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VI.

Das Leschtschiner Lager lag fünfzehn Werst abseits von der großen Poststraße, die von Schitomir nach Berditschew führte; die 8. Artilleriebrigade stand im Dorfe Mlinischtsche, 3 Werst von Leschtschino entfernt. Die Quartiere waren schlecht: alle Bauernhäuser waren überfüllt, so daß die meisten Offiziere in Zelten und in Baracken wohnen mußten.

In einer dieser Baracken lagen auf ihren Betten zwei blutjunge Leutnants der 8. Brigade: der neunzehnjährige Sascha Frolow und der etwas ältere Mischa Tschernoglasow. Mischa lag auf dem Rücken, mit übergeschlagenen Beinen, rauchte eine Pfeife und sang mit unnatürlich heiserer Stimme:

Bin geboren für den Krieg,
Meinem Zaren treu zu dienen ...

Die Baracke war aus Strauchwerk erbaut und mit Lehm bestrichen. Innen sah es wie auf einem Dachboden aus; die Betten standen auf dem Erdboden eng beieinander. Fenster gab es keine, das Licht kam durch die Türe herein. Jetzt war die Türe geschlossen und im Schuppen war es dunkel: ein einzelner Sonnenstrahl drang durch eine Ritze im Dache über Saschas Bett und malte an der Wand ein kleines lebendes Bild, das wie in einer Camera obscura auf dem Kopfe stand: unten sah man den blauen Himmel mit runden weißen Wolken und oben ein gelbes Roggenfeld, grüne Bäume, Windmühlen, weiße Zelte und Soldaten, die auf dem Kopfe marschierten. Ab und zu trübte sich das Bild, floß auseinander, wurde dann wieder hell und verbreitete im Dunkeln ein märchenhaftes Regenbogenlicht. Sascha betrachtete es entzückt. »Es wäre schön,« sagte er sich, »wenn auch in der Wirklichkeit alles auf dem Kopfe stünde: es ist so unheimlich und so lustig ...«

»Wir wollen doch zu den Slawen gehen,« sagte Tschernoglasow.

Wenn er gesagt hätte: »Gehen wir zu den Zigeunern« oder: »zu den Mädchen«, so hätte ihn Sascha verstanden. Was aber die Slawen bedeuteten, wußte er nicht; er wollte aber nicht zeigen, daß er es nicht wußte, denn er schämte sich, etwas nicht zu wissen, was alle wußten und was wohl notwendig war, um als flotter Offizier zu gelten.

»Nein, Mischa, beim Hauptmann Pychatschow spielt man heute Bank. Ich muß versuchen, meinen Verlust zurückzugewinnen: neulich spielte ich nach der zweiten Taille Mirandole, es kam aber Route heraus und so verspielte ich alles,« entgegnete Sascha mit geheuchelter Gleichgültigkeit. Er warf seine Beine ebenso empor, wie Tschernoglasow, den er in allen Dingen nachahmte, und sang:

Ich werde mich betrinken
Wie ein gemeines Schwein ...

»Pychatschow wird nicht zu Hause sein: er ist bei den Slawen.«

»Dann wollen wir nach Schitomir ins Theater gehen: im Chor gibt es Eine, die gar nicht übel ist ...«

Sascha fielen die Anzeigen ein, die in der Stadt von geschminkten Zirkusreiterinnen verteilt wurden: »Um sieben Uhr abends werden Pantomimen, gymnastische Spiele und Balancierkünste gezeigt werden.« Das Theater, das zugleich als Zirkus diente, war ein langer Bretterschuppen, mit stinkenden Talglichtern statt Lampen, Holzbänken statt Stühlen, und vier Juden, die Geige und Zimbel spielten, statt eines Orchesters. Doch die Herren Offiziere besuchten gerne dieses Theater, denn man konnte dort leicht Bekanntschaft mit hübschen polnischen Provinzdamen machen.

»Mag das Theater der Teufel holen! Gehen wir doch lieber zu den Slawen,« entgegnete Tschernoglasow.

»Wer sind eigentlich die Slawen?« fragte Sascha, der es schließlich doch nicht aushielt.

»Weißt du es denn nicht? Das wissen ja alle. Es ist aber ein großes Geheimnis ...«

»Wie ist das möglich? Ein Geheimnis, das alle wissen?«

»Nun ja, für die Vorgesetzten ist es ein Geheimnis, die Kameraden wissen es aber alle. Die Slawen sind Verschwörer ...«

Sascha richtete sich auf einem Ellenbogen auf und riß vor Erstaunen die Augen weit auf.

»Verschwörer? Wie die Freimaurer?«

»Es sind keine Freimaurer, sondern Mitglieder der Geheimen Gesellschaft Wohlgesinnter Männer, die den Eid geleistet haben, das Los ihres Vaterlandes zu verbessern,« sagte Mischa wie aus einem Buche lesend. Dann schwieg er höchst geheimnisvoll.

»Im Ernst? Du lügst doch nicht? ...«

»Warum sollte ich lügen? Komm doch mit, dann kannst du es mit eigenen Augen sehen.«

»Geht es denn so ohne weiteres? Niemand kennt mich ja dort ...«

»Es macht nichts, ich werde dich dort vorstellen. Alle Unsrigen sind dort. Es ist ja längst Zeit, daß du als guter Kamerad ... Oder hast du Angst? Ja, mein Lieber, so ungefährlich ist die Sache nicht. Was werden wohl Mamachen und Papachen dazu sagen? ... Wenn du Angst hast, dann ...«

Sascha errötete, Tränen traten ihm in die Augen.

»Schämst du dich nicht, Mischa? Habe ich denn je anders als ein guter Kamerad gehandelt, habe ich etwas nicht mitgemacht, wo alle dabei waren? Selbstredend gehe ich mit!«

Die Versammlung der Slawen und des Südbundes sollte um 7 Uhr abends in der Wohnung des Artillerieleutnants Andrejewitsch II stattfinden. Das Haus stand ganz einsam am Rande des Dorfes auf dem steilen Abhange über dem Flüßchen Gujwa, von Fichtenwald umgeben. Hier lag ein alter Uniatenfriedhof mit einer baufälligen Kapelle. Das Haus gehörte dem Küster dieser Kapelle. Er hatte es Andrejewitsch vermietet und wohnte selbst im Badhause; Andrejewitsch war also im Hause ganz allein; selbst seinen Burschen hatte er für diesen Abend nach Schitomir geschickt. Die Verschwörer, die aus dem Leschtschiner Lager geritten kamen, ließen ihre Pferde im Dorfe zurück und gingen durch den Wald zu Fuß und einzeln, um keinen Verdacht zu erregen.

Als Sascha und Mischa sich dem Hause näherten, herrschte selbst in der Natur eine Verschwörerstimmung. Der Abend war schwül; der Himmel und die Erde hielten vor dem Gewitter den Atem an. Ab und zu kam ein Windhauch, leise wie ein Seufzer; die Wipfel der Fichten tuschelten geheimnisvoll miteinander, und dann wurde alles noch stiller, noch geheimnisvoller.

Als sie ins Haus traten, kamen Sascha selbst die ihm bekannten Kameraden unbekannt vor. »So sehen also Verschwörer aus!« sagte er sich. Die Talgkerzen auf dem langen Tisch flackerten unheilverheißend, und die weißen Wände schienen zu flüstern: Seid vorsichtig, denn auch die Wände haben Ohren! In den dunklen Fenstern zuckte ein Wetterleuchten nach dem anderen: himmlische Verschwörer gaben den irdischen Verschwörern geheimnisvolle Zeichen.

Die Sitzung hatte noch nicht begonnen. Tschernoglasow stellte Sascha Pjotr Iwanowitsch Borissow, Gorbatschewskij und dem Major des Pensenschen Infanterieregiments Spiridow, der eben erst zum Vermittler zwischen den Slawen und dem Südbunde gewählt worden war, vor.

»Sie sind uns willkommen,« sagte Gorbatschewskij. »In welche Gesellschaft wollen Sie eigentlich eintreten, in die unsrige oder in den Südbund?«

Sascha wußte nicht, was er darauf sagen sollte.

»In den Südbund,« sagte für ihn Tschernoglasow.

»Hier, lesen Sie dies, um sich über die Ziele der Gesellschaft zu orientieren.« Gorbatschewskij reichte ihm ein blaues Heft, das mit einer engen Schreiberhandschrift vollgeschrieben war. Es war das »Testament des Staates«, ein kurzer Auszug aus der Pestelschen »Russischen Wahrheit« für die neueintretenden Mitglieder.

Sascha setzte sich an den Tisch und versuchte zu lesen. Er konnte es aber nicht recht verstehen, auch kam ihm das Ganze sehr langweilig vor. Er hatte noch nie im Leben an Politik gedacht. Er wußte gar nicht, was die Worte Konstitution, Revolution und Republik bedeuteten. Er verstand nur den einen Passus: »Das Ziel der Gesellschaft ist die Einführung der republikanischen Staatsform in Rußland durch einen bewaffneten Aufstand und die Vernichtung aller Mitglieder des regierenden Hauses.« – »Ja, so ungefährlich ist die Sache nicht,« sagte er sich, und plötzlich war es ihm so lustig zumute, lustig und unheimlich.

Er stellte sich so, als ob er das Heft studiere; in der Tat lauschte er aber den Gesprächen und musterte die Anwesenden. Es gab viele Vorgesetzte: Kompagniechefs, Brigade-, Bataillons- und Regimentskommandeure. Der Blick eines jeden von ihnen in der Front genügte, um über Saschas Schicksal zu entscheiden; ein jeder von ihnen durfte ihn anschreien, schelten und vors Gericht stellen; das durften sie dort; – hier durften sie es nicht: hier waren alle gleich, als ob die Republik schon proklamiert wäre, hier war alles verkehrt: die Vorgesetzten wurden zu Untergebenen, und die Untergebenen zu Vorgesetzten. Alles war so neu und so ungewohnt, so verkehrt, wie auf dem kleinen Bildchen, das der Sonnenstrahl an der Wand malte: die Erde war oben, und der Himmel unten. Der Kopf schwindelte dabei, doch es war so schön, so unheimlich und so lustig. Es tat ihm gar nicht leid, daß er auf die Karten und die Pantomimen verzichtet hatte.

»Wollen wir etwas trinken,« rief ihm Tschernoglasow zu.

Sie gingen in die Ecke, wo ein kleiner Tisch gedeckt war.

»Alle Wohlgesinnten haben beschlossen, das Joch der Autokratie von sich abzuschütteln. Wir haben genug gelitten, es ist eine Schande, die vielen Erniedrigungen über sich ergehen zu lassen! ...« sagte mit seiner ans Befehlen gewöhnten Baßstimme der Kommandeur des 8. Husarenregiments von Achtyrka, Oberst Artamon Sacharowitsch Murawjow, ein ungewöhnlich dicker Mann mit blaurotem Gesicht. Er trank ein Glas Branntwein, dem er ein Stück Hering folgen ließ. Er zählte eine Reihe von Namen der hervorragendsten Staatsmänner auf und fügte nach je zwei oder drei Namen hinzu:

»Diese Kanaillen!«

Er rollte seine Augen, das fette Kinn zitterte, die Halsadern blähten sich ebenso, wie wenn er in der Front seine Husaren anschrie: »Das siebte Peloton! Kanaillen! Schlaft ihr alle? Paßt auf, daß ich euch nicht wecke! ...«

Er schimpfte auf alle, besonders aber auf den Kaiser.

»Man sollte einen Galgen bauen und ihn zu allererst aufhängen; an seinen Beinen aber alle seine Brüder! ...«

Sascha konnte vor Aufregung kaum atmen; er erinnerte sich noch, wie der gleiche Artamon Sacharowitsch neulich auf einem Ball beim Polen Pan Poljanowski mit der Anhänglichkeit aller Russen an den Zaren und das Vaterland prahlte und den Ausspruch wiederholte, den er angeblich vor der Schlacht bei Borodino gemacht hatte: »Wenn ich falle, öffnet meine Brust; ihr werdet dann auf meinem Herzen den Abdruck des Doppeladlers mit der Chiffre A. P. (Alexander Pawlowitsch) sehen.« Und jetzt redete er ganz anders! Darüber wunderte sich Sascha übrigens ebensowenig, wie über den Umstand, daß auf dem umgekehrten Bilde die Menschen auf den Köpfen standen.

»Lieber Wedenjapin, schenk mir ein Glas Pfefferschnaps ein,« wandte sich Artamon Sacharowitsch an den Leutnant Wedenjapin, den er erst vor wenigen Minuten kennen gelernt hatte und den er bereits duzte.

Er trank aus, räusperte sich, verschlang einen gesalzenen Pfifferling und ging von der Politik auf die Frauen über:

»Neulich hat mir Panna Jadwiga Sigismundowna erzählt, daß man in Paris ganz durchsichtige Hemden erfunden hätte; wenn man so ein Hemd anhat, ist alles wie durch Glas zu sehen ...«

Er erzählte im Anschluß daran einen unanständigen Witz und lachte; es klang wie das Poltern eines schwerbeladenen Wagens auf schlechtem Pflaster.

Tschernoglasow stellte Sascha Artamon Sacharowitsch vor. Der Husarenoberst sagte zu ihm schon nach fünf Minuten »du«, klopfte ihm auf die Schulter und traktierte ihn mit Schnaps.

»Du bist so jung, willst aber schon dein Leben für das Wohl des Vaterlandes opfern! Ja, die Jugend, die Jugend! Ich liebe die Jugend! Trinken wir noch eins, Sascha!«

Er umarmte und küßte ihn. Er roch entsetzlich nach Schnaps, Hering und Lavendelwasser, das er in großen Mengen gebrauchte; er hatte schmutzige Fingernägel und trug an allen Fingern Ringe mit Steinen, die unecht aussahen; auch in seinem ganzen Äußeren war etwas durchaus Unechtes. Sascha glaubte aber, daß ein richtiger Verschwörer gerade so aussehen müsse.

»Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mir dieses fette Vieh mißfällt!« sagte eine Stimme so laut, daß Sascha sich umwandte; Artamon Sacharowitsch überhörte aber die Bemerkung, oder stellte sich nur so, als ob er sie überhört hätte.

Der Leutnant im Tschernigowschen Regiment und Mitglied des Südbundes, Anastassij Dmitrijewitsch Kusmin, oder, wie ihn die Soldaten nannten, Nastassej Mitritsch, oder noch kürzer – Nastasjuschka, war stachelig und rauh wie ein Igel; seine schwarzen Haare waren struppig, der Schnurrbart ungepflegt und der Backenbart so zerzaust, als ob ihn von hinten immer ein starker Wind anbliese; die schwarzen Augen standen weit und etwas schief auseinander und blickten so wütend, daß ihn die Kameraden aus diesem Grunde oft den »Räuber von Murom« nannten; das Lächeln war aber mild und rechtfertigte den Frauennamen »Nastasjuschka«.

Neben Kusmin stand ein junger schlanker Offizier mit blassem schönem Gesicht, das etwas an das Gesicht Lord Byrons erinnerte; es war der Leutnant vom gleichen Regiment, Masilewskij.

Als Artamon Sacharowitsch sich so stellte, als ob er die Bemerkung überhört hätte, und die Rede wieder auf die Politik brachte, schielte Kusmin wütend zu ihm herüber und sagte noch lauter:

»Dieser Aufschneider!«

»Laß es, Nastassej Mitritsch,« suchte ihn Masilewskij zu besänftigen, indem er ihm wie einem bösen Hunde den Kopf streichelte. »Du bist doch wirklich ein Stachelschwein! Was wütest du so, was fällst du so über die Menschen her, du Räuber? ...«

»Laß mich in Ruhe, Masilewskij! Ich kann solche Aufschneider nicht leiden ...«

»Wissen Sie, meine Herren, unsere Nastasjuschka hätte neulich um ein Haar einen Menschen umgebracht,« begann Masilewskij, um die Aufmerksamkeit abzulenken und einem Streit vorzubeugen.

Die Sache verhielt sich so. Kusmin setzte sich einmal aus irgendeinem Grunde in den Kopf, daß der Aufstand von heute auf morgen ausbrechen müsse; er rief seine Soldaten zusammen und erzählte ihnen von der Verschwörung. Die Soldaten, die ihm sehr ergeben waren, schworen, ihm überallhin zu folgen. Darauf erschien er in einer Versammlung der Gesellschaft und meldete, daß seine Kompagnie vollkommen bereit sei und nur noch auf einen Befehl warte. »Wann soll denn der Aufstand beginnen?« fragte er einen jeden. – »Du kommst zu früh, mußt dich noch eine Zeitlang gedulden,« antwortete man ihm. – »Schade, ich glaubte, daß es schon losgehe. Das leere Geschwätz führt ja zu nichts. Meine Soldaten können übrigens schweigen, ich fürchte aber, daß uns der Fähnrich Boguslawskij anzeigt: ich habe ihn nach Schitomir geschickt, um die Unsrigen vom Ausbruch der Revolution zu benachrichtigen.« – »Was hast du angestellt!« riefen alle entsetzt aus. »Boguslawskij ist ein Dummkopf und Schwätzer; er wird alles seinem Onkel, dem Kommandeur der Artillerie im 3. Armeekorps hinterbringen. Wir sind verloren!« – »Was macht das! Kann man es denn nicht mehr ändern? Ihr werdet ihn morgen tot in seinem Bette finden!« erklärte Kusmin. Er nahm seinen Hut und ging. Alle stürzten ihm nach. Man holte ihn ein und überredete ihn mit großer Mühe, sein Vorhaben aufzugeben und den Dummkopf, dem man ja leicht einreden könnte, daß es nur ein Scherz gewesen sei, zu verschonen.

»Ich werde ihn noch töten, wenn er nur muckst!« schrie Kusmin auf, als Masilewskij mit seiner Erzählung zu Ende war.

»Niemanden wirst du töten, Nastasjuschka! Du bist ja zu gutmütig!«

»Daß euch alle der Teufel!« schrie Kusmin noch wütender, »wenn man auch heute noch nicht beschließt, mit dem Aufstand zu beginnen, so trommle ich morgen meine Kompagnie zusammen und gehe allein hin!«

»Wo wirst du denn hingehen?«

»Nach Petersburg, nach Moskau, zu Teufels Großmutter, länger will ich aber nicht warten ...«

Als Sascha dies alles sah und hörte, stand sein Herz still: es war ebenso wie in seiner Kindheit, wenn er auf einem Schlitten einen Eisberg hinuntersauste, oder wenn er träumte, daß ihm plötzlich jemand erlaubt habe, tolle Streiche zu verüben, Sachen zu verderben und Fensterscheiben einzuschlagen; alles war straflos, alles war erlaubt.

»Wo wollen wir das Geld hernehmen, um die Armee zu verpflegen, meine Herren?« fragte Oberst Wassilij Karlowitsch Tiesenhausen, ein eleganter blonder Deutscher, der immer sein Gesicht verzog, als ob er überall schlechten Geruch wittere.

»Man könnte es aus der Regimentskasse nehmen,« schlug jemand vor.

»Und die Keller der Gräfin Branicka?« rief Artamon Sacharowitsch aus. »Dort finden wir genug: es heißt, daß dort 50 Millionen in Gold verwahrt werden, das ist wirklich keine Kleinigkeit!«

»Ein edler Rat!« sagte Tiesenhausen, das Gesicht verziehend, »wenn wir mit Raub und Diebstahl beginnen, wie wollen wir dann enden?! Nein, meine Herren, in diesem Falle tue ich nicht mit: fremdes Geld rühre ich nicht an ...«

»Ja, das wissen wir, ihr Deutsche seid ehrlich,« brummte Kusmin.

»Ich schwöre bei meiner Ehre,« fuhr Wassilij Karlowitsch fort, »ich werde lieber mein letztes Hemd hingeben, die Röcke meiner Frau verkaufen ...«

»Andere opfern ihr Leben, er will aber die Unterröcke seiner Frau opfern!«

Tiesenhausen hörte die Bemerkung und fühlte sich verletzt.

»Lassen Sie sich sagen, Herr Leutnant, daß ich Ihre Bemerkung unpassend finde ...«

»Was wollen Sie machen, Herr Oberst! Wir sind hier nicht in der Front und ich spucke auf Ihre Anstandsregeln! Wenn Sie aber Satisfaktion haben wollen, ...«

»Beruhige dich, Mitritsch, laß es! ...«

Andere Offiziere mischten sich ein und brachten sie mit großer Mühe auseinander. Gleich darauf entstand aber ein neuer Streit. Die Rede kam darauf, wie man die Soldaten auf den Aufstand vorbereiten solle.

»Diese Dummköpfe braucht man nicht lange vorzubereiten,« sagte Hauptmann Pychatschow, der Chef der 5. berittenen Kompagnie. »Ich werde ihnen ein Faß Branntwein spendieren, die Sänger vor der Front aufstellen und kommandieren: ›Mir nach, Kinder!‹«

»Und ich werde ihnen etwas Speck in die Suppe legen lassen, und sie werden mir folgen, wohin ich will. Ich kenne den russischen Soldaten!« sagte Tiesenhausen mit seiner Grimasse.

»Wenn mein Regiment mir nicht folgt, so werde ich die Leute mit Stockhieben hinjagen!« dröhnte Artamon Sacharowitsch. Es klang wieder, als ob ein Lastwagen auf schlechtem Pflaster poltere.

»Ihr wollt das Volk durch Stockhiebe befreien, – das ist eine nette Demokratie! ...« rief Gorbatschewskij aus. »Schämen Sie sich, meine Herren!«

»Aristokraten! Junker!« zischte vor Haß erbleichend Leutnant Ssuchinow, wobei sein kränkliches boshaftes Gesicht einen solchen Ausdruck annahm, als ob ihm jemand auf ein Hühnerauge getreten wäre. »Mit solchen Leuten sollen wir uns verbinden! Jetzt sehen Sie es, meine Herren! ...«

Wieder sahen alle, wie einst in Wassilkow, den tiefen Abgrund, der die beiden Gesellschaften voneinander trennte; sie konnten sich in der Tat ebensowenig vereinigen, wie Wasser und Öl.

»Worauf warten wir noch?« fragte Ssuchinow. »Die Sitzung ist für 8 Uhr anberaumt, jetzt ist es aber bald zehn ...«

»Ssergej Murawjow und Bestuschew müssen gleich eintreffen,« antwortete Spiridow.

»Sieben warten doch nicht auf einen,« entgegnete Ssuchinow.

»Was soll man denn machen? Ohne sie kann man doch nicht anfangen ...«

»Wir wollen dann einfach auseinandergehen und fertig!«

»Wie können wir auseinandergehen, ohne etwas beschlossen zu haben? Und lohnt es sich denn wegen einer solchen Bagatelle ...«

»Die Ehre ist keine Bagatelle, mein Herr!« schrie Ssuchinow. »Wer den Lakaien spielen will, der mag es tun; ich bin aber für diese Rolle nicht zu haben, merkt es euch! ...«

»Sie kommen, sie kommen!« erklärte Gorbatschewskij, nachdem er zum Fenster hinausgeblickt hatte.

Draußen hörte man Schritte und Stimmen, die Türe ging auf, und ins Zimmer traten Ssergej Murawjow, Bestuschew, Fürst Golitzin und noch mehrere Mitglieder des Südbundes; sie waren soeben aus dem Leschtschiner Lager eingetroffen.

Murawjow bat um Entschuldigung: er sei so spät gekommen, weil man ihn unerwartet aufs Stabsquartier zitiert hätte.

Alle nahmen Platz; die einen am Tisch, der mitten im Zimmer stand, die anderen auf Bänken längs der Wände. Viele fanden keinen Platz und mußten stehen. Zum Vorsitzenden wurde der Major des Pensenschen Regiments Spiridow gewählt. Er hatte ein angenehmes, ruhiges und kluges Gesicht, das zweierlei Ausdruck haben konnte: solange er sprach, schien er gar keine Zweifel zu haben; wenn er aber schwieg, drückten seine Augen Schwäche, Trägheit und Unentschlossenheit aus.

Er erklärte mit wenigen Worten den Zweck der Versammlung: die Frage von der Vereinigung der beiden Gesellschaften sollte an diesem Abend endgültig entschieden werden. Dann gab er das Wort Bestuschew.

Bestuschew sprach undeutlich, verworren und zu weitschweifig. Doch im Zittern seiner Stimme, in seinen Gebärden, im Glanze seiner Augen, in seinem bleichen Gesicht und im roten Haarschopf, der auf seinem Scheitel wie eine Flammenzunge bebte, lag eine unbesiegbare Überzeugungskraft. Er war der große Volkstribun, der Verführer und Bezauberer aller Herzen. Der kleine, schwache und leichte Bestuschew flog im Sturmwinde seiner Worte empor, ohne selbst zu wissen, wohin er flog und in welche Höhen er stieg. »Die Begeisterung macht den Pygmänen zu einem Riesen,« fiel es Golitzin ein.

Was Bestuschew sagte, läßt sich ebensowenig mit Worten wiedergeben wie Musik. Seine Rede hatte beiläufig folgenden Sinn:

Der Südbund verfüge über ungeheuere Kräfte. Moskau und Petersburg seien bereits für den Aufstand bereit, ebenso die 2. Armee und viele Regimenter des 3. und 4. Armeekorps. Wenn man nur den richtigen Augenblick nicht versäume, könne man sofort mit dem Aufstande beginnen. Die Gesellschaft habe ihre Sektionen in Tultschin, Wassilkow, Kamenka, Kiew, Wilna, Warschau, Moskau, Petersburg und in vielen anderen Städten des Reiches. Die Polnische Gesellschaft, die über eine große Mitgliederzahl nicht nur im Königreich Polen, sondern auch in Galizien und Posen verfüge, sei bereit, mit den Russen die Gefahren des Umsturzes zu teilen und ihnen alle ihre Kräfte zur Verfügung zu stellen. Die Russische Geheime Gesellschaft stehe in Verbindung mit verschiedenen Geheimbünden Europas. Fürst Trubezkoj wäre schon im Jahre 1816 ins Ausland gereist, um den Verfassungsentwurf den größten Gelehrten zur Begutachtung vorzulegen; er hätte auch allgemein Anerkennung gefunden. Graf Polignac sei beauftragt worden, die Liberalen Frankreichs zu benachrichtigen, daß die Umwälzung in Rußland bald vor sich gehen werde. Fürst Wolkonskij, General Rajewskij, General Orlow, General Kisseljow, Juschnewskij, Pestel, Dawydow und viele andere Korps-, Divisions- und Regimentskommandeure gehörten der Gesellschaft als Mitglieder an. »Alle diese edlen Männer haben geschworen, ihr Leben für das Vaterland zu lassen!« schloß der Redner.

Golitzin wußte, daß der Verfassungsentwurf noch keinem Menschen im Auslande gezeigt worden war, daß weder General Kisseljow, noch General Rajewskij der Gesellschaft angehörten, daß Polignac sich um die Gesellschaft ebensowenig kümmerte, wie um den vorjährigen Schnee, und daß auch fast alles andere, was Bestuschew von der ungeheueren Bedeutung der Gesellschaft gesagt, erlogen war. »Wie kann er nur so gewissenlos lügen?« wunderte sich Golitzin.

»Das Wort hat Gorbatschewskij,« sagte der Vorsitzende.

»Wir, die Vereinigten Slawen, haben geschworen, unser Leben der Befreiung der slawischen Völker zu weihen, und dürfen diesen Schwur nicht verletzen,« begann Gorbatschewskij. »Werden wir denn unsere ursprünglichen Ziele verfolgen können, wenn wir uns mit dem Südbunde vereinigen? Werden unsere Ziele dem Südbunde nicht zu gering vorkommen, und wird er uns nicht verbieten, mit den übrigen slawischen Völkern Beziehungen zu unterhalten? Auf diese Weise würde er allerdings der Gegenwart die Zukunft opfern. Sind auch die Kräfte des Südbundes wirklich so bedeutend, wie Sie behaupten?«

Alles was er sagte, war durchaus klug, ehrlich und wahr; doch seine Wahrheit klang nach der Lüge Bestuschews so, wie das Kratzen eines Nagels auf Glas nach Musik klingt.

»Nein, Gorbatschewskij, Sie irren. Die Umgestaltung Rußlands wird allen slawischen Völkern den Weg zur Freiheit ebnen. Wenn Rußland einmal von den Tyrannen befreit ist, wird es auch Polen, Böhmen, Mähren, Serbien, Transsilvanien und die übrigen slavischen Länder befreien, überall Republiken errichten und sie zu einem Bundesstaat vereinigen,« entgegnete Bestuschew, und es klang wieder wie Musik.

»Wir verfolgen ja dasselbe Ziel; unsere Kräfte stehen euch zur Verfügung, doch unter der einzigen Bedingung, daß ihr euch in allen Dingen der Regierenden Duma des Südbundes fügt,« sagte er ganz nebenbei.

»Was für eine Duma? Wo ist sie? Aus wem besteht sie?« fragte Ssuchinow.

»Das darf ich Ihnen nach dem Statut der Gesellschaft nicht sagen,« erwiderte Bestuschew. »Sehen Sie sich aber, bitte, folgendes an ...«

Er nahm einen Bleistift und ein Blatt Papier zur Hand und zeichnete einen Kreis. In den Kreis schrieb er: »Regierende Duma«. Vom Mittelpunkt des Kreises zog er mehrere Radien und zeichnete am Ende eines jeden von ihnen einen kleinen Kreis.

»Der große Kreis oder sein Mittelpunkt ist die Regierende Duma; die Radien sind die Vermittler, und die kleinen Kreise – die Sektionen, die mit der Duma nie direkt, sondern immer durch die Vermittler verkehren.«

Alle drängten sich um Bestuschew, lauschten seinen Erklärungen und betrachteten die Zeichnungen mit solcher Ehrfurcht, als ob es ein Zauberzeichen wäre. Sascha reckte den Hals und blickte mit weit aufgerissenen Augen aufs Papier.

»Verstehen Sie es jetzt?« fragte Bestuschew Ssuchinow.

»Nichts verstehe ich,« sagte jener wieder mit solchem Gesichtsausdruck als ob ihm jemand auf ein Hühnerauge getreten wäre. »Zum Teufel Ihre Hieroglyphen! Wollen Sie mir doch die Sache ordentlich erklären, mein Herr! Wir brauchen Beweise ...«

»Nein, wir brauchen keine Beweise! Wir glauben Ihnen auch so!« riefen alle aus.

»Ja, wir glauben auch so!« rief Sascha lauter als alle anderen. »Wozu diese Neugierde? Ihr müßt euch glücklich schätzen, daß ihr an einer so nützlichen Sache mitwirken dürft ...«

Alle sahen ihn an, und er errötete.

»Was den bewaffneten Aufstand betrifft ... Ich weiß wirklich nicht,« begann ganz unerwartet Borissow. Er hatte bisher bescheiden in der Ecke gesessen und schien nichts zu sehen und nichts zu hören. Er rauchte stumm seine Pfeife und fing ab und zu Nachtfalter, die in die Flamme der Kerze flogen; er bemühte sich, ihnen die Flügel nicht zu verletzen, und ließ einen nach dem andern zum Fenster hinaus. »Sie sagten eben etwas von einem bewaffneten Aufstand, Bestuschew. Was heißt aber ein bewaffneter Aufstand? Ich weiß wirklich nicht ...«

»Bewaffneter Aufstand heißt die Empörung der Armee,« antwortete ihm Bestuschew. »Wenn die Armee genügend vorbereitet ist, kann man leicht jede beliebige Regierung stürzen. Wir haben zwei Arten von Revolution im Auge: erstens die französische, die vom Pöbel gemacht wurde und alle Schrecken der Anarchie mit sich brachte, und zweitens – die spanische, die von einer bewaffneten Macht sorgfältig vorbereitet war, doch den König belassen hat. Wir werden es besser machen, denn wir fangen damit an, daß wir den Zaren beseitigen ...«

»Wenn man einen Zaren beseitigt, kommt gleich ein anderer,« wandte Gorbatschewskij ein.

»Einen anderen Zaren wird es nicht geben!«

»Doch nach dem Gesetz von der Thronfolge ...«

»Es wird auch keine Thronfolge geben: wir werden dies alles vernichten!« Bestuschew strich mit der Hand über den Tisch, als ob er Staub abwische.

»Und die Dynastie? ...«

»Wir werden sie alle in Kronstadt auf ein Schiff setzen und ins Ausland abschieben.«

»Auch den Kaiser sollte man einfach ausweisen,« schlug Oberst Tiesenhausen vor. »Man muß jedes Blutvergießen vermeiden.«

»Es wird dabei fast kein Blut vergossen werden,« beruhigte ihn Bestuschew.

»Warum dieser Unsinn? ... Ich weiß wirklich nicht ... Gewiß wird Blut fließen!« sagte Borissow. Er fing wieder einen Nachtfalter und ließ ihn so vorsichtig zum Fenster hinaus, daß auch kein Stäubchen von seinen Flügeln herabfiel.

»Nach Ihren Worten zu schließen, Bestuschew,« begann wieder Gorbatschewskij, »wird die Revolution ausschließlich vom Militär, unter Ausschaltung des Volkes gemacht werden. Was für Garantien können Sie uns bieten, daß nicht eines der von der Armee erwählten Mitglieder Ihrer zukünftigen Regierung, von Bajonetten unterstützt, die autokratische Gewalt an sich reißt?«

»Schämen Sie sich nicht, so zu sprechen?« rief Bestuschew aus. »Wie können Sie annehmen, daß wir, die wir im Kampfe um die Freiheit unseren Kaiser töten wollen, das Joch eines Thronräubers dulden werden?! ...«

»Meine Herren, wir wollen doch auf die Hauptsache zurückkommen! Es ist spät, und wir haben noch immer nicht beschlossen, ob wir uns mit dem Südbunde vereinigen sollen,« sagte Spiridow. »Wollen Sie abstimmen?«

»Nein, nicht abstimmen! Wir nehmen den Vorschlag an!« riefen alle einstimmig, und Sascha schrie wieder lauter als alle anderen.

»Herr Sekretär,« wandte sich Spiridow zu einem stillen und bescheidenden jungen Mann in einem abgetragenen grünen Zivilrock; es war der Beamte der Intendantur, Ilja Iwanowitsch Iwanow, der Sekretär der Slawen. »Tragen Sie ins Sitzungsprotokoll ein: die beiden Gesellschaften vereinigen sich.«

Bestuschew bat ums Wort und sagte sehr feierlich:

»Meine Herren! Die Regierende Duma macht ihnen einen Vorschlag, und ich beehre mich, ihn ihnen zu unterbreiten: der Aufstand soll im nächsten Jahre, 1826, beginnen und in keinem Falle aufgeschoben werden. Im August wird der Kaiser der Truppenrevue des 3. Armeekorps beiwohnen, und bei dieser Gelegenheit soll das Schicksal der Autokratie entschieden werden: der Tyrann wird fallen, wir werden das Banner der Freiheit erheben, nach Moskau marschieren und die Konstitution proklamieren. Vornehme Gesinnung soll einen jeden von uns zur Vollbringung der großen Tat beseelen. Es ist zu beschämend, daß 50 Millionen von einem einzigen Menschen abhängen und sein Joch tragen. Man muß das Böse vernichten und frei werden. Wir werden die Freiheit und das Glück Rußlands begründen und für alle Ewigkeit befestigen. Die Befreier erwartet ewiger Ruhm bei den Nachkommen und ewiger Dank des Vaterlandes!«

Er ließ seine Blicke über die Zuhörer schweifen und blieb unwillkürlich auf Saschas Gesicht haften: es war so schön, wie das Gesicht eines sechzehnjährigen Mädchens, welches zum ersten Male im Leben Worte der Liebe hört, ohne noch zu wissen, was Liebe bedeutet. »Ist nicht Bestuschews Lüge schon durch dieses Gesicht allein gerechtfertigt?« dachte sich Fürst Valerian.

»Meine Herren, wollen Sie den Antrag der Regierenden Duma annehmen?« fragte der Vorsitzende.

»Wir nehmen ihn an! Wir sind einverstanden!« antworteten alle.

»Ich bin nicht einverstanden!« schrie Kusmin auf, mit der Faust auf den Tisch schlagend.

»Was wollen Sie denn?«

»Sofort anfangen!«

»Was fällt Ihnen ein, Kusmin, ist es denn möglich?«

»Keine Übereilung, Nastasjuschka, gut Ding will Weile haben,« suchte ihn Masilewskij zu beruhigen.

»Was zieht ihr es noch hinaus, daß euch alle der Teufel! Frisch gewagt, ist halb gewonnen! Freunde, Brüder, bestimmt doch den Tag, setzt doch um Christi willen den Tag für den Aufstand fest!« schrie Kusmin wie ein Wahnsinniger.

»Den Tag, die Stunde und die Minute nach der Uhr!« bemerkte lachend Oberst Tiesenhausen.

Die anderen lachten aber nicht. Kusmin steckte sie alle mit seinem Wahnsinn an. Es war, als ob ein Sturmwind in die Versammlung gefahren wäre. Alle sprangen auf und schrien laut durcheinander. Der Vorsitzende schwang die Glocke, um den Lärm zu besänftigen, mußte es aber aufgeben. Im allgemeinen Geschrei hörte man nur einzelne Ausrufe:

»Kusmin hat recht!«

»Man soll sofort anfangen!«

»Das Eisen schmieden, solange es heiß ist!«

»Das ewige Aufschieben ist unser Verderben!«

»Wenn ich nur meine Soldaten um mich habe, kann mir niemand beikommen!«

»Wir wollen auf den Bajonetten sterben!«

»Das ganze Regiment, die ganze Division aufwiegeln!«

»Die Generäle Roth und Toll verhaften!«

»Das Korpsquartier besetzen!«

»Auf Schitomir marschieren!«

»Auf Kiew!«

»Auf Petersburg!«

»Die 8. Kompagnie beginnt!«

»Nein, ich werde es niemand anderem erlauben! Ich werde anfangen, ich!«

»Wer an der gemeinsamen Sache nicht teilnimmt, bekommt zehn Kugeln in den Kopf!« schrie der kleine, volle, runde Fähnrich Bestschasnyi mit dem Gesicht eines Wachsengels.

»Eine Kugel tut's auch,« bemerkte Masilewskij.

»Ich schwöre, die Freiheit mit meinem Blute zu erkaufen! Ich schwöre, die Freiheit mit meinem Blute zu erkaufen!« dröhnte ununterbrochen, alle Stimmen übertönend, Artamon Sacharowitsch. Plötzlich hielt er inne, fuchtelte mit den Händen, schlug sich auf den Bauch und rief noch lauter:

»Wenn Sie wollen, meine Herren, will ich gleich beim Evangelium schwören, daß ich morgen nach Taganrog gehe und ihm den Todesstreich versetze!«

»Hört, Hört! Ssergej Murawjow spricht!«

Murawjow sprach fast nie in Versammlungen, und als er jetzt plötzlich anfing, waren alle so sehr erstaunt, daß es auf einmal ganz still wurde.

»Meine Herren, morgen werden wir nicht anfangen,« sagte Murawjow sehr ruhig. »Wenn wir morgen anfangen, verderben wir die ganze Sache. Man sagt, daß die Soldaten bereit seien ... Es soll aber ein jeder von uns sich fragen, ob er auch selbst bereit sei. Viele sprechen ja jetzt von ihrer Entschlossenheit; wenn es zum Handeln kommt, wo bleibt dann ihr Mut? Wenn meine Worte verletzend sind, verzeihen Sie es mir, doch wenn man in den Tod geht, muß man seine Würde bewahren; was wir aber jetzt tun, ist vernünftiger Menschen unwürdig. Nein, morgen können wir nicht anfangen; doch das eine können wir morgen tun: den Eid leisten, daß ein jeder von uns beim ersten Signal zu den Waffen greift. Sind Sie damit einverstanden?«

Er schwieg. Es wurde auf einmal so still, daß man hören konnte, wie die Wipfel der Fichten im Walde rauschten; die stummen Wetterleuchten schienen noch stummer. Alles, was soeben, als alle laut sprachen und schrien, so leicht erschien, wurde jetzt, da alle plötzlich schwiegen, schwer und unheimlich. Es war, als ob alle erst jetzt begriffen, daß ihre Worte in Taten umgesetzt werden sollten und daß sie jedes Wort verantworten werden müssen.

Der Vorsitzende fragte, ob der Antrag Murawjows angenommen oder abgelehnt sei.

»Angenommen! Angenommen!« riefen nur wenige Stimmen; man sah es aber allen Gesichtern an, daß alle damit einverstanden waren.

Man beschloß noch, morgen zum letzten Male im gleichen Hause zusammenzukommen, um den von Murawjow vorgeschlagenen Eid zu leisten; dann gingen alle auseinander.

»Wie herrlich, mein Gott, wie herrlich! Ich hatte es mir gar nicht so vorgestellt! Bei dem stumpfsinnigen Leben weiß man gar nicht, was es für herrliche Dinge in der Welt gibt ...«, sagte Sascha. Man konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, seiner Stimme hörte man aber an, daß er lächelte; er wußte wohl selbst nicht, was er sagte: er war wie im Rausche.

Über dem hellen Kreise, der sich um eine einzelne Laterne auf dem Waldwege breitete, hing die dunkle Nacht, schwarz wie Ruß. Es wetterleuchtete noch immer; himmlische Verschwörer gaben den irdischen Verschwörern geheimnisvolle Zeichen. Sooft ein Wetterleuchten aufflackerte, sah man alles wie am Tage: die weißen Häuser von Mlinischtsche an dem einen Ende des Durchhaues, und am anderen Ende, am Abhange über der Gujwa – die weißen Zelte des Lagers, in der Ferne Wiesen, Hügel, Waldungen und schwere Gewitterwolken, die sehr tief über der Erde dahinzogen. Nach jedem Wetterleuchten erschien die Dunkelheit noch schwärzer, noch undurchdringlicher. Die kurzen Lichtblicke waren wunderbar und schrecklich, wie die ersten Lichtstrahlen, die ein geheilter Blindgeborener empfängt.

Vor Golitzin gingen einige blutjunge Fähnriche der 8. Artilleriebrigade, die eben erst in die Gesellschaft eingetreten waren; darunter auch Sascha. Sie sprachen miteinander, und Golitzin konnte einzelne Bruchstücke ihres Gesprächs hören; er hatte den Eindruck, daß sie alle nicht wußten, was sie sagten, und wie im Traume phantasierten.

»Das Ziel der Gesellschaft ist, allen Menschen die gleichen Vorteile zu verschaffen; es sind dieselben Vorteile, die der Schöpfer dem ganzen Menschengeschlecht zugedacht hat.«

»Nicht der Schöpfer, sondern die Natur.«

»Nur eine solche Regierung kann gut und glücklich sein, die die Menschenrechte achtet.«

»Die republikanische Regierung ist die beste.«

»Wenn wir in Rußland die Republik haben, wird sofort alles zur höchsten Blüte gelangen: Wissenschaften, Künste, Handel und Gewerbe.«

»Die ganze bestehende Ordnung wird verändert werden.«

»Alles wird neu gestaltet.«

Golitzin mußte unwillkürlich an die Worte der Apokalypse denken: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.«

Ssergej Murawjow, Bestuschew und Golitzin gingen den Abhang hinunter, trafen auf der Landstraße ihre Burschen, die mit den Pferden warteten, und ritten ins Leschtschiner Lager.

Bestuschew schwieg. Wie es mit ihm oft nach Augenblicken der Begeisterung war, schien er plötzlich wie erloschen. Man mußte an ein Glühwürmchen beim Tageslicht denken: statt des märchenhaften Lichtes sieht man nur ein unansehnliches graues Würmchen. Auch Murawjow schwieg. Als Golitzin bei einem Wetterleuchten sein Gesicht ansah, mußte er wieder über den Ausdruck von Wehrlosigkeit und Todgeweihtheit, den er bei der ersten Zusammenkunft an ihm bemerkt hatte, staunen: ein Zweig mit zarten Frühlingsblättern in grimmigem Frost.

Sascha konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen; er dachte immer an die bevorstehende Versammlung, und als er endlich einschlief, träumte er seinen glücklichsten Traum: er sah eine runde Glasvase mit klarem Wasser, in dem Goldfische herumschwammen; die Goldfische blickten ihn so an, als ob sie zu ihm sagen wollten: »Wußtest du denn nicht, daß alles neu ist?« Er erwachte glückselig und dieses Gefühl verließ ihn auch den ganzen Tag nicht.

Die Versammlung war für eine späte Nachtstunde vor dem Morgengrauen angesetzt, denn die Verschwörer glaubten bemerkt zu haben, daß man sie beobachte. Die Nacht war wieder schwarz und schwül; statt der Wetterleuchten zuckten jetzt aber Blitze, von leisem, gleichsam unterirdischem Grollen eines fernen Donners begleitet; die Fichten stöhnten und brausten, von plötzlichen Windstößen geschüttelt; dann trat eine lautlose Stille ein, in der sich das Krähen der ersten Hähne ungewohnt und unheimlich anhörte.

Als Sascha zu Andrejewitsch kam, und die Gesichter der Verschwörer sah, glaubte er, daß alle ebenso glücklich seien, wie er selbst. Das Haus war aufgeräumt, die Stube sauber gekehrt, die Bänke und die Fenster gewaschen. Auf dem Tische lag ein reines weißes Tischtuch. In den sorgfältig geputzten Messingleuchtern brannten statt der Talgkerzen Wachslichter; auf dem Tische lag ein altes Freimaurer-Evangelium, in karmesinroten Samt gebunden, und ein bloßer Degen: die Slawen pflegten bisher auf das Evangelium und den Degen zu schwören; Andrejewitsch wußte nicht, nach welchem Ritual der heutige Eid geleistet werden sollte, und legte für jeden Fall Degen und Evangelium bereit.

Major Spiridow hatte seine Paradeuniform mit sämtlichen Orden angelegt; der Sekretär Iwanow trug einen neuen kirschroten Frack mit weißem Jabot. Der Wachsengel Bestschasnyi roch nach »Pariser Maiglöckchenparfüm«, das aus Berditschew stammte. Kusmins Haare standen zwar noch immer nach allen Seiten, man konnte ihnen aber ansehen, daß er versucht hatte, sie zu kämmen. »Die liebe Nastasjuschka, der gekämmte Igel!« sagte sich Sascha gerührt, als er Kusmin anblickte.

Alle sprachen leise, wie in der Kirche vor der Messe. Man bewegte sich langsam und scheu, vermied es, einander in die Augen zu sehen; man schämte sich, ohne selbst zu wissen warum, und wußte nicht, wie man sich benehmen sollte. Alle blickten so still und feierlich drein wie Kinder an großen Festtagen. Der Abgrund, der die beiden Gesellschaften voneinander trennte, war gleichsam verschwunden; sie waren alle wie durch eine neue Verschwörung, die viel schrecklicher und geheimnisvoller als alles Frühere war, neu verbunden.

Alle waren versammelt. Artamon Sacharowitsch und Hauptmann Pychatschow fehlten noch. Oberst Tiesenhausen war zwar erschienen, erklärte aber, daß er nicht schwören werde.

»Der Eid ist ganz überflüssig: wenn es nötig ist, anzufangen, fange ich auch ohne Eid an; im Evangelium heißt es: Ich aber sage euch, daß ihr allerdings nicht schwören sollt ...«

Man widersprach ihm nicht, doch ersuchte ihn, sich zu entfernen.

»Ich habe durchaus nicht die Absicht, irgendwie zu stören. Machen Sie nur, was Ihnen beliebt ...«

Dies bedeutete: »Wenn ihr durchaus eure Narrenpossen treiben wollt, so tut es nur ungeniert!«

»Gehen Sie fort!« sagte Ssuchinow leise, doch so bestimmt, daß Tiesenhausen ihn erstaunt anblickte. Er wollte ihm zuerst etwas erwidern, zuckte aber nur die Achseln, lächelte und verließ das Haus.

Ssergej Murawjow saß, den Kopf in die Hände gestützt, mit geschlossenen Augen. Als Tiesenhausen sich entfernt hatte, warf er Golitzin einen stummen Blick zu, als ob er fragen wollte: »Finden Sie es schön?« – »Ja,« erwiderte Golitzin, gleichfalls mit einem stummen Blick.

Bestuschew machte sich irgendwelche Notizen, kaute an den Nägeln und blickte finster drein. Er bereitete sich wohl auf eine Rede vor.

»Ist es nicht Zeit, daß wir anfangen, meine Herren?« sagte jemand.

Bestuschew sah sich noch einmal seine Notizen durch, stand auf und begann:

»Das Zeitalter Napoleons, das Zeitalter des Kriegsruhms ist zu Ende; jetzt bricht die Zeit der Befreiung der Völker an. Werden denn die Russen, die sich durch glänzende Heldentaten im Kriege ausgezeichnet haben, die Europa vom Joche Napoleons befreit haben, nicht auch ihr eigenes Joch von sich werfen und sich durch edlen Eifer auszeichnen, wenn es die Befreiung und die Umgestaltung des Vaterlandes gilt? ...«

– Es ist nicht das Richtige! – sagte er sich. Er vermied es, seine Zuhörer anzublicken, denn er wußte, daß sie dasselbe fühlten. Er schämte sich: hatte Tiesenhausen vielleicht doch recht?

Plötzlich vergaß er, was er sagen wollte, und las nach dem Konzept weiter:

»Schauen Sie nur hin, wie arg bedrückt unser Volk ist; der Handel ist heruntergekommen, die Gewerbe sind vernichtet, die allgemeine Verarmung ist so groß, daß das Volk selbst die Steuerrückstände nicht aufbringen kann; die Soldaten murren. Unter diesen Umständen kann unsere Gesellschaft mit großem Nachdruck auftreten. Sie wird bald mit ihrer Tätigkeit beginnen und Rußland, vielleicht auch ganz Europa, befreien. Die nach Freiheit lechzenden Völker Europas werden nur von der russischen Armee im Zaume gehalten; sobald diese Armee selbst die Freiheit proklamieren wird, werden sich auch alle Völker erheben ...«

– Es ist noch immer nicht das Richtige! – Er fühlte sich aus der Fassung gebracht und befangen, wie ein durchgefallener Schauspieler auf der Bühne, oder wie ein schlechter Schüler im Examen. Er warf seinen Zettel weg, fuchtelte mit den Händen wie ein Ertrinkender und rief aus:

»Im nächsten Jahre muß alles ein Ende nehmen! Die Autokratie wird von ihrer Höhe stürzen, Rußland wird von Sklaverei erlöst werden, und Gott wird uns helfen! ...«

Er sprach die Worte: »Gott wird uns helfen« ganz zufällig, beinahe unbewußt; und plötzlich fühlte er, daß dies eben das Richtige war.

»Gott wird uns helfen! Gott wird uns helfen!« wiederholten alle wie ein Mann. Alle erhoben sich, als ob sie plötzlich begriffen hätten, was zu tun war. Auch Bestuschew hatte es begriffen. Er knöpfte seinen Rock auf und holte das kleine Heiligenbild hervor, das er auf der Brust trug. Seine Hände zitterten so sehr, daß es ihm nicht gelingen wollte, die Schnur zu lösen. Der Sekretär Iwanow, der neben ihm stand, half ihm dabei.

Bestuschew blickte auf das dunkle in Gold gefaßte Antlitz der schmerzhaften Mutter Gottes. Er mußte an seine alte Mutter denken und an die Stunde, als sie ihn vor dem Tode zu sich rief. Etwas schnürte ihm die Kehle zusammen, und er konnte nicht sprechen. Endlich sagte er:

»Ich schwöre ... Mein Gott, mein Gott ... Ich schwöre, für die Freiheit zu sterben!«

Er wollte noch viel mehr sagen, doch er brachte nur die Worte heraus:

»Rußland ist die Mutter ... Die schmerzhafte Mutter! ...« Er kam nicht weiter. Er weinte, bekreuzigte sich, küßte das Heiligenbild und reichte es Iwanow. Das Bild ging von Hand zu Hand, und alle schworen.

Viele hatten sich schöne Worte für den Schwur vorbereitet, vergaßen aber alles im letzten Augenblick; sie begannen hochtrabend wie Bestuschew, kamen nicht weiter und begannen zu stottern.

»Ich schwöre, mein Vaterland über alles zu lieben!«

»Ich schwöre, euch, meine Freunde, von diesem für mich so heiligen Augenblicke an, in allen Dingen beizustehen!«

»Ich schwöre, daß ich immer tugendhaft sein werde!« stammelte Sascha schluchzend.

»Ich schwöre: die Freiheit oder der Tod!« sagte Kusmin; seinem Gesicht sah man an, daß es sein Ernst war.

Als die Reihe an Borissow kam, nahm sein Gesicht einen seltsamen Ausdruck an; Golitzin mußte an das Gespräch in Wassilkow denken: »Wenn man es ausspricht, ist gleich alles dahin.« Er bekreuzigte sich, reichte das Heiligenbild, ohne es zu küssen, weiter, nahm den bloßen Degen, küßte ihn und sprach den Eid der Slawen:

»Ich schwöre, meinen letzten Atemzug der Freiheit zu weihen! Und wenn ich diesen Eid breche, möge die Spitze dieser Waffe sich gegen mein Herz wenden!«

»Behüte und errette uns, reine Himmelskönigin, und sei uns gnädig!« wiederholte Fürst Valerian die Worte der sterbenden Sophie.

»Es soll nur einen König im Himmel wie auf Erden geben – Jesum Christum!« zitierte Ssergej Murawjow seinen Katechismus.

Die Schwüre wechselten mit Ausrufen ab:

»Es lebe die Konstitution!«

»Es lebe die Republik!«

»Nieder mit den Standesunterschieden!«

»Nieder mit den Tyrannen!«

Und alle Rufe schlossen mit der gleichen Beteuerung:

»Wir sterben, wir sterben für die Freiheit!«

»Warum soll man sterben?« rief Bestuschew aus, der ganz vergessen hatte, daß er selbst soeben geschworen, sein Leben zu lassen. »Das Vaterland ist immer dankbar: es belohnt freigebig seine treuen Söhne. Ihr seid noch jung, und euer Lohn wird nicht der Tod, sondern Ruhm und Glück sein!«

»Nein! Nein!«

»Wenn Sie von einer Belohnung sprechen, beleidigen Sie uns!«

»Nicht um der Belohnung willen, nicht um des Ruhmes willen wollen wir Rußland befreien!«

»Wir wollen bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, – dies sei unser Lohn!«

Man umarmte und küßte sich; alle weinten.

»Bald werden wir alle glücklich sein! Bald werden wir alle glücklich sein!« sprach Sascha wie im Rausche.

Golitzins Herz war von einer solchen Freude ergriffen, als ob schon alles in Erfüllung gegangen wäre, als ob sich die Prophezeiung erfüllt hätte:

»Es soll nur einen König im Himmel wie auf Erden geben – Jesum Christum.«


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