Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.

»Schenke, Gott, ewige Ruhe der Seele deines verstorbenen Knechtes, des frömmsten Kaisers Alexander des Ersten!« sang man über der Leiche, und niemand wunderte sich, daß man den Zaren einen Knecht nannte.

Sorgfältig gewaschen und frisiert, mit reiner Wäsche und weißem Schlafrock bekleidet, lag er auf dem schmalen eisernen Feldbett im gleichen Zimmer, wo er gestorben war. Zu Häupten stand das Bild des Heilands, zu Füßen ein Betpult mit dem Evangelium. Vier Kerzen brannten mit ebenso trüber Flamme, wie vor einem Monat die Kerzen auf seinem Tisch, als er die Denkschrift der Geheimen Gesellschaft las. In den schrägen Sonnenstrahlen (das Wetter hatte sich inzwischen aufgeheitert) wirbelten blaue Weihrauchwolken.

Der Unterkiefer des Verstorbenen war noch immer festgebunden, damit sich sein Mund nicht öffnete; die Kaiserin hatte das Tuch sorgfältig und fest verknüpft, und auf dem Scheitel ragten zwei weiße Enden. Das Gesicht schien jünger und schöner und hatte einen solchen Ausdruck, als ob er etwas vollbracht hätte, was er vollbringen mußte, und als ob es ihm nun sehr wohl wäre. – »Alles ist gut und wird es in alle Ewigkeit bleiben.«

Der ersten Seelenmesse wohnte auch die Kaiserin bei; sie weinte noch immer nicht, und ihr Gesicht drückte ebensolche Ruhe aus, wie das Gesicht des Verstorbenen.

Am nächsten Tag, Freitag, den 20. November, um 7 Uhr abends, wurde in Gegenwart des Generalstabschefs Dibitsch und des Generaladjutanten Tschernyschow von neun Ärzten, darunter Wyllié, Stoffregen und Tarassow, die Sektion der Leiche vorgenommen.

Die Ärzte fanden, daß das Gehirn auf der linken Seite, gerade an der Stelle, wo der Kaiser Schmerzen gehabt hatte, schwarz geworden war. Im Protokoll hieß es: »Als die Schädeldecke abgesägt wurde, kamen von der Nackenseite zwei Unzen venöses Blut heraus; als man das Gehirn herausnahm, fand man in der Gehirnschale etwa zwei Unzen durchsichtiges Blutserum (serositas). Diese anatomische Untersuchung beweist, daß unser erhabener Monarch an einer akuten Krankheit litt, die zuerst die Leber und die anderen zur Sekretion der Galle dienenden Organe betroffen hatte; dieses innere Leiden führte allmählich zu einem heftigen hitzigen Fieber und zu einer Gehirnentzündung, die als Todesursache Seiner Kaiserlichen Majestät anzusehen ist.«

Die Leiche mußte nach Petersburg verbracht werden; damit sie diese etwa zweitausend Werst weite Reise überstehen konnte, sollte sie einbalsamiert werden. Dibitsch betraute mit dieser Arbeit den Leibchirurgen Tarassow; als er es aber »aus kindlicher Liebe und Ehrfurcht vor dem verstorbenen Kaiser« ablehnte, wurden mit der Arbeit die Hofärzte Dobbert und Reinhold betraut.

Mit der Einbalsamierung begann man gleich nach der Sektion im Sterbezimmer. Die Ärzte hatten den Befehl, die Arbeit in einer Nacht zu beendigen.

Gegen zwei Uhr nachts schickte Dibitsch seinen Adjutanten, den jungen Stabsoffizier Nikolai Iwanowitsch Schönig, ins Palais, um zu sehen, wie die Arbeit vorwärts schreite.

Schönig traf im Palais niemand außer einem Kosakenoffizier, der vor dem Eingang Wache stand. Die Kaiserin war für die Zeit der Einbalsamierung und Aufbahrung der Leiche ins Nebenhaus, das einem gewissen Schichmatow gehörte, umgezogen.

Schönig ging durch eine Reihe leerer und finsterer Räume und klopfte an die Türe des kaiserlichen Arbeitszimmers. Die Türe war von innen verschlossen. Man fragte, wer er sei und was er wolle, und ließ ihn endlich herein.

Ein schwerer Geruch von Arzneien, aromatischen Kräutern, Essig und Weingeist schlug ihm entgegen; er spürte noch einen anderen eigentümlichen Geruch, und begriff erst später, daß es Leichengeruch war. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Küchentisch; um ihn herum machten sich mehrere Männer mit blutbefleckten Schürzen zu schaffen; etwas Langes und Weißes lag auf dem Tisch. Er wußte, was es war, und wollte nicht hinsehen. Er kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an und wandte sich an die Hofärzte Reinhold und Dobbert. Sie saßen vor dem Kaminfeuer und kochten etwas in zwei Töpfen; sie rührten die Flüssigkeit mit Zinnlöffeln und nahmen den Schaum ab. Beide rauchten Zigarren. Reinhold war hager und lang, Dobbert klein und dick. Im roten Scheine des Kaminfeuers sahen sie wie zwei Zauberer aus, die irgendeinen Hexentrank bereiten.

»Ich habe die Ehre, im Auftrage Seiner Exzellenz des Herrn Generals Dibitsch anzufragen, wie die Einbalsamierung des Leichnams des hochseligen Kaisers vor sich geht,« fragte Schönig.

Reinhold gab keine Antwort und fuhr fort, zu rühren; Dobbert nahm die Zigarre mit dem Daumen und dem Mittelfinger aus dem Mund – seine Hände waren beschmutzt – und blickte Schönig mürrisch unter der Brille hervor an.

»Wie die Einbalsamierung vor sich geht? Wollen Sie doch selbst hinsehen.« Er wies auf den Tisch, wo das Lange und Weiße lag.

Schönig stellte sich so, als ob er hinsähe, schloß die Augen und senkte den Kopf.

»Verstehen Sie deutsch?«

»Jawohl.«

»Sehen Sie also, Herr Offizier, General Dibitsch verlangt von uns, daß wir es in einer Nacht fertig machen: ein, zwei, drei – wie in der Front. Dies ist aber ganz unmöglich und widerspricht allen Anforderungen der Wissenschaft. Das Einbalsamieren ist eine schwierige Sache: um es ordentlich zu machen, muß man die ganze Leiche für einige Tage in Spiritus legen. Wo nehmen wir aber das notwendige Quantum Spiritus her? – Schlechten russischen Schnaps gibt es in Fülle, guten Spiritus können wir aber gar nicht bekommen, von den anderen Drogen gar nicht zu reden. Wir können hier überhaupt nichts bekommen, nicht einmal reine Leintücher und Handtücher. Im Palais ist kein Mensch: alle sind davongelaufen. Gestern zitterten sie noch alle vor seinem Blick; kaum hat er aber die Augen geschlossen, so haben sie ihn alle verlassen ...«

»Russische Schweine!« sagte Reinhold durch die Zähne und sog wie wütend an seinem stinkenden Zigarrenstummel.

»Ich will es unverzüglich Seiner Exzellenz melden,« sagte Schönig. Er wollte sich entfernen, denn der Leichengeruch benahm ihm den Atem.

»Nein, warten Sie noch, wollen Sie es sich nur selbst ansehen.«

Dobbert nahm Schönig beim Arm und führte ihn zum Tisch. Schönig mußte also sehen, was er nicht sehen wollte: den schamlos entblößten Leichnam des Kaisers. Die abgesägte Schädeldecke war schon wieder an ihrer Stelle befestigt; da die Kopfhaut beim Zusammennähen gespannt wurde, schien der Gesichtsausdruck etwas verändert; Schönig erkannte sofort den Kaiser, wollte aber nicht glauben, daß er es wirklich sei.

Dobbert hielt ihm einen gelehrten Vortrag über das Einbalsamieren. Bei der Sektion hatte man das Herz, das Gehirn und die übrigen inneren Organe herausgenommen und in eine verschließbare runde, silberne Dose, die ganz wie eine Zuckerdose aussah, getan. Dobbert drehte den kleinen Schlüssel um und reichte ihn Schönig, damit er ihn General Dibitsch überbringe.

»Der Schlüssel zum Herzen Seiner Majestät,« scherzte er. Er sah aber sofort das Unpassende dieser Bemerkung ein, wurde wieder ernst und fuhr in seinem Vortrag fort.

Nach der Entfernung der Eingeweide schnitt man alle Fleischteile heraus, stopfte in die dadurch entstandenen Höhlungen aromatische Kräuter, – die eben auf dem Kaminfeuer kochten, – und umwickelte die Gliedmaßen mit breiten Leinenbändern, wie mit Windeln.

Als Dobbert und Schönig an den Tisch traten, hielten die Feldscherer, die an der Leiche hantierten, in ihrer Arbeit inne.

»Etwas schneller, meine Herren!« schrie sie Dobbert an. »Du, Wassiljew, ziehe die Bänder fester zusammen: zweitausend Werst sind doch keine Kleinigkeit für eine Leiche!«

Die Feldscherer machten sich wieder an die Arbeit und umwickelten die Leiche mit den Windeln.

»Sehen Sie doch nur hin, wie schön der Körper ist!« sagte Dobbert.

»Ja, der Verstorbene war ein schöner, kräftiger Mann,« bemerkte Reinhold, ebenfalls an den Tisch tretend: »gebaut wie ein Athlet; wenn nicht dieses dumme Fieber gewesen wäre, hätte er noch gut vierzig Jahre leben können.«

»Ich habe noch nie einen so schön gebauten Menschen gesehen,« fuhr Dobbert fort: »Arme, Beine und alle Teile des Körpers könnten einem Bildhauer als Modell dienen. Und die Haut! Sie ist zart wie bei einem jungen Mädchen!«

Als Schönig länger hinsah, verflüchtigte sich das unheimliche Gefühl: der nackte, sauber gewaschene Leichnam flößte ihm durchaus kein Grauen ein; lebende Menschen in schmutziger Kleidung mit unruhigen Gesichtern sind oft viel grauenvoller.

Beim Umwenden der Leiche war eine Hand vom Tisch herabgeglitten; sie hing kraftlos herunter. Als Schönig die Hand sah, erinnerte er sich, wie er einmal den Kaiser bei einer Parade vor der Front vorbeireiten sah; als die dreißigtausend Soldaten begeistert »Hurra!« schrien, führte der Kaiser die Hand an den Hutrand, wobei er bezaubernd lächelte. Mit welcher Liebe blickte damals Schönig auf diese Hand, wie gerne würde er ihrem Winke folgen, wenn sie ihn und alle in den Tod schicken würde! Und nun war diese Hand tot ...

Tränen traten ihm in die Augen. Er verabschiedete sich schnell von den Ärzten und verließ das Zimmer.

Im finsteren Vorzimmer blieb er in einer Ecke stehen, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und begann zu weinen. Er weinte nicht vor Gram und nicht, weil ihm der Verstorbene leid tat, sondern vor Rührung, Verzückung, Verliebtheit.

Niemand von den Höflingen kannte das Zeremoniell, nach dem die Kaiser beerdigt werden. Zum Glück fand man unter den Papieren des Verstorbenen das Zeremoniell, das für die Beerdigung der Kaiserin Katharina II. verfaßt worden war; der Kaiser hatte es vor seiner Abreise nach Taganrog aus dem Hofmeisteramt heimlich mitgenommen. Glaubte er, daß die Kaiserin in Taganrog sterben werde, oder ahnte er seinen eigenen Tod voraus?

Im großen Audienzsaal, der mit schwarzem Tuch ausgeschlagen worden war, richtete man einen hohen Katafalk auf, zu dem wie zu einem Thron Stufen hinaufführten, und stellte darauf den Sarg. Der innere Sarg war aus Blei: da man nicht genügend Blei auftreiben konnte, machte man ihn aus den Bleiblechen, die der Verstorbene zur Ausbesserung des Daches angeschafft hatte: das Dach des Hauses diente ihm nun als letztes Obdach; der Außensarg war aus Eichenholz, mit Goldbrokat, dessen Muster aus Doppeladlern bestand, ausgeschlagen.

Nach der Einbalsamierung kleidete man die Leiche in die Galauniform eines Generals mit dem Stern des Andreasordens und den übrigen Ordenszeichen im Knopfloch, doch ohne Ordensband und Degen; auf die Schultern legte man den purpurnen Kaisermantel und auf das Haupt setzte man die Kaiserkrone. So angekleidet wurde die Leiche in den Sarg gelegt und mit Tüll bedeckt.

Tag und Nacht hielten am Sarge ein General, ein Stabsoffizier und zwei Oberoffiziere vom Donischen Leibgarde-Kosakenregiment mit bloßen Degen Wache. Geistliche lasen ununterbrochen das Evangelium. Jeden Morgen und jeden Abend wurden Seelenmessen vom Bischof von Jekaterinoslaw im Beisein des Archimandriten des griechischen Barbatius-Klosters und der übrigen Geistlichkeit abgehalten.

Nach jeder Messe führte Hofmarschall Fürst Wolkonskij alle bis auf den Geistlichen und zwei Offiziere, die unbeweglich mit gesenkten Blicken stehen mußten, hinaus. In den Saal kam dann die Kaiserin in Trauerkleidern und schwarzem Schleier vor dem Gesicht, unhörbar wie ein Schatten; sie stieg die Stufen zum Katafalk hinauf, betete und küßte den Verstorbenen durch die Tülldecke hindurch. In den wenigen Tagen war sie so abgemagert und heruntergekommen, daß ihr lebendiges über die Leiche gebeugtes Gesicht toter als das Gesicht des Toten erschien.

In diesen Tagen schrieb sie ihrer Mutter, der Herzogin von Baden:

»Ich schreibe, nur um Ihnen zu sagen, daß ich noch lebe; doch ich kann nicht beschreiben, was ich jetzt empfinde. Zuweilen scheint es mir, daß mein Glaube an Gott nicht mehr lange halten kann. Ich sehe nichts, ich begreife nichts und weiß nicht, ob nicht doch alles ein Traum ist. Ich bleibe hier, solange er hier bleibt. Wenn man ihn wegführt, werde ich ihm folgen, ich weiß noch nicht wann und wohin. Beunruhigen Sie sich nicht: ich bin gesund. Und wenn sich Gott meiner erbarmen wollte und mich zu sich nähme, würde es für Sie, liebes Mütterchen, nicht einen allzu harten Schlag bedeuten? Ich weiß, daß ich nicht um ihn, sondern nur um mich selbst trauere; ich weiß, daß er es jetzt gut hat; doch dieses Bewußtsein kann mir nicht helfen; nichts kann mir helfen. Ich bete zu Gott um Hilfe; ich verstehe aber wohl nicht richtig zu beten ...«

Als sie aus dem Schichmatowschen Hause wieder ins Palais zog, überfiel sie solcher Gram, daß sie glaubte, sie werde es nicht ertragen können und wahnsinnig werden. Sie ging durch die Zimmer, wie sie am ersten Tage nach ihrer Ankunft an seiner Seite durch die Zimmer gegangen war: »Gefällt es Ihnen hier, Lise, gefällt es Ihnen wirklich? Ich habe ja alles selbst eingerichtet und immer Angst gehabt, daß es Ihnen nicht gefällt.« Da stand ihr liebes altes Sofa aus Zarskoje-Ssjelo, auf dem sie Seite an Seite gesessen hatten: »Nun sind wir zusammen, Lise, allein zusammen!«

Auch die Tischuhr mit dem einarmigen Porzellanschäfer tickte noch immer. Sie lauschte dem Ticken und vergaß plötzlich alles: er ist am Leben, er ist gesund, er hat soeben das Zimmer verlassen und kommt gleich wieder herein. Sie sah sein Gesicht, sie hörte seine Stimme: »Fühlen Sie sich wohl, Lise? Haben Sie alles, was Sie brauchen? Wollen Sie etwas?«

»Schenke, Gott, ewige Ruhe der Seele deines verstorbenen Knechtes!« hörte sie plötzlich den Totengesang, und es war ihr, als ob sie schliefe und einen bösen Traum sähe; als ob sie gleich aufschreien und erwachen werde.

Nachts im Bette starrte sie mit weitgeöffneten Augen in die Finsternis und dachte: »Nun habe ich schon wieder diesen bösen Traum! Wann werde ich endlich erwachen?«

Sie staunte ebenso wie ein Mensch staunt, dem man ein Bein amputiert hat und der es beim Erwachen plötzlich vermißt; von diesem Staunen wurde sie beinahe wahnsinnig. Sie verlor jedoch für keinen Augenblick das Bewußtsein; im Gegenteil: je größer der Schmerz war, um so klarer war ihr Bewußtsein; und je klarer das Bewußtsein, um so größer der Schmerz, – und so in die Unendlichkeit. Es fiel ihr ein, was sie in ihrem Tagebuch geschrieben hatte: »Das ist eben so schrecklich: man weiß nie, was für Leiden einem noch bevorstehen, wie groß die Leiden noch sein können und ob sie eine Grenze haben.« Jetzt wußte sie, daß sie keine Grenze hatten.

Den Leichnam küssen, seine Kälte durch die Tülldecke auf den Lippen fühlen, – das war alles, was ihr noch hier auf Erden von ihm übrig blieb; was sie dort, im Jenseits erwartete, daran wollte sie gar nicht denken: sie wußte aus Erfahrung, daß es nicht half.

Manchmal wollte sie die Tülldecke lüften, um sein Gesicht zu sehen, doch sie wagte nicht es zu tun: es schien ihr, daß er, der im Leben so viel auf sein Äußeres hielt und immer so elegant war, es unangenehm empfinden müßte, wenn jemand sähe, wie er sich verändert hatte. Er hatte sich aber so sehr verändert, daß man ihn kaum wieder erkennen konnte, – das war auch durch die Tülldecke zu sehen. »Was hat man mit ihm gemacht?« dachte sie. »Er ist es nicht! Er ist es nicht!«

Als sie einmal wieder vor den Sarg trat und neben dem ihr bereits vertrauten Geruch von Weingeist, Essig und aromatischen Kräutern noch einen anderen fremden Geruch spürte, konnte sie anfangs gar nicht begreifen, was es war; plötzlich begriff sie es. Sie verlor nicht die Besinnung und wurde nicht wahnsinnig; es schien ihr aber, daß, wenn sie wahnsinnig geworden wäre, sie es leichter ertragen könnte.

Am gleichen Abend saß sie allein in ihrem Schlafzimmer. Sie hörte, wie der Wind im Kamine heulte, wie der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte, wie die Bäume im Garten rauschten und irgendwo in der Nähe, wahrscheinlich auf dem Dache eines Gartenhäuschens, eine eiserne Windfahne knarrte, winselte und stöhnte; » comme une âme en peine«, sagte sie sich, und plötzlich fiel ihr der seltsame Geruch von vorher ein. Ebenso wie sie vorher lange nicht begreifen konnte, was dieser Geruch bedeutete, so hörte sie auch jetzt erst lange verständnislos dem eisernen Knarren zu, bis sie plötzlich begriff, was es war.

»Gleich! Gleich! Gleich!« antwortete sie auf den Ruf. Sie ging hastig zum Tisch, machte eine Schublade auf, holte zwei Schlüssel heraus, riß sich den langen schwarzen Schleier vom Kopf, warf sich den alten Schal, den sie »Tantchen« nannte, über, nahm die Kerze, ging aus dem Zimmer und blieb eine Weile horchend stehen: alles war still, aus dem Nebenzimmer hörte sie ein leises Schnarchen – wahrscheinlich war es die Hofdame Walujewa –, und aus dem Trauersaal die eintönige Stimme des das Evangelium lesenden Geistlichen, die wie das Summen einer Biene klang; sie ging durch einige Zimmer und kam ins Vorzimmer, aus dem eine eigens für sie durchgebrochene Türe in den Garten führte; sie stellte die Kerze auf das Fensterbrett, suchte sich unter den auf dem Kleidergestell hängenden Mänteln den ältesten und abgeschabtesten Pelzmantel eines ihrer Kammermädchen heraus, zog ihn an, machte die Türe auf und trat in den Garten. Ein wütender Windstoß warf sie beinahe um. Die rostige eiserne Windfahne knarrte nun beinahe vor ihren Ohren. Sie stolperte im Finstern über Blumenbeete, stieß gegen Bäume und Sträucher, gelangte zur Gartenpforte, fand tastend das Schloß, sperrte es auf und wollte bereits die Schwelle überschreiten, als sie plötzlich jemand am Arme packte.

»Majestät! Majestät!« Sie erkannte die Stimme des Fürsten Pjotr Michailowitsch Wolkonskij.

Die Knie wankten ihr, sie schrie leise auf und fiel Wolkonskij in die Arme.

Als sie zu sich kam, saß sie wieder allein in ihrem Schlafzimmer, als ob nichts vorgefallen wäre. Wolkonskij hatte sich gleich wieder entfernt; als er sie ins Haus zurückführte, oder vielmehr auf seinen Armen hineintrug, sprach er kein Wort und fragte sie nach nichts. Hatte er denn begriffen, wohin sie gehen wollte? Es ist ja gleich: wenn es nicht sofort geschieht, so geschieht es später einmal; jedenfalls ist es unvermeidlich. Sie wird es nicht hier in der Nähe seines Sarges tun, sondern irgendwo abseits, wo es niemand sieht und wo sie niemand stören kann. Es wäre gut, in einer Nacht wie diese, oder später, wenn der Winter mit seinen Schneestürmen beginnt, immer weiter und weiter ohne Weg über die kahle schneeverwehte Steppe zu gehen, vor Müdigkeit umzufallen und irgendwo in einem Graben, unter einem Schneehügel, wo sie niemand findet und erkennt, zu erfrieren; oder vom steilen Abhang kopfüber in die tobende Brandung zu springen. Ja, es ist ganz gleich, wann und wo und wie, doch irgendwo und irgendwann wird sie ihren Beschluß ausführen. Das war das einzige, woran sie ohne Schrecken denken konnte; dies allein konnte sie davor, was viel schrecklicher als Wahnsinn, als Tod, als sein Tod war, retten: vor dem Gedanken, daß alles, woran sie glaubte, Lüge, eine verfluchte Lüge war, und daß die einzige Wahrheit in jenem Geruch und in diesem Stöhnen, Heulen und Klappern des rostigen Eisens lag: »Da wird sein Heulen und Zähneklappern«, – hier wie dort – ewige Qual, ewiger Tod ...

Sie starrte lange in die Kerzenflamme, blickte dann auf den Tisch und sah etwas liegen: ein altes Buch in abgewetztem Ledereinband, ein Buch, das sie gut kannte, – eine französische Bibelübersetzung.

Der Kaiser hatte in den letzten Jahren dieses Buch immer und überall, auf allen seinen Reisen und Feldzügen bei sich gehabt; täglich las er ein Kapitel aus dem Alten und ein Kapitel aus dem Neuen Testament, nach dem Leseplan, den für ihn Fürst Alexander Nikolajewitsch Golitzin zusammengestellt hatte.

Es fiel ihr ein, daß Wolkonskij ihr neulich versprochen hatte, diese Bibel zu suchen und ihr zu bringen. Wahrscheinlich hatte er vorhin, als er zur späten Stunde zu ihr ins Zimmer kam, ihr das Buch bringen wollen: er glaubte wohl, daß sie es möglichst schnell haben wolle.

Sie schlug das Buch auf und sah hinein. Die Ecke der Seiten waren vom vielen Umblättern vergilbt; auf den Rändern standen Bemerkungen von seiner Hand, und einzelne Zeilen waren unterstrichen. Sie las diese unterstrichenen Zeilen, ohne ein Wort zu verstehen und ohne sich etwas dabei zu denken.

»Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde, und ist schon jetzt, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören werden, die werden leben.«

»Was ist das? Was ist das?« Sie wollte sich an etwas erinnern und konnte es nicht; sie schloß die Augen, lauschte dem fernen Summen des Geistlichen, und plötzlich wußte sie es.

Er lag damals schon im Sarge, doch nicht im Saal auf dem Katafalk, sondern noch in seinem Zimmer; man las eine Totenmesse; der Tag war heiter, und die Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer ebenso wie zwei Tage vor seinem Tode, als er zu sich gekommen war und gesagt hatte:

»Welch ein prächtiges Wetter!«

Bei der Seelenmesse blickte sie zum Fenster hinaus und sagte sich: »Der Himmel strahlt so festlich ihm zu Ehren!« Sie lauschte den Worten des Geistlichen:

»Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde, und ist schon jetzt, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören werden, die werden leben.«

Und plötzlich bemerkte sie, daß sie zwischen dem Sarg und dem Sargdeckel, der an der Wand lehnte, stand: sie war also mit ihm im Sarge, im Tode, wie im Leben. Eine große Freude überkam sie, und sie begann zu beten, daß sie am Tage der Auferstehung ebenso an seiner Seite stehen dürfe, wie sie jetzt stand. Sie betete und wußte, daß ihr Gebet Erhörung finden werde.

»So wird es sein!« wollte sie auch jetzt sagen, als sie die unterstrichenen Zeilen las; doch sie konnte es nicht mehr; sie fragte sich nur: »Wird es so sein?« Sie fand keine Antwort, wartete aber auf Antwort und wußte, daß sie nicht mehr lange darauf zu warten hatte ... ... ....

* * *

Mit jedem Tag waren die Ärzte mehr davon überzeugt, daß die Einbalsamierung schlecht geraten war und daß die Leiche in Verwesung überging. Bei der Leiche wachte immer einer der beiden Hofärzte, Reinhold oder Dobbert, um das Gesicht des verstorbenen ständig mit einem in scharfen aromatischen Essig getauchten Schwamm zu befeuchten; vor dem Sarge standen Schalen in Form von Aschenurnen mit dem aromatischen Essig. Dies alles half aber nicht. Alle Fenster und Türen waren geschlossen, und da im Zimmer ununterbrochen Kerzen brannten, sank die Temperatur nie unter 20 Grad. Allen wurde es von dem schweren Geruch der aromatischen Flüssigkeit übel, der sich mit dem noch unerträglicheren Leichengeruch vermischte; selbst die Uniformen der wachestehenden Offiziere waren von diesem Geruch durchdrungen, so daß sie ihn noch mehrere Wochen lang behielten.

Das Gesicht des Toten wurde von Tag zu Tag dunkler und schwärzer, und man konnte es gar nicht mehr wiedererkennen; beim Anblick dieser schrecklichen schwarzen Puppe in Kaiserpurpur und Krone fragten sich sogar die Ärzte: »Wer ist das?«

Als Dobbert einmal die Tülldecke lüftete, um das Gesicht wieder mit Essig zu befeuchten, zeigte ihm Schönig, der Wache stand, daß aus dem Kragen ein Ende der Halsbinde hervorguckte. Dobbert zog an diesem Ende und sah, daß es nicht die Halsbinde, sondern die schwarz gewordene Haut war; er erschrak und lief sofort zu Wyllié.

Man überlegte sich hin und her und beschloß endlich, die Leiche einfrieren zu lassen. Nach den Herbststürmen war der Winter angebrochen. Man machte alle Türen und Fenster weit auf, stellte unter den Sarg einen Trog mit Eis und hing in der Nähe einen Thermometer auf, der mindestens zehn Grad unter Null zeigen mußte. Nur vor den Seelenmessen, die jeden Morgen und jeden Abend abgehalten wurden und denen die Kaiserin beiwohnte, schloß man die Fenster und wärmte den Saal etwas.

Nach dem Tode des Kaisers begann Jegorytsch vor Kummer zu trinken. In einer Schnapsbude lernte er P. Alexej Fedotow kennen, mit dem er sich bald sehr befreundete. Nach jeder Seelenmesse besuchte der Geistliche Jegorytsch in seinem halbdunklen Zimmer neben dem kaiserlichen Toilettezimmer, wo ständig ein kleiner Tisch gedeckt war. Sie tranken, aßen, gedachten des Verstorbenen und unterhielten sich im Flüsterton:

»Ich habe ja gesagt: einen Dreck werden sie bekommen!« begann der Dompropst mit seiner Lieblingssentenz. »Niemand wollte es mir glauben, nun haben sie den Dreck! ...«

»Wie meinen Sie es, Hochwürden, und von welchem Dreck sprechen Sie?«

P. Alexej antwortete nicht gleich: er trank zuerst ein Glas Pfefferschnaps, verzehrte einen der zum Gedächtnis an den verstorbenen gebackenen Pfannkuchen, trank ein Glas Birnbranntwein, verzehrte einen zweiten Pfannkuchen, zwinkerte Jegorytsch zu und flüsterte ihm ins Ohr:

»Wer, glaubst du, liegt im Sarg, he?«

Jegorytsch, der offenbar diese Frage vorausahnte, begann zu zittern und erbleichte.

»Was sagen Sie schon wieder, P. Alexej! Wer soll denn im Sarge liegen, wenn nicht Seine Majestät, unser Engel und Wohltäter? Sie schneiden mir das Herz entzwei, sie haben kein Mitleid mit mir, jetzt da ich so verwaist bin ...«

»Nein, ich habe wohl Mitleid mit dir, darum sage ich ja auch: schau zu, wen du beerdigst, ob es auch der Richtige ist? ...«

»Wie sollte es nicht der Richtige sein? P. Alexej, erlauben Sie doch! Sie haben ja selbst seine letzte Reichte gehört, haben ihm selbst das heilige Abendmahl gereicht ...«

»Nein, mein Lieber, komm mir nicht mit diesen Dingen. In jener Nacht, als man mich ins Palais holte, war ich ja fürchterlich besoffen: ich hatte eine Hochzeit beim Kaufmann Wachramejew mitgemacht, wo es ordentlich zu trinken gab. Wenn man mich einmal fragt, werde ich eben sagen: ich kann mich auf nichts besinnen und weiß von nichts ...«

»Was sagen Sie nur? Was sagen Sie nur, P. Alexej? ...«

»Wenn dir nicht genügt, daß ich es dir sage, so geh' hin und hör' dir an, was man im Volke spricht: die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes. Es heißt, daß im Sarge nicht sein Körper, sondern eine Wachspuppe, oder die Leiche irgendeines Soldaten aus dem Gefängnisspital liegt. Der Kaiser ist aber am Leben: die Unmenschen wollten ihn umbringen, er ist aber entflohen, und niemand weiß, wo er sich jetzt verborgen hält; jetzt hält er sich noch verborgen, vielleicht wird er aber noch einmal dem Volke erscheinen ... Hast du etwas von einem gewissen Fjodor Kusmitsch gehört?«

»Von welchem Fjodor? ...«

Jegorytsch erbleichte und riß vor Erstaunen und Schrecken die Augen auf: plötzlich war ihm eingefallen, wie der Kaiser vor dem Tode phantasierte.

»Gott sei uns gnädig! Gott sei uns gnädig! Heilige Himmelskönigin!« flüsterte er, sich bekreuzigend. Es schien ihm, daß er wahnsinnig werden müsse.

»Habe nur keine Angst, mein Lieber: uns geht ja die ganze Sache gar nichts an, schweige nur von der Geschichte,« tröstete ihn P. Alexej. »Der Streich ist aber gar nicht so übel! Sie singen: ›Schenke, Gott, ewige Ruhe der Seele deines verstorbenen Knechtes ...‹ Wo ist aber der Knecht, und wo der Zar? hier kann niemand klug werden. In der Schrift heißt es: ›Süßigkeit ging von dem Starten.‹ Vielleicht kommt es noch umgekehrt: daß von der Süßigkeit etwas Starkes und Bitteres kommt. Es ist doch ein nettes Kunststück! Ich habe ja gesagt, daß daraus ein Dreck wird!« –

Drei Tage nach dem Ableben des Kaisers wurden die Einwohner von Taganrog in der Mariähimmelfahrt-Kathedrale auf den neuen Kaiser Konstantin Pawlowitsch vereidigt. Am gleichen Tage schickte der Generalstabschef Dibitsch einen Kurier nach Warschau mit einer Meldung an Konstantin. Die Pakete trugen die Aufschrift: »Seiner Kaiserlichen Majestät dem Kaiser Konstantin I.«

In Taganrog erwartete man täglich den neuen Kaiser; besonders sehnsüchtig erwartete ihn Wolkonskij.

»Nach den dreizehn Tagen, die ich ohne Schlaf und fast ohne Speise verbracht habe, bin ich so schwach geworden, daß ich mich kaum auf den Beinen halte,« schrieb er einem seiner Petersburger Freunde. »Jetzt muß ich ganz allein das Zeremoniell für die Überführung der Leiche ausarbeiten, wir befinden uns ja zweitausend Werst von der Hauptstadt entfernt, in einem entlegenen Winkel des Reiches, wo wir nichts beschaffen können und wegen jeder Kleinigkeit nach allen Seiten Kuriere schicken müssen. Ich weiß gar nicht, was sie ohne mich anfangen würden. Denn alle haben vollkommen den Kopf verloren. Mit Ungeduld warte ich auf die Ankunft des Kaisers Konstantin Pawlowitsch, und ich weiß gar nicht, wie das alles enden soll.«

Auch Wyllié war nicht weniger besorgt.

Einmal kam er nach der Untersuchung der Leiche aus dem eiskalten Saal ins frühere Arbeitszimmer des Kaisers und setzte sich neben Wolkonskij vor den Kamin, um sich etwas zu wärmen.

»Was glauben Sie, Jakow Wassiljewitsch, werden wir die Leiche nach Petersburg bringen können?« fragte Wolkonskij.

»Wenn der Frost anhält, wird es uns vielleicht gelingen; wenn aber Tauwetter kommt, ist die Sache hoffnungslos.«

Der Tag war sonnig, die weißen Eisblumen an den Fensterscheiben waren etwas aufgetaut, Wyllié blickte ärgerlich aufs Fenster: er fürchtete immer, daß Tauwetter beginnen werde.

»Auch der Sarg ist ganz unmöglich,« begann er von neuem. »Die Leiche ist ja mit knapper Not hineingezwängt worden; und sie soll noch eine Reise von zweitausend Werst überstehen! Der Bleideckel kann leicht den Schädel eindrücken. Wie kann man überhaupt einen Sarg aus einem Hausdache machen?«

»Ach, sprechen Sie mir lieber nicht davon!« stöhnte Wolkonskij auf. »Wie wird das enden, wie wird das enden, mein Gott! ...«

»Ich wollte Ihnen übrigens schon früher melden, Fürst,« sagte Wyllié nach einer Pause, »daß in der Stadt empörende Gerüchte verbreitet werden.«

»Was für Gerüchte?«

»Es ekelt mich, sie Ihnen wiederzugeben ...«

»Meinen Sie das Märchen von der Wachspuppe?«

»Haben Sie es also auch schon gehört? Ja, das von der Puppe; auch daß der Kaiser keines natürlichen Todes gestorben sei ...«

»Diese Schurken!« rief Wolkonskij empört aus. »Was soll man nur mit diesen Dummköpfen anfangen?«

»Was man anfangen soll? Die Leute verhaften, ins Zuchthaus sperren und ordentlich durchpeitschen; zu allererst aber ihren Heiligen, wie heißt er nur? Fjodor ... Fjodor Kusmitsch, wenn ich nicht irre ...«

»Das wäre vielleicht wirklich das richtige, haben Sie es schon Dibitsch gesagt?«

»Ja.«

»Und was sagt er dazu?«

»Sie kennen ihn ja. Er trinkt seinen Punsch und zuckt mit keiner Wimper. ›Ich habe auch ohnehin genug zu tun,‹ sagte er mir darauf, ›und habe wirklich keine Zeit, mich mit Weibergeschwätz abzugeben!‹ Urteilen Sie selbst, Fürst: es berührt meine Ehre und das Gedächtnis meines Wohltäters. Ich kann es unmöglich auf mir sitzen lassen. Ich bitte Euere Durchlaucht, es dem Kaiser gleich nach seiner Ankunft zu melden ...«

»Ja, ja, gewiß ... Wenn er nur schneller käme! Wenn er nur schneller käme!« stöhnte Wolkonskij wieder auf.

»Kommt er denn nicht bald?«

»Niemand weiß etwas Bestimmtes. Ich schicke einen Kurier nach dem anderen ab und bekomme immer keine Antwort, heute wartet auch Dibitsch von Minute zu Minute auf Nachricht. Dibitsch wollte übrigens auch herkommen, kommt aber noch immer nicht. Soll ich ihn vielleicht holen lassen? Da ist er ja! Wenn man vom Wolf spricht, kommt er ...«

Die Türe aus dem Trauersaal ging auf, ein frostiger Luftzug kam herein; es war als ob die eingefrorene Mumie sie mit ihrem Grabesodem angehaucht hätte.

»Nun, Exzellenz, was gibt es für Neuigkeiten?« fragte Wolkonskij, sich vor Dibitsch erhebend.

Dibitsch gab keine Antwort, ging zum Tisch, wo für ihn immer eine Flasche Rum bereit stand, schenkte sich ein Glas ein, trank aus, und ließ sich in einen Sessel vor dem Kamin fallen. In seinen plumpen Bewegungen, bei denen man an eine Krabbe denken mußte, die sich unter einen Stein verkriecht, in seinem verzerrten Gesicht, in seinem zerzausten roten Haar und in seinen unruhig flackernden Blicken war etwas Unheimliches und Unheilverkündendes. »Ist er vielleicht betrunken?« fragte sich Wolkonskij.

»Was es für Neuigkeiten gibt?« sagte er endlich mit gepreßter Stimme, sich den Rockkragen aufknöpfend, als ob er zu ersticken fürchtete. »Also, hören Sie; der Kurier, den ich nach Warschau geschickt habe, kam unverrichteter Dinge zurück.«

»Wieso unverrichteter Dinge?«

»Sehr einfach: meine Depeschen wurden nicht angenommen, der Kurier wurde nicht empfangen und noch in der gleichen Nacht aus der Stadt abgeschoben, wobei man ihm untersagte, mit irgend jemand in Warschau oder auf der Rückreise zu sprechen.«

»Was sagen Sie? Was sagen Sie?« riefen Wolkonskij und Wyllié aus.

»Sie glauben es mir nicht, meine Herren? Ich selbst wollte nicht daran glauben. Wollen Sie vielleicht diesen Brief lesen?«

Dibitsch reichte Wolkonskij den Brief. Wolkonskij durchflog ihn und erbleichte.

»Was ist das? Mein Gott, was ist das?«

Auch Wyllié las den Brief und machte ein verdutztes Gesicht.

Der Brief war vom Großfürsten Konstantin Pawlowitsch. Er teilte darin mit, daß er mit Genehmigung des hochseligen Kaisers sein Thronfolgerecht dem jüngeren Bruder, dem Großfürsten Nikolai Pawlowitsch, kraft des allerhöchsten Reskripts vom 2. Februar 1822, abgetreten hätte.

»Infolgedessen kann ich Ihnen keinerlei Befehle erteilen, und Sie werden solche aus St. Petersburg von der höchsten Stelle empfangen. Ich bleibe hier und bin dem neuen Kaiser ebenso treu untertan wie Sie. Im übrigen wünsche ich Ihnen aller Beste.«

»Was ist das für ein Reskript?« fragte Wyllié, nachdem er sich vom ersten Schrecken erholt hatte.

»Ich weiß von nichts,« antwortete Dibitsch.

»Hat Ihnen der Kaiser nichts gesagt?«

»Nichts.«

»Und sein letzter Wille?«

»Sein letzter Wille ist uns unbekannt.«

»Wieso, hat er vor dem Tode nichts davon gesagt?«

»Er hat eben nicht daran gedacht, hat es wohl vergessen.«

»Haben Sie auch nicht daran gedacht?«

»Ich? Ja, ich habe wohl daran gedacht. Ich hatte die Ehre, es mehrere Male Seiner Durchlaucht zu melden.« Dibitsch schielte gehässig auf Wolkonskij. »Der Fürst wollte mir aber keine Antwort geben: er saß wie im Starrkrampf.«

»Was ist das nun? Mein Gott! ...« flüsterte er ganz bestürzt. Plötzlich sprang er auf, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und rief aus:

»Und wie soll es nun mit der Vereidigung werden? ...«

»Was ist denn dabei? Heute haben wir den Eid dem einen Kaiser geleistet, und werden ihn morgen einem anderen leisten. Mit dem Treueide nimmt man es bei uns überhaupt nicht genau,« spottete Dibitsch, und sein Gesicht wurde ganz schief. »Es fragt sich noch, ob Nikolai Pawlowitsch die Krone annimmt; dies ist uns ebenfalls unbekannt. Vorläufig haben wir ein Interregnum. Der Kaiser ist tot, einen Thronerben haben wir nicht, und niemand weiß, wem Rußland gehört!«

Dibitsch erhob sich, ging wieder zum Tisch, schenkte sich ein neues Glas Rum ein und sagte:

»Ich gratuliere, meine Herren, zu den zwei Kaisern, oder ... zu keinem Kaiser!«

Er trank aus. Wyllié wollte etwas sagen, Dibitsch ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Warten Sie noch, es ist noch nicht alles; dies war die Überraschung Numero Eins; jetzt kommt Numero Zwei. In den Papieren des Verstorbenen fand ich eine Anzeige von einer weitverzweigten, in der ganzen Armee des Reiches verbreiteten politischen Verschwörung. Jeden Tag kann eine Revolution ausbrechen, vielleicht ist sie schon irgendwo ausgebrochen; wir sitzen hier und wissen von nichts!«

»Da haben wir die Bescherung!« stammelte Wolkonskij. Er wollte noch etwas sagen, seine Zunge gehorchte ihm aber nicht, der Kopf fiel zurück, dar Gesicht wurde leichenblaß: er verlor die Besinnung.

»Pfui Teufel! Das hat uns noch gerade gefehlt!« brummte Dibitsch. »Was hat er nur? Hat ihn der Schlag getroffen?«

Wyllié benetzte ihm die Schläfen, knöpfte ihm den Kragen auf und hielt ihm Riechsalz vor die Nase. Wolkonskij kam zur Besinnung, war aber ganz fassungslos und konnte nicht mehr sprechen.

»Die alte Galosche!« dachte sich Dibitsch angeekelt.

Plötzlich ging die Türe aus dem Toilettenzimmer geräuschvoll auf; Jegorytsch steckte seinen Kopf herein und zog ihn gleich wieder zurück; mit seiner seidenen Soutane rauschend, kam P. Alexej ins Zimmer, so würdevoll und feierlich, daß niemand glauben würde, daß er soeben in Gesellschaft eines betrunkenen Lakaien an der Türe gehorcht hatte. Als er an den vor dem Kamin Sitzenden vorbeiging, machte er eine tiefe Verbeugung. Sie schenkten ihm wenig Beachtung; wenn sie ihn aber aufmerksamer angeschaut hätten, so würden sie wohl bemerkt haben, daß er so spöttisch in seinen silberweißen Herrgottsbart hinein lächelte, als ob er sagen wollte:

»Da habt ihr also den Dreck!«

* * *

Am gleichen Tage und zur gleichen Stunde passierte die Taganroger Stadtgrenze ein etwa fünfzigjähriger Mann, mit einem Ranzen auf dem Rücken, einem kleinen Christusbilde auf der Brust, blond, kahlköpfig, blauäugig, großgewachsen und rüstig wie ein verabschiedeter alter Soldat; er sah etwas dem Kaiser ähnlich, – »die Ähnlichkeit ist nicht sehr groß, fällt aber immerhin auf«, wie der Verstorbene vor seinem Tode zu Jegorytsch gesagt hatte; er verließ die Stadt und schritt die Jekaterinoslawer Landstraße entlang. Es war ein heimatloser Vagabund ohne Ausweispapiere, einer von jenen armen Pilgern, die auf den Landstraßen herumirren und Geld zur Erbauung von Kirchen sammeln.

Er hieß Fjodor Kusmitsch.


 << zurück weiter >>