oder die Welt geht unter, bevor jemals wieder 'ne Prise Staub unter unsern Schuhsohlen emporwirbelt!«

»Halloh, Frau Wirthin!« rief Tenuga aus.

»Hol der Teufel ›Frau Wirthin‹, fiel diese selber ein, »und denjenigen dazu, der nicht weiß, daß hier 'n Fliegender Holländer am Steuerrad sitzt.«

»Nun ja denn, Fliegender Holländer!« begann Tenuga von Neuem zuversichtlich, und er warf ein Goldstück auf den Schanktisch, »'ne Bowle für die ganze Gesellschaft, und sollte es mich den letzten Schilling kosten, aber das Kind – und ein Kind ist's noch – geht unbelästigt von dannen!«

»Das ist 'n Wort!« brüllten die Männer, und hier und dort klirrte ein vor Entzücken an die Wand geschleudertes Glas in Scherben, »der Satan steckt in dem Maat mit seinen vernünftigen Vorschlägen! Platz für die kleine Wisp!«

Bis jetzt hatte es den Anschein, als sollten die durch Tenuga in's Leben gerufenen milderen Regungen den Sieg davontragen. Als aber Will o' the Wisp, vor Todesangst kaum noch fähig, sich aufrecht zu erhalten, an dem behaglich an den Thürpfosten lehnenden Irländer vorbei in die sich vor ihr öffnende Gasse schlüpfen wollte, trat ihr eine der mit Flittern und Zeugblumen entsetzlich geschmückten Bachantinnen entgegen.

»Damit der milchgesichtige Süßwassertheer das spröde Ding für sich allein behalte, wollt Ihr's frei geben?« gellte sie in scheußlichen Tönen, dem armen Kinde ein dampfendes Glas Grog reichend, »laßt die kleine Wisp zuvor trinken, dann tanzt sie unaufgefordert, und trinken soll sie und muß sie, und wäre ich gezwungen, mit meinem Leichnam –«

Schallendes Gelächter machte die Baracke förmlich erbeben. Tenuga hatte einen Schlag von unten gegen die das Glas umklammernde Hand der wüthenden Megäre geführt, daß dessen heißer Inhalt sich über ihr grellfarbig geschmücktes zottiges Haupt, ihr glühendes Antlitz und den ganzen Oberkörper ergoß.

»Falsch, Spiel! falsch, Spiel!« das war das Einzige, was die dem allgemeinen Gespött Preisgegebene hervorzubringen vermochte.

»Falsch, Spiel, und hier ist Jemand, der 's wieder klar legt!« brüllte ein baumstarker Matrose, die in Grog triefende Person zurückstoßend; dann aber die Hemdärmel von den reich tätowirten Armen zurückstreifend, trat er als deren Vertheidiger Tenuga gegenüber. »Heraus mit Dir, wer Du auch sein magst! Ich will Dein Gallion bearbeiten, daß es aussehen soll, als hätt' es zwölf Monate lang mit der Nase im Treibeis gewühlt!«

»Platz für 'n feines Stück Arbeit! Alle Hand ahoi!« jodelte das Spinnrad, seinen Lehnstuhl mit unglaublicher Gewandtheit zuerst auf derselben Stelle drehend und dann in wachsenden Kreisen herumrollend. »Klar zum Gefecht! und an die Zimmerdecke schleudern mögt Ihr mich, wie 'ne feuchte Häringsseele, wenn ich nicht Jedem den verdammten Schädel einschlage, der für den Einen oder für den Andern Partei nimmt!«

Ein unbeschreibliches höllisches Getöse begleitete diese, wie durch ein Sprachrohr hinausgebrüllten Worte. Mit einem an Beschämung streifenden Gefühl, nur als müßiger Zuschauer die Verteidigung der Unschuld zu beobachten, hatte ich mich dem Fenster noch etwas genähert. Wäre nicht durch die Vorbereitungen zu dem Faustkampfe die allgemeine Aufmerksamkeit in so hohem Grade gefesselt worden, man hätte mich entdecken müssen. Unter meinen Füßen lagen zerbrochene Mauersteine. Gleichsam unwillkürlich, hob ich einen derselben empor, um wenigstens nicht ganz unbewaffnet zu sein. Mein plötzliches Erscheinen auf dem Schauplatz zwischen den berauschten, zügellosen Gesellen aber wäre unfehlbar das Signal nicht nur zu meinem Verderben gewesen, sondern auch zur Vergewaltigung derjenigen, welchen ich meinen ohnmächtigen Beistand angetragen hätte. Ich konnte daher nur beobachten und lauschen.

Des Spinnrads Bemühungen war es unterdessen gelungen, einen Ring zu öffnen, in welchen die beiden Kämpfer alsbald eintraten. Der Matrose mit großsprecherischem, lärmendem Wesen, Tenuga dagegen zögernd, als hätte der bevorstehende Gang mit dem mauerfesten Burschen ihn mit Besorgniß erfüllt. Unruhig sah er nach der Thür hinüber, in welcher O'Cullen noch immer schadenfroh lehnte und Will o' the Wisp vergeblich auf Befreiung hoffte. Sein Blick traf die großen blauen Augen, ein leichtes Nicken seines Hauptes schien anzudeuten, daß die nächsten Minuten eine Flucht begünstigten, dann trat er vor seinen furchtbaren Gegner hin.

»Gebt das Zeichen,« rief er dem vor Entzücken laut aufjauchzenden Spinnrad zu; anstatt aber, wie der Matrose, die übliche Boxerstellung anzunehmen, ließ er die Arme schlaff niederhängen. Zugleich trat tiefe Stille ein. Nur in der Nähe des Schanktisches regte es sich leise, indem Will o' the Wisp, gewandt wie eine durch's Kraut schlüpfende Eidechse, sich zwischen den verschiedenen Gestalten hindurch der offenen Hausthür zuwand.

»Steht fest, Jungens!« donnerte Wigham nunmehr; »eins – zwei – drei.«

Der Matrose lehnte sich zurück, um seinem vernichtenden Stoße erhöhten Nachdruck zu verleihen. Doch kein Blitz zuckte je schneller aus eintönigem Gewölk zur Erde nieder, als bei dem Worte: »Drei!« Tenuga's Arme sich krümmten und seine beiden Fäuste fast gleichzeitig das Gesicht des Gegners trafen und ihn mit einem förmlichen Krachen zu Boden warfen.

Ein Ausruf des Erstaunens entfuhr allen Kehlen, als man, was Niemand erwartete, die an's Wunderbare grenzende Gewandtheit den Sieg über die Riesenkräfte eines der bekanntesten Raufbolde davontragen sah.

Was weiter folgte, entging mir; denn in demselben Augenblick, in welchem der plötzlich wieder losbrechende Lärm seinen höchsten Gipfel erreichte, der Fliegende Holländer aber und das Spinnrad sich auf's Aeußerste anstrengten, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen, bemerkte ich, wie ein todtbleiches Antlitz hinter mehreren, die Hausthür besetzt haltenden Matrosen flüchtig auftauchte und dann wieder verschwand.

Schnell sprang ich um die Giebelecke herum. »Wisp! Wisp!« kreischten die wüthenden Bachantinnen, »Will o' the Wisp!« brüllten vereinzelte Seemannsstimmen.

Will o' the Wisp aber schwebte wie ein Schatten über den freien Platz dem nach der Straße führenden Schleichwege zu, verfolgt von einem einzelnen Manne, welcher wahrscheinlich neben der Hausthüre nur auf ihr Heraustreten gewartet hatte.

Der erste flüchtige Blick auf die beiden in der Dunkelheit fast verschwimmenden Gestalten genügte mir. Unbekümmert um das wachsende Heulen und Brüllen hinter mir, unbekümmert darum, daß immer mehr Verfolger sich auf die Spuren der Entflohenen setzten, stürzte ich davon und ebenfalls dem finsteren Gange zu. Etwa hundert Schritte hatte ich in demselben zurückgelegt, als ich Will o' the Wisp einholte. Mit der Kraft der Verzweiflung suchte sie sich von dem trunkenen Verfolger zu befreien, welchem es gelungen war, während des Laufens ihr flatterndes Kleid zu erhaschen. Was ich dachte, was ich empfand, heute vermag ich mir keine Rechenschaft mehr darüber abzulegen. In meiner rechten Hand hielt ich noch immer den mehrere Pfund schweren Stein; wie durch einen Schleier hindurch sah ich die ohnmächtig ringende Unschuld, sah ich die unbarmherzige, thierische Rohheit, und kaum war ich in gleiche Höhe mit dem wild keuchenden Matrosen gelangt, da senkte sich meine bewehrte Hand mit einer solchen Gewalt gerade in dessen Gesicht, daß er, wie ein Stier unter der Wucht des tödtlichen Axthiebes, lautlos zusammenbrach. Wilde Befriedigung durchströmte mich bei diesem Erfolge; ob der schwer Getroffene nur betäubt worden oder nie wieder zum Leben erwachte, kümmerte mich in jener Minute nicht. Ich hatte nur Sinne dafür, daß Will o' the Wisp durch meine Dazwischenkunft befreit worden war, und ihr unaufhaltsam nacheilend, hegte ich die heimliche Hoffnung, daß eine kurze Unterredung dazu dienen würde, Näheres über das zwischen ihr und dem gewissenlosen Irländer bestehende Verhältniß zu erfahren.

»Will o' the Wisp,« rief ich mit gedämpfter Stimme, indem es vollen Laufs um Ecken und Winkel der Brettereinfassung herumging. Doch sie hörte nicht; deutlicher mochte sie dafür das Brüllen und Toben der uns Nachsetzenden unterscheiden, welche, nachdem sie sich von der Unbeweglichkeit ihres mit Blut überströmten Genossen überzeugt hatten, mit verdoppelter Wuth ihre Verfolgung wieder aufnahmen. Wie ein Schatten, welchen ich mit den Blicken nicht festzuhalten vermochte, verschwand sie und erschien sie wieder vor mir in dem gewundenen Wege, mit jedem Schritt den Zwischenraum zwischen uns vergrößernd, bis sie endlich durch die ihrem Druck leicht nachgebende Bretterpforte auf die Straße hinausschwebte, jene aber in ihrer Todesangst hinter sich zuwarf. Als ich gleich darauf ebenfalls auf die Straße hinaustrat, sah ich nur noch, wie sie, zu dem ihrer harrenden Boote niedersteigend, von dem Bollwerk verschlungen zu werden schien. Damit war mir die letzte Möglichkeit geraubt, mit ihr in Verbindung zu treten; hinter mir aber ertönten näher die Verwünschungen und Flüche der Verfolger, mich dadurch an meine eigene gefahrvolle Lage erinnernd. Nur in schleuniger Flucht mein Heil erkennend, wollte ich davonstürmen, als ich dicht vor mir Bechler entdeckte. Mich geduldig erwartend, hatte er sich an den Bretterzaun gelehnt. Seine Cigarre glühte, wie ein Cyclopenauge.

Schnell entschlossen riß ich ihn zu mir nach dem Bürgersteig hinauf, und seinen Arm unter den meinigen ziehend, zwang ich den Erstaunten, langsam mit mir an dem geöffneten Schleichwege vorüber zu schreiten. Nur Secunden nahmen diese Bewegungen in Anspruch; doch kaum hatte ich dem alten Freunde zugeflüstert, daß die äußerste Kaltblütigkeit allein mich retten könne, da stürmten schon vier oder fünf Stammgäste des Fliegenden Holländers uns durch die Pforte entgegen.

»Wo sind sie geblieben?« fragten alle zugleich, uns für verspätete friedliche Bürger haltend, aber in Wesen und Stimmen verriethen sie eine mit dem Schlimmsten drohende Entschlossenheit.

»Wer?« fragte ich so gleichmüthig, wie es mir unter Aufbietung meiner ganzen Kraft nur möglich.

»Goddam!« hieß es trotzig zurück, »Ihr habt doch Eure Augen im Kopfe? Hier aus diesem Thorwege müssen sie herausgekommen sein, ein Weibsbild und ein Mörder!«

Das Wort Mörder ergriff mich so gewaltig, daß ich kaum mit einer matten Armbewegung nach dem Strome hinüberzuweisen vermochte. Die nähere Erklärung wurde mir erspart durch das Geräusch, mit welchem ein Boot vor schnellen Ruderschlägen sich vom Bollwerk entfernte.

Wiederum ein fünffacher Fluch, und mein philanthropischer Freund und ich befanden uns allein. Die Stammgäste der Goldenen Harpune waren nach der Landungsstätte hinübergeeilt, wo sie dem auf dem dunkeln Wasserspiegel in der Ferne verschwindenden kleinen Fahrzeuge ihre grimmigsten Drohungen nachsandten.

»Das war ein knappes Entkommen,« flüsterte ich meinem biederen Gönner auf seine dringende Frage zu, und ohne unsere Bewegungen zu beschleunigen, entfernten wir uns immer weiter von der verhängnißvollen Stätte. Dann berichtete ich Alles, was ich während meines Verweilens in dem abgeschiedenen Reiche der Goldenen Harpune gesehen und erfahren hatte.

» Plenty für den Galgen reifes Gesindel auf dieser Seite des Oceans,« meinte Bechler erklärend, sobald ich eine Pause machte.

Ich sprach meine Befürchtung aus, durch den Schlag mit dem Steine Jemand lebensgefährlich verletzt zu haben.

» Plenty für den Galgen reifes Gesindel auf der anderen Seite des Oceans,« tröstete der professionirte Philanthrop sehr ernst. » Plenty, um jede hier entstandene Lücke jederzeit doppelt und dreifach wieder auszufüllen. Schade d'rum, daß Sie nicht einem halben Dutzend dieser Schurken den Schädel zersplitterten.«

Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück. Meine einsilbigen Antworten blieben nicht ohne Einfluß auf Bechler. Ersatz für den Mangel einer ihm zusagenden Unterhaltung suchte er darin, daß er rauchte und dampfte wie eine frisch angeheizte Locomotive. Ich selbst bedurfte derartiger Hülfsmittel nicht. Unbegreiflich erschien es mir, daß ich, der ich nie den Gebrauch einer Waffe kennen lernte, das Leben eines Mitmenschen in Frage gestellt haben könne. Ich gedachte meines ersten Versuches im Hause des nichtswürdigen Antiquars. Die Stirnwunde des biederen Carus Splint war gewiß längst vernarbt und wohl mehr eine Zierde für sein ritterliches Aeußere geworden. Die Wunden dagegen, welche ich selber in meinem verzweiflungsvollen Ringen ums Dasein, vielleicht auch nur Phantomen nachjagend, davontrug, die brauchten gewiß längere, weit längere Zeit, um zu vernarben und zu verharschen.

»Will o' the Wisp,« summte es mir noch lange in den Ohren, nachdem ich mich von der wandernden Cigarrenspitze, dem wunderlichen Bechler, verabschiedet hatte. Aengstlich suchte ich mir das holde Bild zu vergegenwärtigen. Es war vorübergerauscht auf Nimmerwiederkehr, zählte bereits zu allen andern, zu so vielen entschwundenen, lieblichen, in der Erinnerung süß und doch so schmerzlich wirkenden Träumen.


 << zurück weiter >>