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SIEBENTES CAPITEL. DER FREIBRIEF.

Wie lange ich in meiner Bewußtlosigkeit zugebracht hatte, ich ahnte es nicht. Das zurückkehrende Leben offenbarte sich zunächst in einem stechenden Gefühle der Kälte auf meiner Stirn, welchem sich wirre, beängstigende Träume anschlossen, und als ich dann endlich die Augen wieder aufschlug, meinte ich, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Von den beiden Schlägen, welche O'Cullen mit einer kurzen schweren Waffe nach mir führte, war mir nur eine dumpfe Erinnerung geblieben. Die Dunkelheit hatte die Sicherheit seiner Hand beeinträchtigt; denn anstatt meine Schläfe zu treffen, wie er ohne Zweifel beabsichtigte, waren die Schläge mitten auf den Kopf gefallen, wo sie durch die dicken Falten des zusammengepreßten Hutes erheblich abgeschwächt wurden. Ohne diesen glücklichen Umstand möchten sie auch dort wohl von tödtlichen Folgen begleitet gewesen sein.

Mein erster Blick traf in der lieblichen Will o' the Wisp schöne blauen Augen. Aengstlich gespannt, als hätte sie mit angehaltenem Athem auf eine Aeußerung von mir geharrt, schaute sie auf mich nieder. Ich mußte mich auf sie besinnen, mir in's Gedächtniß zurückrufen unsere letzte Zusammenkunft, um aus dem noch immer traumartigen Zustande gerissen zu werden. Dann aber reichte ich ihr die Hand, zugleich durch einen flüchtigen Blick mit der Umgebung mich vertraut machend.

Auf einem breiten, sauberen Bett lag ich in einem geräumigen Zimmer. Dasselbe war nach Art und Geschmack der Landbewohner eingerichtet; heller Sonnenschein fiel durch die beiden geöffneten Fenster. Hauchartig umfächelte mich die hereinströmende frische Luft. Mit sich führte sie den Duft von frischem Heu, Reseda und Levkoyen. Ein eigenthümliches wonniges Gefühl der Sicherheit, eine gewisse Befriedigung, wie nach vollendetem schwerem Tagewerk, bemächtigte sich meiner, als Will o' the Wisp zutraulich meine Hand hielt, jedoch noch immer sich scheute, das Schweigen zu brechen.

»Wo bin ich?« fragte ich nach kurzem Sinnen, »diese Stätte, ich kenne sie nicht –«

»Bei guten Menschen, bei Freunden, lieber Bruder,« beschwichtigte Will o' the Wisp schnell meine Besorgnisse.

Ich schloß die Augen, um meine Gedanken zu ordnen. Berauschend wirkten auf mich die freundliche Stimme und der zärtliche Name. Meine eigene Schwester war es ja, welche mich pflegte, deren Hände den Verband auf meinem Haupte erneuerten, die während meiner Bewußtlosigkeit treu an meinem Lager wachte.

»Die Schmerzen haben mich gänzlich verlassen,« beantwortete ich nach einem Weilchen die in den klaren blauen Augen sich ausprägende bange Frage, »eine kurze Rast noch, und ich werde im Stande sein, mich zu erheben. Mit dem körperlichen Befinden steht indessen nicht im Einklange der Zustand des Geistes. In meinem Kopfe schwirrt es; Besorgnisse mancher Art quälen mich. Wie wurde ich gefunden? Welche Ereignisse fanden statt, während die schwere Betäubung mich gefesselt hielt? Wer rettete mich und führte Dich zu mir? Und er – ich meine unsern Vater – Martha, vergeblich suche ich Alles zu enträthseln –«

Sanft legte Will o' the Wisp's Hand sich auf meine Stirne, und in einem Tone, welcher mir warm, gleichsam kräftigend zum Herzen drang, hob sie an:

»Jede heftige Gemüthsbewegung ist Dir untersagt worden, Bruder Wilibald, ich aber sitze hier, um darüber zu wachen, daß Du nicht gestört werdest. Deine Fragen, Dein ängstliches Streben nach Klarheit, Alles ist vorhergesehen worden, und um Dich jeder peinigenden und daher nachtheiligen Ungewißheit zu entreißen, wurde ich beauftragt, Dir über Alles Auskunft zu ertheilen. Ich schicke voraus: Nichts ereignete sich, wodurch Du schmerzlich berührt werden könntest.«

Dann nahm sie meine Hand zwischen ihre beiden Hände, und mit unbeschreiblich rührender Besorgniß mich betrachtend, gleichsam berechnend die Wirkung ihrer Mittheilungen, fuhr sie mit lieblicher Einfachheit fort:

»Reisende, geführt von meinem Freunde James, näherten sich gestern Abend dieser Colonie, als plötzlich ein schrecklicher Hülferuf aus dem Walde zu ihnen herüberschallte. Sie meinten sogar, eine bekannte Stimme zu unterscheiden, und bevor die Pferde noch standen, waren Alle vom Wagen gesprungen, und sich durch das Dickicht hindurch drängend, erreichten sie binnen kürzester Frist den Pfad, welchen wir Beide kurz zuvor gewandelt waren. Dann noch wenige Schritte und sie fanden Dich in anscheinend leblosem Zustande. Ob Du noch athmetest, nahmen sie nicht Zeit, zu ergründen; nur an Hülfe, an schnelle Hülfe dachten sie, und die konnte Dir im finstern Walde selbst nicht geboten werden, und unverzüglich begaben sie sich an's Werk, Dich hierher zu schaffen. Unter großen Anstrengungen hatten sie Dich eine kurze Strecke getragen, als O'Cullen sich vollen Laufs näherte. Auch er hatte den Angstschrei vernommen und wollte, ein Unglück befürchtend, zu Hülfe eilen – aber Du blickst so starr, Bruder Wilibald,« schaltete Will o' the Wisp besorgnißvoll ein und ihre schmale Hand legte sich wieder prüfend auf meine Stirn, »soll ich schweigen und das Uebrige zu einer geeigneteren Stunde Dir mittheilen?«

»Nein, nein,« entschied ich fast rauh, denn O'Cullens Verfahren gestattete ja keinen Zweifel mehr, daß er wirklich die Absicht gehabt hatte, mich zu tödten, und durch seine Hülfeleistung den Verdacht des Mordes von sich abzulenken suchte, »erzähle, Martha, ja erzähle,« fügte ich milder hinzu, »nur Spannung ist es, was mich vorübergehend erregte; jetzt bin ich gefaßt und bereit, Alles zu hören.«

Will o' the Wisp lächelte befangen und nahm ihre Erzählung alsbald wieder auf.

»Zufällig kannten die Reisenden O'Cullen,« tönte es mit wunderbarer Innigkeit von ihren Lippen, »allein sie kannten ihn nicht, wie ich ihn kenne. Sie würden sonst schwerlich gezögert haben, seinen mit so viel Bereitwilligkeit angebotenen Beistand anzunehmen. James Tucker wies ihn sogar mit harten Worten zurück. Aber O'Cullen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Du nicht mehr athmetest, nahm Dich auf seine Schultern, und als ob seine Last nicht schwerer, als ein Mohnblatt gewesen wäre, trug er Dich hierher, wo man auf der Reisenden Wunsch sogleich die besten Räume zu Deiner Aufnahme herrichtete und nach einem Arzt schickte. James Tucker dagegen, stets für mich bedacht, erklärte, mich herbeirufen zu wollen, und als die Reisenden Näheres über sein Ziel erfuhren, schloß der eine sich ihm an, während der andere die Wache bei Dir übernahm; aber fast mit Gewalt mußte er zuvor O'Cullen verdrängen, der nicht von Deiner Seite weichen wollte. O'Cullen blieb darauf nur noch so lange, bis Du wieder frei athmetest und der Arzt jede Gefahr für beseitigt erklärte; dann miethete er einen Wagen, und gleich nach Tagesanbruch, fast in demselben Augenblick, in welchem wir hier eintrafen, peitschte er wüthend auf die Pferde ein, die im Galopp mit ihm davon stürmten. Der hinterlistige Angriff auf Dich hatte ihn augenscheinlich furchtbar erbittert, und ich glaube, es wäre gerechter gewesen, ihn weniger unfreundlich zu behandeln. Seit seinem Aufbruch sind genau sechs Stunden verstrichen, und seit genau ebenso lange sitze ich hier bei Dir, Deine Athemzüge zählend, die allmählich so langsam und ruhig geworden sind, wie bei einem gesunden Menschen.«

»Und ich bin gesund,« betheuerte ich, des herzigen Kindes Hände drückend, und doch unter dem Eindruck, als ob mir Manches verschwiegen worden wäre, was mir ebenfalls anzuvertrauen der holdselig lächelnde Mund sich sehnte, »wenigstens so gesund, daß Mittheilungen, welcher Art sie auch sein mögen, nicht mehr nachtheilig auf mich einwirken. – Du sagtest, Jemand habe den ehrlichen James begleitet – der Vater liebt die Abgeschiedenheit – wie nahm er die Kunde auf von dem Unfall, welcher mich betroffen, oder scheute er sich, Diejenigen zu sehen, welche sie ihm überbrachten?«

»Er scheute sich nicht,« antwortete Will o' the Wisp, und das Lächeln um die frischen vollen Lippen erhielt einen noch sprechenderen Ausdruck innigen Entzückens, »er hatte sogar eine längere Unterredung mit dem Fremden, und Briefe durchblätterten sie gemeinschaftlich, und ein Goldstück betrachteten sie aufmerksam und ein Buch –«

»Gebunden in blaue Seide,« fiel ich auf dem Gipfel meines freudigen Erstaunens ein, indem ich mich hastig emporrichtete, »und ein Mädchen, schön, wie der junge Tag – Stella – selber überbrachte ihm Alles, und er weigert sich nicht länger –«

»Nein, er weigert sich nicht länger,« bestätigte Will o' the Wisp, als ich stockte, »es geht daraus hervor, daß er nach jener Unterredung mit fieberhafter Hast zur Eile trieb und uns selbst hierher begleitete. Ja, Wilibald, die Thränen, welche Dir in die Augen dringen, ich weiß, was sie bedeuten, und ich zögere nicht, Dir Alles, Alles zu sagen. Sieh diesen Stuhl hier neben mir; da hat unser Vater gesessen, die langen, langen Stunden, und keinen Blick von Deinem Antlitz gewendet. Hier saß er und hielt er Deine Hand, während Thräne auf Thräne in seinen weißen Bart hinabrollte. Ja, Bruder Wilibald, es geschah zum ersten Mal, daß ich ihn so weinen sah, und ich begriff, es war die Rinde, welche Kummer und Trübsal in den langen Jahren um sein Herz geschmiedet hatten, und die nunmehr schmolz und zerrann, um seiner unaussprechlichen Güte und Liebe wieder ihren ursprünglichen freien Spielraum zurückzugeben.«

»Hier weilt er, Martha?« rief ich unter dem gewaltigen Eindruck des Vernommenen laut aus, »hier in der Nähe, Martha, sprich –«

Da öffnete sich die Thür und in derselben erschien eine hoch aufgerichtete Gestalt mit weißen Locken und weißem Bart.

Ich vermochte nur, ihr meine Arme entgegen zu breiten. Was ich empfand, was den Schlag meines Herzens hemmte und dann wieder das Blut stürmisch durch die Adern jagte, es offenbarte sich gewiß verständlich in dem Ausdruck, mit welchem ich den Gatten jener armen, im Elend gestorbenen Martha Vater nannte, seine Hand an meine Lippen preßte und in ihm zugleich die einsame Schläferin auf dem Friedhofe des heimatlichen Dorfes begrüßte.

Freude und Schmerz, wie sind sie so nahe verwandt! In den Augen perlen Thränen; deutlich sprechen die Blicke, wo die Lippen schweigen. Es giebt Empfindungen, für welche die Sprache zu arm ist, und dennoch verstehen die Herzen einander. Doch wenn tiefe Wehmuth und freudige Regungen gleichsam um den Vorrang kämpfen, dann spricht gern aus ihnen hervor süße Hoffnung auf dauerndes, ungetrübtes Glück. Mag wetterleuchtendes Gewölk den Horizont noch immer umdüstern; wo der nächtliche Schleier zerreißt, da lächeln die Sterne dem vertrauensvoll zu ihnen aufschauenden Sterblichen zu, um allmählich erst wieder zu erblühen im verheißenden Morgenroth.

»Es werden der Erregungen zu viel,« meinte Will o' the Wisp, als ich endlich den Wunsch äußerte, auch Stella und ihren Begleiter, in welchem ich Tenuga errieth, zu begrüßen.

Doch ich beharrte auf meinen Entschuß. Will o' the Wisp begab sich daher zu ihnen nach dem ihnen eingeräumten Vorzimmer, während der Vater blieb und mir beim Ankleiden behülflich war. Nur einen leichten Schwindelanfall hatte ich noch zu bekämpfen; dann kehrte die gewohnte Sicherheit meiner Bewegungen zurück, und außer den wunden Stellen auf meinem Scheitel machten sich weitere Folgen des mörderischen Angriffs nicht mehr bemerklich. Im Begriff, an der Seite meines Vaters das Zimmer zu verlassen, unterschieden wir plötzlich eine geräuschvolle Bewegung, welche, vor dem Hause entstehend, sich schnell näherte und endlich in dem Vorzimmer auf Secunden verstummte. Unwillkürlich blieben wir stehen; mein Vater, seine Bewegungen nach den meinigen abmessend, ich dagegen, weil ich glaubte, eine Stimme erkannt zu haben, welche mich noch immer, trotz der veränderten Lage, mit Entsetzen erfüllte.

»Also hier treffe ich Dich, meine theure Stella,« brach Grub mit unverkennbarem Hohne alsbald wieder das kaum eingetretene Schweigen, »ei, ei, wie der Zufall spielt. Da muß eine Vergnügungsreise mich Dir und Deinem Entführer gerade in den Weg werfen! Welches Glück! Ich hörte von einem Erschlagenen und kehrte hier ein, um die näheren Umstände zu erfahren, und vergegenwärtige Dir meine Ueberraschung, als mein erster Blick auf Dein trautes Antlitz fällt. Nun, es ist kein Unglück. Du wirst selbstverständlich Deinen bisherigen Begleiter entlassen und Dich dafür mit der Deines alten Onkels begnügen.«

»Mr. Grub,« tönte Tenuga's ernste Stimme zu mir herein, und eine drohende Entschlossenheit lag in derselben, »ich muß Euch dringend bitten, in ehrerbietigerem Tone zu dieser jungen Dame zu sprechen, an welche Ihr am wenigsten Anrechte habt, welche sich auf verwandtschaftliche Verhältnisse begründen. Denn Stella wird da bleiben, wohin sie gehört, hier an meiner Seite, an der Seite desjenigen, welchem sie bereits vor vier Jahren als Gattin angetraut wurde.«

Wiederum eine kurze Pause. Wie die Enthüllung der ungeahnten Beziehungen Stella's zu Tenuga mich in namenloses Erstaunen versetzte, zugleich aber Alles klar legte, was bisher mir noch räthselhaft geblieben, so schien sie auf Grub wie ein vernichtender Schlag niederzufahren. Er vergegenwärtigte sich offenbar, daß das Vertrauen zwischen Ehegatten ein unbegrenztes, daher der vor ihm stehende junge Mann, welchen er anfänglich für einen als geheilt entlassenen Bewohner der Irrenanstalt hielt, vollständig in die Geheimnisse des Jesuitenhauses eingeweiht sein müsse. Doch nur weniger Secunden der Ueberlegung bedurfte er, um einen teuflischen Plan zu entwerfen, in dessen Ausführung es ihm gelingen mußte, nicht sowohl Stella von der Seite des jungen Fremden zu reißen und in ein Gewahrsam zurückzubringen, in welchem er sie nicht mehr zu fürchten brauchte, sondern auch ihre möglichen Aussagen öffentlich aller Glaubwürdigkeit zu entkleiden.

»Ihr führt eine seltsame Sprache,« hob er wieder an, und seine Stimme konnte mit einer vergifteten, in lebenswarmem Fleische wühlenden Klinge verglichen werden, »aber Ihr führt sie, ohne zu ahnen, auf welchem gefährlichen Boden Ihr Euch befindet. Doch bevor ich das letzte Mittel anwende, unternehme ich den Versuch einer gütlichen Ausgleichung, meine schöne Anaconda, wie Dich zu nennen ich als getreuer Onkel wohl wagen darf,« und noch giftiger und schneidender klang die Stimme des in allen Schauspielerkünsten so wunderbar erfahrenen Jesuiten; »höre also, meine Tochter, willst Du Deinen sauberen Begleiter jetzt Lügen strafen und Dich noch heute mit mir auf den Heimweg nach New-York begeben?«

»Nimmermehr, nein, nimmermehr!« rief Stella verzweiflungsvoll aus, indem sie Tenuga krampfhaft umschlang, denn sie mochte ahnen, zu welchem Mittel Grub nunmehr greifen würde. »Lieber den Tod, lieber Tod und Schmach –«

Grub unterbrach sie mit einem teuflischen Hohnlachen, und die Flurthür hastig aufreißend, rief er laut hinaus, daß auch die vor dem Hause versammelten Neugierigen es hörten:

»Pumpkin, verkünde allen in der Nähe weilenden Leuten, daß sie gebeten seien, auf einige Minuten hier einzutreten. An ihren gesunden Verstand will ich mich wenden, um ein Urtheil zu erlangen in einer Sache, in welcher man mir einerseits sträfliche Voreingenommenheit, andererseits zu große religiöse Strenge vorwerfen könnte. Herein, Ihr lieben Leute,« ermunterte er, als es sich von der Straße auf den Flur, von diesem aber in das Vorzimmer hereinzudrängen begann, »tretet näher, mit der gütigen Erlaubniß des Hauswirthes, wie es den freien Bürgern einer großen, ewig untheilbaren Republik« – mit diesen letzten Worten gewann er, wie durch Zauber, alle Gemüther für sich – »geziemt, und gestattet mir, Eurem Urtheil, Eurem gesunden Urtheil eine Sache zu unterbreiten, welche am besten keinen Aufschub erleidet. Ihr seht hier« – und zugleich den noch immer Nachdrängenden freien Weg gebend, wies er auf Stella, die bleich und ein wahres Bild des Jammers, nur noch durch den nicht minder entsetzten, jedoch entschlosseneren Tenuga aufrecht gehalten wurde. Ich selbst hatte leise die Thür geöffnet; ein einziger Blick genügte mir, die ganze Sachlage zu erfassen, mich zu überzeugen, daß die Stunde gekommen, von welcher Tenuga einst meinte, daß sie mir Gelegenheit bringe, ihm einen Gegendienst zu leisten, und ebenso schnell war ich entschlossen.

»Ihr seht diese schöne, junge Dame,« wiederholte der Jesuit zögernd und mit Nachdruck, um seinen Opfern die Qualen zu verlängern und sie vielleicht noch im letzten Augenblick zum Nachgeben zu zwingen. Bevor er weiter zu sprechen vermochte, legte ich meine Hand auf seine Schulter. Wenn aber irgend Etwas mich über das Rechtzeitige meines Auftretens hätte beruhigen, mich für meinen Eifer lohnen und zugleich ermuthigen können, so geschah dies, als bei meinem Erscheinen Stella's unbeschreiblich inniges ›Gott sei Dank‹ mein Ohr erreichte, Tenuga durch einen leuchtenden Blick mir seine Anerkennung zollte, Grub dagegen, sobald er sich mir zukehrte, einen Schritt zurückprallte und mich anstarrte, als habe er einen dem Grabe entstiegenen rächenden Geist vor sich zu sehen geglaubt. Seine Blicke hafteten auf meiner blutunterlaufenen Stirn; indem ihm selbst aber die Sprache versagte oder vielmehr er mit jesuitischer Gewandtheit vermied, durch unvorsichtige Worte sich eine Blöße zu geben, trat ringsum lautloses Schweigen ein.

»Mr. Grub, es überrascht Euch, mich wohlbehalten wiederzusehen,« redete ich ihn an, und der Ausdruck meiner Stimme war gewiß nicht frei von Spott. »allein Eure Schuld ist es nicht,« hier näherte ich meine Lippen seinem Ohr, »wenn O'Cullen mir nicht den Kopf zerschmetterte.«

»Was wollt Ihr? Wer seid Ihr? Ich kenne Euch nicht!« antwortete der Jesuit, mühsam heftige Entrüstung erheuchelnd.

»Meine Worte eignen sich vorläufig noch nicht für die Oeffentlichkeit,« versetzte ich bedachtsam, »wollt Ihr daher die Güte haben, mich in das Nebenzimmer zu begleiten –«

»Ich wüßte nicht, daß unser Verkehr die Oeffentlichkeit zu scheuen brauchte,« fiel Grub gefaßter ein, denn er ahnte nicht, welche Waffen mir gegen ihn zu Gebote standen.

»Wohlan, so urtheilt selber,« erwiderte ich mit wachsendem Siegesbewußtsein; »meine Ansichten begründen sich zunächst auf ein Gespräch zwischen drei geistlichen Herren, welchem ich, freilich durch eine Mauer geschieden, aber begünstigt durch ein Tapetenthürchen, beiwohnte. Dann auf ein Zwiegespräch, welches mir zu Häupten über das Tapetenthürchen fort zwischen zwei Personen geführt wurde, welche ich ungern laut nennen möchte. Seid Ihr mit diesen Gründen zufrieden?«

Einen Blick des unauslöschlichsten Hasses sandte Grub zu Stella hinüber, welche denselben ruhig aushielt; dann kehrte er sich mir zu, seine Worte augenscheinlich für die von ihm herbeigerufenen Zeugen berechnend.

»Die tollen Phantasieen eines dem Irrenhause Entsprungenen darf ich unmöglich als maßgebend für mich gelten lassen,« sprach er, »am wenigsten aber vermögen sie, mich in meinem durch die Landesgesetze beschützten Verfahren zu bestimmen. Diese junge Dame,« und auf Stella deutend, wendete er sich an die bereits unruhig werdenden Zeugen, als ich ihm wiederum hastig in's Wort fiel.

»Wollt Ihr mich in's Nebenzimmer begleiten?« rief ich drohend aus, »oder zieht Ihr vor, daß ich ein in blaue Seide gebundenes Skizzenbuch zusammen mit einzelnen, sich auf einen gewissen Indigo beziehenden Briefschaften herbeihole und den anwesenden Zeugen offenbare, wie ich auf die dringenden Empfehlungen eines Candidaten Leise bei meiner Ankunft auf dem amerikanischen Continente von einem blondhaarigen Pflanzer aufgenommen wurde? Ihr scheint zu zweifeln, Mr. Grub? Aber schaut um Euch: Dort steht mein Vater, der Urheber des geheimnißvollen Monogramms, welchen Ihr hindern wolltet, mit seinem Sohne zusammenzutreffen, und dort seht Ihr seine Tochter, meine Schwester, und Beide bereit, durch ihre Aussagen meine Worte zu bekräftigen.«

»Ihr müßt mit den bösen Mächten selber im Bunde stehen,« unterbrach mich der Jesuit mit einem wohlwollenden Lächeln, welches seltsam zu seiner Leichenfarbe und dem eigenthümlich zitternden Tone seiner Stimme contrastirte, »doch warum erklärtet Ihr das nicht gleich? Es hätte dann nie zu solchen Mißverständnissen kommen können, und noch weniger wäre mir eingefallen, die guten Leute hier zu bemühen. In der That,« und er kehrte sich den etwas enttäuscht darein schauenden Zeugen wieder zu, welche indessen freudiges Erstaunen über das den allgemeinen, irrlichtartigen Liebling betreffende, unerwartete glückliche Ereigniß an den Tag legten, »ich muß um Verzeihung bitten für meine Uebereilung, und innig danke ich dem Allmächtigen, welcher einem, wenn auch nicht sehr wesentlichen Unheil, vorbeugte.«

Dann nickte er Stella vertraulich zu, und mit einer leichten Verbeugung an meine Seite tretend, begleitete er mich in das Nebenzimmer. Auf einen Wink von ihm bat ich meinen Vater mit Will o' the Wisp zurückzubleiben. Auch die herbeigerufenen Zeugen verließen das Haus bereits wieder, und brauchten wir daher eine Störung nicht mehr zu befürchten.

Auf dem Tisch zu Häupten meines Bettes lagen die meinem Vater von Stella übergebenen Gegenstände. Das Skizzenbuch unten, auf demselben eine Anzahl offener, an Grub gerichteter Briefe, ein Goldstück und die Photographie des Schutzheiligen, welche ich, indem ich Grub vor den Tisch führte, denselben beifügte.

»Ich sehe, ich sehe,« nahm Grub in deutscher Sprache mir gleichsam das Wort von den Lippen, und er war wieder der vorsichtig überlegende Jesuit, »Erörterungen wären überflüssig; ebenso nutzlos, zu forschen, wie dieses in Ihren Besitz gelangte; ich errathe es sogar. Wir verstehen einander und das genügt. Ich frage Sie daher offen, welchen Preis fordern Sie für die Briefe – das Buch und die kleinen Andenken kümmern mich nicht weiter.«

»Sie sind unverkäuflich,« antwortete ich mit ruhiger Entschlossenheit, »dagegen bin ich gern bereit, mich zu verpflichten, nur da noch einmal Gebrauch von ihnen zu machen, wo es sich um mein persönliches Interesse handelt, und auch dort habe ich Ursache, schonend aufzutreten.«

»Sie beziehen sich auf Ihre europäischen Verhältnisse und möchten einen Druck auf gewisse Personen ausüben?«

»Lange genug war ich selbst Jesuitenzögling, um die Wirkung solcher Waffen nicht zu unterschätzen,« erwiderte ich spöttisch.

»Ihre Verpflichtung genügt mir nicht,« versetzte Grub kalt, »ich muß sichere Bürgschaft dafür haben, daß Personen, welche im übertriebenen Eifer für eine heilige Sache die Grenze des Erlaubten überschritten, ihren guten Willen nicht mit unwürdigem Unterwerfen unter eine kurzsichtige, weltliche Gerichtsbarkeit büßen. Solche Bürgschaften aber erkaufe ich gern mit einem hohen Preise. Wollen Sie Geld, so nennen Sie die Summe.«

»Blutgeld?« fragte ich ungeduldig, »wie hoch müßte ich greifen, um Das bezahlt zu erhalten, was ich in meinen Knabenjahren erduldete, um Das auszugleichen, was man während der kurzen Zeit meines Aufenthaltes auf diesem Continente an mir verbrach? Wodurch aber könnten die Seelenqualen der beiden jungen Leute in dem Nebenzimmer gesühnt, wie ihnen die langen Jahre vergeblichen Hoffens und Bangens ersetzt werden?«

»Ein geheimnißvolles Ereigniß,« bemerkte Grub sinnend, dann biß er sich auf die Unterlippe, daß eine Weile nachher die Spuren seiner Zähne noch sichtbar. »Doch kommen wir zum Schluß. Sie hegen offenbar große Theilnahme für Stella und deren – nun, ich will es glauben – für deren Gatten.

Zu den Zwecken, welche Sie in Ihrer Heimat verfolgen, sind diese Briefe überflüssig geworden; geeignetere Mittel bieten Ihnen Vater und Schwester. Uebergeben Sie mir daher die Briefschaften und nehmen Sie dafür einen rechtsgültigen Freibrief für Stella von mir entgegen.«

Ungern trennte ich mich von den schriftlichen Beweisen der Schuld des verbrecherischen Candidaten, außerdem überraschte mich das Entgegenkommen Grubs in so hohem Grade, daß ich neuen Verrath befürchtete. Ich erwog indessen, daß Stella, nachdem sie den von ihr gehegten Erwartungen nicht entsprochen hatte, werthlos für ihre bisherigen Gebieter geworden und man vielleicht willkommen hieß, sich ihrer auf eine ihr Schweigen sichernde Art entledigen zu können.

Nach kurzem Sinnen erklärte ich mich daher bereit, auf den Vorschlag einzugehen, zumal Grub, welcher ebenfalls die Auseinandersetzung zu beschleunigen wünschte, die Absicht kundgab, den Freibrief sogleich auszufertigen.

Und so geschah es.

Eine Viertelstunde später, da überreichte der Jesuit mir das Document, welches Stella und ihren Nachkommen unantastbare Freiheit sicherte, wogegen er die gefährlichen Briefe an sich nahm. Nur die Photographie behielt ich, wofür ich das Versprechen leistete, nicht als Kläger gegen O'Cullen aufzutreten. Letzteres that ich gern, indem ich mich der armen geknechteten Milly erinnerte; ich that es gern, indem ich erwog, daß gerade O'Cullen, freilich gegen seinen Willen und Vortheil, mich auf die Spuren des Urhebers des Monogramms führte.

Mit einem kühlen Abschiedsgruß entfernte sich Grub. Pumpkin, welcher so lange in einem einspannigen Miethswagen vor dem Hause auf- und abgefahren war, hielt an. Grub und der Holzschnitzer stiegen ein und gleich darauf waren sie meinen Blicken entschwunden. Ich sollte sie nie wiedersehen, nie wieder von ihnen hören. Die letzten Fesseln, welche mich an jene im Finstern waltende Mächten ketteten, sie waren gesprengt. Tief athmete ich auf im Bewußtsein meiner wiedergewonnenen unantastbaren Freiheit. Indem die Blicke sich aber in die Zukunft richteten, durchströmte mich süße Hoffnung. Freundliche, vom holdesten Zauber umwobene Bilder erstanden vor der regsam schaffenden Phantasie. Der Bann war gebrochen, ein zürnendes Geschick versöhnt. Eine gewisse Vermessenheit lag in der Zuversicht, mit welcher ich meinte, daß die mich blendenden Sonnenstrahlen eines neu erwachenden Glückes sich über Alle ergießen müßten, welche ich liebte, an welchen ich mit unerschütterlicher Treue, mit unverwelklicher, ewig gleicher Zuneigung hing. Für mich gab es keine drohende Ungewitter mehr; nicht mehr fürchtete ich den vom heiteren Himmel niederzuckenden Wetterstrahl, vor dessen Berührung das Eisen zerstäubt, die stolzesten Eichen zersplittern. –

Thränen des Glücks perlten in Stella's Augen, als ich ihr den Freibrief einhändigte. Selbst Tenuga's, oder vielmehr Henriquez' Blicke umflorten sich, als er mir die Hand drückte.

»Schwere, schwere Jahre waren es, welche wir verlebten,« sprach er. Ein schöner Dank lag in diesen einfachen, mir unvergeßlichen Worten. Wenn ich aber jemals meine Empfindungen aus übervollem Herzen aufrichtig in Wort und Blick offenbarte, so geschah es an jenem Tage, an welchem auch wir – und wohl auf Nimmerwiedersehen – von einander schieden.

Ein lieblicher Herbstabend senkte sich auf Wald und Flur, als ich den jungen Ehegatten noch eine Strecke das Geleite gab. Der Farmerwagen, welcher sie nach der bekanten Landungsstätte der Dampfboote bringen sollte, fuhr langsam voraus, um uns auf einem bestimmten Punkte zu erwarten. Ich ging zwischen Stella und Tenuga. Wir sprachen wenig, obwohl wir uns gegenseitig gewiß noch viel, recht viel zu sagen gehabt hätten. Das Scheiden, nachdem wir durch ein böses Verhängniß zusammengeführt worden waren, hatte etwas tief Schmerzliches. Unablässige Nachstellungen, Haß und Rachsucht charakterisirten unsere kurze Bekanntschaft; von keiner glücklichen Minute während unseres Hand in Handgehens wußten wir zu erzählen. – Jetzt erst, da unsere Wege sich trennten, waren wir berechtigt zu den schönsten Hoffnungen auf dauernden Seelenfrieden.

Keine glückliche Minute! Und dennoch, die Hand bebt mir, indem ich es niederschreibe; noch heute wallt das Blut mir wärmer zum Herzen, wenn ich jenes letzten Abends gedenke, wenn ich mir in's Gedächtniß zurückrufe die ersten Stunden meines Aufenthaltes in dem fremden Welttheil, den traumartigen Zustand, in welchem ein Flammenmeer des Entzückens –, doch hinweg, hinweg mit jenen Erinnerungen! Noch heute beuge ich mich ehrfurchtsvoll vor der Seelenstärke der farbigen Sclavin, beuge ich mich in Achtung vor dem in endlosem Mißgeschick geläuterten und erstarkten Charakter des freien Farbigen.

Eine kurze Strecke vor uns hielt der Wagen, als Tenuga plötzlich stehen blieb und sich Stella zukehrte.

»Es ist Zeit,« sprach er mit seiner gewöhnlichen ernsten Haltung, »nimm daher Abschied von unserem Freunde. Hier, wo kein Zwang mehr waltet, ist ein Mißverstehen treuer Herzensneigungen nicht zu befürchten.«

Er war einen Schritt zurückgetreten, da schlang Stella ihren Arm um meinen Hals. »Lebe wohl, Du mein geliebter, mein treuer Bruder,« sprach sie mit vor Wehmuth zitternder Stimme, indem sie mich innig küßte; »Du hast eine andere Schwester gefunden, welche auf Deinen Schutz rechnet, ich aber gehöre ganz Demjenigen, dessen ich bisher kaum in meinen Träumen zu gedenken wagte. Lebe wohl, und wenn in Deinen Träumen Dir mein Bild erscheint, dann glaube, ich sei es selber, die über Länder und Meere fort Dir meinen ewigen Dank, meine herzliche, aufrichtige Liebe zuträgt. Ich bin frei, Indigo, es sind die Lippen einer Freien, welche die Deinigen berühren,« endigte sie schluchzend. Dieser Gedanke schien sie zu überwältigen, denn noch einmal preßte sie mich krampfhaft an sich, einen letzten Kuß drückte sie auf meine Lippen, dann sich schnell abkehrend, ergriff sie Tenuga's Arm und mit beflügelten Schritten eilten sie dem harrenden Wagen zu. –

Längst war der Wagen in Nacht und Schatten verschwunden und nur noch gedämpft drang sein Rollen aus der Ferne zu mir herüber, da stand ich noch immer auf derselben Stelle. Um meine heißen Schläfen hauchte der Abendwind; ringsum in den Büschen flüsterte es. Ich meinte, es könne nicht anders sein, Stella müsse noch einmal vor mich hintreten. Schwer trennte ich mich von der Stätte, auf welcher ich glaubte, einen heißen Liebesgruß aus einem Zauberreich empfangen zu haben; langsam, sehr langsam wanderte ich der Colonie zu.

Das Licht des aufgehenden Mondes spielte mit den herbstlichen Nebelstreifen auf den Niederungen. Der nachtliebende Ziegenmelker war rege. Bald hier, bald dort ertönte sein melancholisches »Whip – poor – Will.«

»In – di – go!« klagte es auf der einen Seite im Dickicht.

»Will – o' th' – Wisp!« hallte es aufmunternd auf der andern.

Vergeblich bemühte ich mich, dem seltsamen Vogel den Namen ›Stella‹ abzulauschen. Nur ›Te – nu – ga‹ meinte ich zu unterscheiden, aber in so weiter, weiter Ferne, daß es mit dem Flüstern der gestorbenen Blätter und mit dem Singen der lustigen Baumgrillen zusammenfiel.

»In – di – go!« ertönte es wieder vor mir deutlich, klar und mit heller Nachtigallenstimme.

Ich blickte empor. Zwei Gestalten näherten sich mir. Silbern schimmerte das Lockenhaar der größeren im Mondlicht.

»Martha!« rief ich zurück.

Leises Rauschen von Gewändern, kindlich frohes Lachen, und an meinem Halse hing die zierliche Waldelfe, hing Will o' the Wisp, meine treu ergebene, freundliche Schwester Martha.


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