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V.

»Beerdigt?«

»Ja, beerdigt.«

»Wie ist es eigentlich geschehen, Golitzin?«

»Sie wissen doch, Pestel, daß Leutnant Saïkin die ›Russische Wahrheit‹ mit den übrigen Papieren in Verwahrung genommen hatte?«

»Ich weiß es: ich habe ihm selbst alles übergeben, als es bekannt wurde, daß die Verschwörung aufgedeckt ist, und ich jeden Augenblick auf eine Verhaftung gefaßt war. Wo hat er aber alles versteckt?«

»Er hatte es zunächst in seinem Hause zu Nemirow unter den Dielen versteckt, dann aber in ein Kopfkissen eingenäht und nach Tultschin gebracht. Er sagte: ›Tut damit, was ihr wollt; bei mir sind die Schriften schlecht aufgehoben: erstens fürchte ich Spione, und zweitens gibts bei mir im Hause zu viel Mäuse ...›«

»Die Mäuse fressen also die Russische Wahrheit. Ist es nicht eine Allegorie, Golitzin?«

»Ja, Pestel, es ist vielleicht eine Allegorie ...«

»Was haben Sie nun endlich beschlossen?«

»Wir wußten lange nicht, was wir anfangen sollten: die einen sagten ›Verbrennen‹, und die anderen: ›Darf man denn solche Papiere verbrennen? Man muß sie vergraben‹. Dabei blieb es. Doch wo? Wir wollten es zuerst auf dem Tultschiner Friedhof machen; es gibt aber dort zuviel Leute, und die Obrigkeit ist gar zu nahe. Wir verpackten also alles wieder, und brachten es ins Dorf Kirnassowka, das an der Baltaer Landstraße etwa 15 Werst von Tultschin liegt. Wir wollten es in einem Gemüsegarten oder im Felde verscharren. Doch auch das war nicht ungefährlich: die Bauern konnten es sehen, es für einen Schatz halten (sie suchen überall nach vergrabenen Schätzen), herausgraben und der Obrigkeit bringen. Wir überlegten uns hin und her und beschlossen, es außerhalb des Dorfes zu vergraben. Wir versammelten uns alle im jüdischen Wirtshause an der Dorfgrenze, zur Mitternachtsstunde, wie Kontrabandisten oder Falschmünzer; als der Jude mit seiner Jüdin zu Bett gegangen war, verschlossen wir uns in der Gaststube und verpackten die Papiere zuerst in eine bleierne Munitionskiste und dann in eine Holzkiste.«

»Es waren also zwei Särge, wie bei der Beerdigung hochstehender Persönlichkeiten?«

»Ja, so war es. Die Holzkiste war länglich und erinnerte an einen Kindersarg. Als wir den Deckel zunagelten, sah es ganz so aus, wie wenn man einen Sarg zunagelt. Zu Ihrer ›Russischen Wahrheit‹ habe ich noch den Murawjowschen Katechismus gelegt; für jeden Fall: wenn man sie einmal findet, soll man beides finden ...«

»So, so. Ich habe mich also mit Murawjow im Grabe vereinigt?«

»Ja, Pestel. Die Kiste war schwer, auf den Händen konnten wir sie nicht tragen, wir legten sie daher in einen Wagen und fuhren ins Feld. Wir nahmen Laternen mit, denn die Nacht war stockfinster. Es schneite ununterbrochen. Wir haben uns auch verirrt ... Kennen Sie die Gegend, Pestel?«

»Ja.«

»Die Stelle liegt links von der Landstraße etwa eine halbe Werst hinter den Fruchtgärten des Popen, am Flüßchen Kosjaricha. Eine Wildnis, wo nichts als Steppengras und Disteln wächst. Es heißt, daß an dieser Stelle einmal ein vornehmes polnisches Fräulein von Räubern ermordet wurde. Auf ihrem Grabe steht ein Kreuz. Die Bauern meiden die Stelle, denn das Fräulein soll allnächtlich aus dem Grabe steigen und herumspuken. In der Nähe des Kreuzes gruben wir ein Loch, das ganz wie ein Kindergrab aussah, und stellten die Kiste hinein; als wir sie mit Erde zudeckten und die ersten Schollen gegen den Deckel fielen, klang es ganz wie bei einer richtigen Beerdigung. Jemand bemerkte halb im Scherz: ›Man sollte eigentlich eine Seelenmesse abhalten: Schenke, Gott, ewige Ruhe der Seele deiner verstorbenen Magd!‹ Als wir das Grab zugeschüttet hatten, wurde es sofort ganz von Schnee verweht, so daß vom Grabe nichts mehr zu sehen war; nur das Kreuz ragt in der Nähe ...«

»Sind Sie ein Freund von Allegorien, Golitzin?«

»Nein, aber wie kann man ihrem Banne entgehen? Neben mir stand Oberleutnant Bobrischtschew-Puschkin. Als wir die Stelle verließen, entblößte er sein Haupt, bekreuzigte sich und drückte mir die Hand. Wir sprachen beide kein Wort, doch wir verstanden einander: wir gelobten uns, alles zu tun, damit die Tote dem Grabe entsteige ...«

»Wie jenes ermordete Fräulein?«

»Nein, sie soll nicht als Gespenst, sondern zu neuem Leben erwachen.«

»Da müssen Sie lange darauf warten.«

»Wenn es auch nicht so bald geschieht, einmal muß es doch kommen ... Wissen Sie noch, Pestel, wie es in der Schrift vom Senfkorn heißt: ›Welches das kleinste ist, unter allem Samen: wenn es aber auswächst, so ist es das größte unter dem Kohl‹? ...«

»Wieder eine Allegorie? ... Lassen wir es jetzt. Wir wollen lieber von anderen Dingen sprechen ...«

Sie saßen in Pestels Arbeitszimmer im Seitenflügel des leeren Palais zu Linzy, wo sie schon vor zweieinhalb Monaten zusammen waren. Fürst Valerian löste sein Versprechen, Pestel nach der Versammlung im Leschtschiner Lager zu besuchen, erst jetzt, in den letzten Novembertagen, ein.

Im Arbeitszimmer sah alles wie früher aus: die Großväter und Urgroßväter der Fürsten Sanguszko blickten noch immer von den dunklen Bildnissen starr und unfreundlich herab, und ihre Augen verfolgten einen jeden, der durch die Räume ging. Es roch noch immer nach Mäusen und Feuchtigkeit, und alles war noch ebenso traurig und einsam.

Die Lampe brannte trüb. Der Kamin war im Erlöschen. Draußen wütete ein Schneesturm; vor den Fenstern rasten wie bleiche Gespenster Schneewolken vorbei; die alten Bäume im Garten rauschten, stöhnten und schlugen verzweifelt mit den Ästen wie mit Armen.

Während Golitzin dem Heulen des Windes im Kamin lauschte, fiel ihm das Märchen vom heiligen Georg-Jurko ein, das ihm sein Kutscher, der alte Kosake Radjko, erzählte, als sie sich auf der Fahrt nach Linzy in der Steppe verirrten; sie wären beinahe erfroren, während um sie herum der Schneesturm heulte; vielleicht waren es auch Wölfe. Der heilige Georg-Jurko ist der Herr über die Wölfe; er schießt auf die Teufel und allen Höllenspuk mit Donnerpfeilen; die Wölfe helfen ihm dabei, indem sie die verwundeten Teufel auffressen. »Und wenn es nicht die Wölfe und die Donnerpfeile des heiligen Georgs gäbe, würden sich die Teufel derart vermehren, daß man vor ihnen das Himmelslicht nicht mehr sehen könnte.«

»Daß ich es nicht vergesse: ich habe hier noch einige Papiere,« sagte Pestel, aus einer Schublade ein Paket Papiere hervorholend. »Die kann ich auch ohne Beerdigung erledigen: ich werfe sie einfach ins Feuer!«

Er warf ein Papier nach dem anderen in den Kamin. In der erlöschenden Glut zuckten neue Flammen auf, und die bleichen Schneegespenster traten dicht vor die Fenster heran und blickten mit blinden Augen ins Zimmer. Der Wind heulte im Kamin wie eine Schar hungriger Wölfe. »Jurkos Wölfe fressen die toten Teufel,« sagte sich Golitzin. Wie einsam war es hier, wie traurig!

»Wollen Sie hier den ganzen Winter bleiben, Pestel?«

»Ja, den ganzen Winter.«

»Ist es Ihnen nicht zu einsam?«

»Nein, ich habe mich daran gewöhnt. Dieses Jahr haben wir Gott sei Dank frühen Winter. Wenn der Schnee uns von allen Seiten verweht, sind wir von der ganzen Welt abgeschnitten. Es ist mir immer dabei so wohl, so ruhig; ich werde wie ein Bär in der Höhle liegen, die Pfoten saugen, und nach dem Rate des Orakels Selbsterkenntnis treiben. Ich kann auch eine ›Neue Russische Wahrheit‹ verfassen: ich werde sie schreiben, und Sie werden sie begraben, und so wird das Leben langsam verrinnen ...«

Golitzin blickte ihn aufmerksam an: er war gesund und fieberfrei, schien aber noch mehr heruntergekommen, und sein Gesicht war ebenso unbeweglich und starr wie damals.

Das Gespräch stockte. Ein jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und wußte, daß auch der andere an das Seine dachte. Beide fühlten sich etwas befangen, wie zwei Verwundete in einem Bett, die sich zu bewegen fürchten, um nicht sich selbst und dem anderen weh zu tun.

Pestel fragte Golitzin ohne besonderes Interesse nach den Vorgängen im Leschtschiner Lager, nach der Vereinigung der Slawen mit dem Südbunde und dem Eid.

»Haben Sie auch geschworen, Golitzin?«

»Ja, ich habe auch geschworen.«

»Wozu der Schwur, wenn man es sowieso nicht tun kann?«

»Warum denn nicht?«

»Sie wissen ja selbst, daß man nicht den zweiten Schritt machen kann, ohne den ersten gemacht zu haben: solange der Kaiser am Leben ist, wird niemand anfangen ... Ich glaube, Golitzin, Sie haben wieder Eile? Wollen Sie nicht etwas länger bei mir bleiben?«

»Ich kann wirklich nicht, ich muß reisen.«

»Sie unruhiger Geist! Wo wollen Sie denn hin?«

»Nach Kiew ...«

Pestel sah ihn unverwandt an und schien etwas sagen zu wollen; er sagte aber nichts. Golitzin wurde verlegen. Beide schwiegen, beide waren auf der Hut. Beide fühlten sich geniert.

»Eines kann ich nicht begreifen,« sagte Pestel nach einer Pause, »warum verhaftet man uns nicht? Wir sitzen hier und zittern, vergraben und verbrennen unsere Papiere; vielleicht ist es aber gar nicht nötig ... Die Verschwörung ist ja seit drei Monaten aufgedeckt, es gab so viele Denunzianten: Sherwood, Witt, Maiboroda – Sie hatten recht, Golitzin, auch Maiboroda hat uns verraten –, und doch sind wir alle unversehrt, und niemand ist verhaftet. Worauf warten sie noch? Was denken sie sich? Ist es eine List, eine Falle, oder Wahnsinn? ... Wissen Sie noch, Golitzin: Sie haben mir gesagt, daß wenn ich zum Kaiser gehen, ihm alles beichten und ihn um Gnade anflehen wollte, es keine Gemeinheit, sondern Wahnsinn wäre ...«

Er kam nicht weiter, schwieg, schien an etwas anderes zu denken und sagte plötzlich:

»Der Kaiser war ja schwer krank?«

»Er ist noch jetzt krank.«

»Ich glaube, es geht ihm wieder besser?«

»Nein, sein Zustand hat sich verschlimmert.«

»Wirklich? Er wird aber doch sicher genesen. Es ist ja nur Fieber, nichts von Bedeutung ...«

Pestel warf das letzte Blatt ins Feuer; es verbrannte sofort; auch die Lampe brannte aus, denn das Öl ging zu Ende. Die schwarzen Schatten in den Ecken wurden noch schwärzer, die bleichen Gespenster vor den Fenstern noch bleicher.

Die Türe stand offen, und man konnte aus dem Arbeitszimmer in das große dunkle Nebenzimmer hineinsehen; man hörte jene Geräusche, die man nachts in jedem unbewohnten Hause hören kann: leises Flüstern, Wispern, Knistern, Knarren von Dielenbrettern, als ob jemand lauernd herumschliche.

»Das machen die Mäuse und das trockene Holz, das bei schlechtem Wetter knackt,« sagte Pestel, als Golitzin bei einem dieser Geräusche zusammenfuhr.

»Ssawenko sagt, es seien Gespenster, ich habe aber noch nichts davon gemerkt ... Die Türe lasse ich absichtlich offen: wenn sie zu ist, habe ich immer den Eindruck, daß jemand, ein Spion, oder ›Spigon‹ draußen horcht. Es kommt wohl daher, daß mein Gewissen nicht rein ist ...«

Die Lampe brannte immer trüber; die Flamme zitterte, zuckte zum letzten Male auf und erlosch. Das Zimmer wurde jetzt nur vom schwachen Widerschein des Kamines beleuchtet.

»Ssawenko! Wie oft habe ich dir gesagt, daß du die Lampe jeden Abend nachfüllen sollst!« rief Pestel ins Nebenzimmer. »Er hört nicht, der Schurke, jetzt kann man ihn wohl auch mit Kanonen nicht wecken ...«

»Hören Sie einmal, Pestel,« begann plötzlich Golitzin, als ob es ihm im Dunkeln leichter fiele, zu sprechen: »Ich habe Ihnen vorhin nicht die Wahrheit gesagt: ich reise gar nicht nach Kiew ...«

»Wohin denn?«

»Nach Taganrog.«

»Nach Taganrog? Zum Kaiser?«

»Ja, zum Kaiser.«

»Das ist es also!« Pestel schien nicht besonders erstaunt. Golitzin konnte sein Gesicht nicht sehen, er hörte aber seiner Stimme an, daß er lächelte.

Der Kurier, den Dibitsch im Auftrage des Kaisers geschickt hatte, konnte Golitzin lange Zeit nicht finden, denn dieser reiste immer herum und war bald in Tultschin, bald in Schitomir und bald in Kiew. Als er ihn endlich im Dorfe Kirnassowka traf, wollte er ihn nicht mehr loslassen und verlangte, daß er sofort mit ihm abreise. Juschnewskij bürgte aber für Golitzin, der Kurier reiste voraus und Golitzin sollte nachkommen; obwohl Linzy abseits vom Wege lag, wollte er sein Wort, das er Pestel gegeben, halten, und machte den Abstecher. Er hatte ja Pestel versprochen, ihn vor dem Beginn der großen Ereignisse noch einmal aufzusuchen; jetzt wußte er aber, daß der Anfang oder das Ende unvermeidlich war.

»Das ist es also! Nach Taganrog, zum Kaiser,« wiederholte Pestel mit dem gleichen Lächeln, »Warum haben Sie es mir nicht vorhin gesagt? Wir sind beide wirklich sonderbar: es ist, als ob wir Blindekuh spielten. Ich hab' es ja gewußt, Golitzin, daß Sie nach Taganrog reisen ...«

»Haben Sie es wirklich gewußt, Pestel?«

»Gewußt habe ich es eigentlich nicht, doch vorausgeahnt. Als ich Sie erwartete, habe ich nur daran gedacht. Wir haben ja damals unser Gespräch von der Gemeinheit oder vom Wahnsinn nicht beendet. Wir sollten es doch beenden, denn wir sind wirklich weder gemein noch wahnsinnig ... Wenn wir aber unbedingt eines von beiden sein müssen, so wäre der Wahnsinn immerhin besser ... Nicht wahr?«

Fürst Valerian schwieg und sah Pestel nicht an. Doch er fühlte seinen Blick schwer auf sich lasten.

»Ich will Ihnen Folgendes vorschlagen, Golitzin,« begann er mit veränderter Stimme, »wir wollen zusammen hinreisen ...«

»Zusammen? Wohin?«

»Nach Taganrog.«

»Wozu?«

»Wissen Sie es denn nicht?«

Golitzin wußte es, und plötzlich wurde es ihm so unheimlich zumute, wie in jenem Traum, auf den er sich in der letzten Zeit immer krampfhaft, doch vergeblich besinnen wollte; es war etwas von Sophie, dem Kaiser und davon, was ihn in den letzten Monaten so sehr gequält hatte: »Man muß töten; es muß es aber jemand anderes tun, denn ich kann es nicht ...«

»Sie haben mir damals gesagt,« fuhr Pestel fort, »daß wir beide quitt sind: wir wissen beide, was man tun soll, und können es beide nicht tun; folglich sind wir beide gemein. Sie haben es mir aber nur aus Mitleid gesagt; sich selbst würden Sie es wohl nicht sagen? Wollen wir davon nicht mehr sprechen; wollen wir nichts endgültig beschließen, – wir wollen nur zusammen hinreisen, sehen, was zu tun ist, versuchen ... Schlagen Sie es mir nicht ab, Golitzin, schlagen Sie es mir nicht ab!« wiederholte er drohend und flehend, und Golitzin fühlte seinen Blick immer schwerer auf sich lasten.

»Sie wollen nicht?« flüsterte er, mit seinem Gesicht beinahe das Gesicht Golitzins berührend.

– Wenn er mir jetzt gleich ins Gesicht spuckt, wird er Recht haben, – dachte Golitzin.

»Gut, reisen wir hin,« sagte er und fühlte sofort, daß er eben etwas Entscheidendes nicht nur gesagt, sondern auch vollbracht hatte: ganz gleich, ob er ihn töten würde oder nicht; es war, als ob er ihn bereits getötet hätte.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank! Ich wußte ja, daß Sie es mir nicht abschlagen werden,« atmete Pestel erleichtert auf.

Wieder trat Schweigen ein; man hörte nur das heulen im Kamin und das Knistern, Flüstern, Wispern und Knarren im Nebenzimmer, als ob jemand lauernd herumschliche. Sie hörten so deutlich Schritte, daß sie auffuhren: in der Türe stand eine weiße Gestalt; vielleicht war eines der bleichen Gespenster, die draußen vor den Fenstern vorbeirasten, ins Haus gekommen?

»Wer da? Wer da?« riefen beide aus.

»Sind Sie es, Pestel?« fragte französisch die Gestalt an der Türe.

»Daß dich der Teufel, mein Lieber! wie konntest du uns nur so erschrecken ... Ich habe schon geglaubt, es sei ein Gespenst!« erwiderte Pestel französisch und lachte.

Golitzin erkannte den Stabsrittmeister im Leibgardehusaren-Regiment, Fürst Alexander Iwanowitsch Barjatinskij, ein Mitglied der Tultschiner Sektion der Geheimen Gesellschaft.

Pestel war über die plötzliche Erscheinung des Gastes nicht im geringsten erstaunt. »Er kann sogar ein Glas Wasser nicht anders als mit Verschwörermiene austrinken,« pflegte er von Barjatinskij zu sagen. Barjatinskij, der Pestel oft in Linzy besuchte, stieg immer in einem anderen Seitenflügel des gleichen Hauses ab, zu dem er einen eigenen Schlüssel hatte. Er war soeben angelangt und kam so leise herein, um die Dienerschaft nicht zu wecken.

»Komm doch herein, leg ab. Du kommst sehr gelegen: ich wollte schon nach dir schicken ... Kennen sich die Herren? Fürst Valerian Michailowitsch Golitzin ...«

»Wir haben uns schon bei Juschnewskij kennen gelernt,« entgegnete Barjatinskij, Mütze, Pelz, Halstuch und Überschuhe ablegend; alles war so verschneit und weiß, daß man ihn wirklich für ein Gespenst halten konnte.

Barjatinskij war ein schöner junger Mann von etwas orientalischem Gesichtstypus. Er gehörte der besten Gesellschaft an, war Adjutant beim Oberbefehlshaber Graf Wittgenstein, Dichter, Mathematiker, Atheist und entschiedener Republikaner; sehr gutmütig und nicht sehr klug, Pestel war er so ergeben, daß, wenn dieser wirklich, wie es viele glaubten, Kaiser werden wollte, Barjatinskij auch dagegen nichts einzuwenden haben würde.

»Warum sitzen Sie im Finstern, meine Herren?« fragte er erstaunt.

»Die Lampe ist ausgegangen, und der Bursche schläft; ich kann ihn nicht mehr wecken. Es muß aber irgendwo eine Kerze stehen, schau einmal nach,« sagte Pestel.

Barjatinskij fand auf dem Tische eine Kerze, ging leise ins Vorzimmer, um den schlafenden Ssawenko nicht zu wecken, und zündete die Kerze am Nachtlicht an.

»Meine Herren, es gibt wichtige Neuigkeiten,« sagte er, ins Arbeitszimmer zurückkehrend. Er stotterte auch sonst – man nannte ihn »den Stotterer« ( le bègue) – jetzt stotterte er aber vor Aufregung ganz besonders und brachte nur mit großer Anstrengung hervor:

»Gestorben ... Der Kaiser ist gestorben ...«

»Was sagst du? Es kann nicht sein!« rief Pestel mit jenem Erstaunen aus, das die Nachricht von einem plötzlichen Todesfälle bei jedem Menschen hervorruft.

»Der Kaiser ist gestorben?« fragte er noch einmal mißtrauisch. »Ist es auch wahr? woher weißt du es?«

»Gestern abends um neun Uhr brachte ein Kurier von Dibitsch die Nachricht ins Stabsquartier.«

»Seltsam! Seltsam!« sagte Pestel leise und nachdenklich, »Wir haben ja eben von ihm gesprochen, und plötzlich ... Ist es nicht auch allegorisch, Golitzin?«

Golitzin gab ihm keine Antwort; er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und erbleichte. Endlich fiel ihm jener Traum ein, auf den er sich so lange nicht hatte besinnen können:

Dos Naryschkinsche Landhaus auf der Peterhofer Landstraße. Ein heiterer Morgen. Jene Stille, die nur im Frühjahr in entlegenen Landsitzen vorkommt; irgendwo zwitschert ein Vogel, ein Rechen scharrt im Sande, in der Ferne hört man Axthiebe; ein Fischer bessert wohl am Strande sein Boot aus. Ein gemütliches Zimmer, »ein richtiges Liebesnest – nid d'amour – für mein armes, armes Mädchen«, wie Maria Antonowna sagte. Die Balkontüre steht offen; der Duft des Frühlingsmorgens und der Birkenknospen vermengt sich im Krankenzimmer mit dem schweren Geruch der Arzneien. Er kniet vor Sophie; sie beugt sich über ihn und flüstert ihm ins Ohr:

»Weißt du, was mir neulich geträumt hat? ... Daß wir beide in dieses Zimmer traten, und daß auf meinem Bett jemand lag; sein Gesicht war nicht zu sehen, es war wie bei einer Leiche mit einem Tuch bedeckt. Du hattest aber ein Messer in der Hand und schlichst heran, als wolltest du den auf dem Bette Liegenden ermorden. Ich dachte mir: Vielleicht ist er tot? – Lebende darf man töten, aber einen Toten? Ich wollte dir etwas sagen, doch meine Stimme versagte. Ich hielt dich an der Hand fest. Du erzürntest, stießest mich zurück und stürztest dich mit dem Messer auf den Liegenden. Das Tuch glitt herab ... Da sahen wir beide, wer es war ...«

»Einen Toten töten ... Einen Toten töten!« flüsterte Golitzin vor sich hin. Er kam zu sich, hob langsam die Hand, – sie war schwer wie im Traume, – und bekreuzigte sich.

Barjatinskij lief aufgeregt im Zimmer auf und ab und erzählte stotternd, was er wußte.

Vorgestern hatten die Juden auf dem Markte in Tultschin vom Tode des Kaisers erzählt. Niemand wollte es ihnen glauben, alle fühlten aber, daß etwas Wichtiges geschehen sei; denn täglich passierten Tultschin mehrere Feldjäger auf dem Wege nach Warschau oder von Warschau. Endlich erhielt man im Stabsquartier die Nachricht von Dibitsch und den Befehl, die Regimenter auf Konstantin Pawlowitsch zu vereidigen. Dies war aber noch unbestimmt, denn es schwirrten Gerüchte, daß Konstantin auf den Thron verzichtet habe, und daß laut eines geheimen Testaments des Kaisers Großfürst Nikolai der rechtmäßige Thronerbe sei. Wenn das Militär auf Konstantin vereidigt werden würde, und der Eid später für nichtig erklärt werden müßte, so könne es ganz unabsehbare Folgen haben.

»Auf eine solche Gelegenheit hätten wir lange warten können,« schloß Barjatinskij seinen Bericht, »Wenn wir sie nicht ausnützen, sind wir gemeine Schufte! ...«

»Was glauben Sie, Golitzin?« fragte Pestel.

»Ich glaube, was ich immer geglaubt habe: daß man anfangen muß ...«

»Fangen wir also in Gottes Namen an!« sagte Pestel lächelnd; sein Gesicht erschien, wie jedesmal, wenn er lächelte, jünger und schöner. Als Golitzin ihn anblickte, fühlte er, daß die schwere Last, die ihn in den letzten Monaten so sehr bedrückt hatte, plötzlich von seinem Herzen gefallen war.

Sie überlegten sich, wie man es anfangen sollte, und beschlossen folgendes: Pestel und Barjatinskij sollten nach Tultschin gehen, um die Mitglieder der dortigen Sektion vorzubereiten; Golitzin nach Petersburg, um eine Vereinigung des Nordbundes mit dem Südbunde, die jetzt notwendiger als je war, herbeizuführen. Pestel war davon überzeugt, daß es in Petersburg zuerst losgehen werde.

»Sie fangen in Petersburg an, und wir hier: wir werden in Tultschin die Kasernen des Wjatkinschen Regiments besetzen, das Stabsquartier, den Stabschef und den Oberbefehlshaber verhaften, und dann kann es losgehen ...«

Die aufrührerischen Regimenter werden zuerst nach Kiew und von dort aus nach Moskau und Petersburg marschieren. Nach den ersten Erfolgen des Aufstandes werden der Synod und der Senat, falls sie es nicht gutwillig tun, gezwungen werden, zwei Manifeste zu erlassen: das erste Manifest sollte vom Synod ausgehen und die Bevölkerung auffordern, einer provisorischen, aus den Direktoren der Geheimen Gesellschaft bestehenden Regierung den Eid zu leisten; das andere Manifest, vom Senat, sollte die Republik proklamieren.

Sie sprachen die ganze Nacht hindurch. Gegen Morgen hatte sich der Schneesturm gelegt, die Sonne ging heiter auf. Die vereisten Fenster wurden zuerst blau, dann rosa; die ersten Sonnenstrahlen funkelten in den Eisblumen, und Golitzin erinnerte sich, wie er in der Versammlung bei Rylejew Pestels Gedanken mit Eiskristallen, die im Mondlicht flammen, verglichen hatte: werden sie jetzt vielleicht nicht mehr im toten Mondlichte, sondern im lebendigen Sonnenlichte aufflammen?

Im Vorzimmer machte sich schon der Bursche zu schaffen: er heizte den Ofen und bereitete den Samowar.

»Wollen Sie Tee?« schlug Pestel vor.

»Eigentlich sollte man bei einer solchen Gelegenheit Champagner trinken,« sagte Barjatinskij. »Du, Ssawenko, geh mal hinüber und hole aus meinem Schlitten den Sack mit den Flaschen.«

Ssawenko brachte zwei Flaschen. Sie schenkten sich Champagner ein. Barjatinskij wollte einen Toast ausbringen:

»Für die ... die ...« begann er zu stottern; er wollte sagen: Für die Freiheit.

»Lassen Sie es,« unterbrach ihn Golitzin. »Wir werden es doch nicht aussprechen können; wir wollen lieber schweigend unsere Gläser leeren ...«

»Ja, schweigend!« stimmte ihm Pestel zu.

Sie erhoben die Gläser und stießen schweigend an.

Als sie ausgetrunken hatten, fühlte Golitzin, daß sie schon vorher, als sie von den Plänen für die nächste Zukunft sprachen, auch ohne Wein berauscht waren; vielleicht war ihnen alles auch aus dem Grunde so leicht erschienen, weil sie im Rausche sprachen? Er sagte sich: »Im Weine liegt die Wahrheit; und in unserem Weine – ewige Wahrheit.«

Die Sonnenstrahlen funkelten in den Fensterscheiben wie goldener Wein in Eiskristallen. Er wußte aber, daß der Wintertag kurz ist und daß der goldene Wein sich bald in rotes Blut verwandeln mußte.

»Der Wagen steht vor der Türe, Durchlaucht,« meldete Ssawenko.

Fürst Valerian nahm Abschied. Pestel führte ihn auf die Seite und sagte:

»Wissen Sie noch, wie Sie mir aus dem Evangelium vorgelesen haben: ›Ein Weib, wenn sie gebietet, so hat sie Traurigkeit; denn ihre Stunde ist kommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denket sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen.‹ Unsere Stunde ist gekommen. Ich betrüge mich nicht: vielleicht ist alles, was wir eben gesprochen haben, Unsinn; vielleicht werden wir alle untergehen, ohne etwas erreicht zu haben ... Und doch wird es eine große Freude geben!«

»Ja, Pestel, es wird eine Freude geben!« antwortete Golitzin.

Pestel lächelte, umarmte ihn und küßte ihn.

»Also mit Gott, mit Gott!«

Er holte etwas aus seiner Schatulle und drückte es Golitzin in die Hand.

»Sie kennen meine Schwester nicht, ich möchte aber, daß wenn Sie an mich denken, Sie auch ihrer gedenken ...«

Es war eine kleine gestrickte Börse aus blauer Wolle, auf der mit weißen Perlen gestickt war: »Sophie.«

Alle traten auf den Hausflur.

»Sie gehen also direkt nach Petersburg, Golitzin?« fragte Barjatinskij.

»Ja, nach Petersburg; ich werde noch einen Abstecher nach. Wassilkow zu Murawjow machen. Nach Petersburg komme ich aber jedenfalls vor dem 14. Dezember.«

»Heute ist die erste Schlittenbahn, gnädiger Herr! Euer Gnaden sollten mir ein Trinkgeld geben,« sagte der Kutscher.

Pestel umarmte Golitzin zum letzten Male.

»Mit Gott, mit Gott!«

Golitzin setzte sich in den Schlitten.

»Fertig?«

»Fertig, mit Gott!«

Die Pferde zogen an, die Kufen knirschten, die Schellen schrillten, der Kutscher pfiff und schwang die Peitsche.

Die Troika glitt über den Schnee dahin, auf der noch unbefahrenen Bahn zwei weiche Furchen zurücklassend. Der lautlose Lauf des Schlittens war wie ein rasender Flug, und die frostige und sonnige Luft berauschte wie goldener Wein.

Fürst Valerian nahm den Hut ab und bekreuzigte sich. Er dachte an die bevorstehende große Freude und große Trauer.

»Mit Gott! Mit Gott!«

 

Ende.

* * *


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