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V.

Anfangs Mai wurden die Mitglieder der Geheimen Gesellschaft zu einer Sitzung geladen, auf der über die Vorschläge Pestels beraten werden sollte. Die Versammlung fand bei Rylejew statt.

In der kleinen Wohnung war alles auf den Kopf gestellt. Alle überflüssigen Möbel waren hinausgetragen; die Türen des Arbeitszimmers und des Gastzimmers standen weit offen; Natascha und Nastenjka wurden für diesen Abend bei Bekannten einquartiert.

Die Sitzung sollte um acht Uhr beginnen, die Mitglieder sammelten sich aber schon um sieben. Das war etwas ganz Ungewohntes: denn sonst kamen sie entweder zu spät, oder überhaupt nicht. Die Gesichter drückten Unruhe und Feierlichkeit aus. Viele erschienen in Uniform und mit Orden. Man unterhielt sich ganz leise; wenn jemand rauchen wollte, so mußte er in die Küche gehen. Pestel wurde mit großer Ungeduld erwartet. So oft die Türe ging, wandten sich alle um.

Nikita Michailowitsch Murawjow, Hauptmann im Generalstab der Garde, saß etwas abseits von den andern und las Schriftstücke, auf denen er hie und da Randbemerkungen machte. Er hatte das Äußere eines typischen Petersburger Beamten: er war in den Dreißigern und hatte eine gelbliche, hämorrhoidale Gesichtsfarbe, gelbliche, dünne Haare und gelbliche, kurzsichtige Augen. So oft der Bleistift, mit dem er seine Notizen machte, stumpf wurde, spitzte er ihn höchst sorgfältig: er konnte nur mit ganz spitzen Bleistiften schreiben; dies war auch eine Eigentümlichkeit von Speranskij, den er verehrte und dem er unbewußt alles nachmachte. Nach jedem zweiten oder dritten Wort mußte der Bleistift neu gespitzt werden; er hob das Papier jedesmal mit der gleichen Gebärde zu seinen kurzsichtigen Augen und blies den Graphitstaub mit einer so besorgten Miene weg, als ob davon das Schicksal der bevorstehenden Sitzung abhinge. Der Autor der Nordischen Verfassung bekämpfte die extrem-republikanischen Ansichten Pestels; er wollte sich zum bevorstehenden Kampfe vorbereiten, war aber zu aufgeregt und konnte daher seine Gedanken nicht sammeln.

Die Freunde hielten ihn für das einzige staatsmännisch begabte Mitglied der Gesellschaft; sie sagten, Murawjow werde im zukünftigen Rußland dasselbe bedeuten, was Speranskij für das gegenwärtige Rußland bedeutete. Der vorsichtige und gemäßigte Theoretiker verfaßte die Gesetze der Russischen Verfassung mit derselben peinlichen Präzision, mit der ein Uhrmacher alle die Federchen, Rädchen und Schräubchen unter der Lupe zusammenfügt. Er arbeitete in der Geheimen Gesellschaft, wie man in einer Ministerialkanzlei arbeitet. Alles, was schriftlich niedergelegt war, betrachtete er als geschehen. Obwohl er eine Revolution für notwendig hielt, fürchtete er sie doch wie alles Extreme. Pestel pflegte ihn im Scherz mit einem Menschen zu vergleichen, der aus dem Wege zum Schafott in die Ohren Watte stopft, um sich vor Erkältung zu schützen. Diese ewige Watte in den Ohren, dann seine Frau und seine Hämorrhoiden hinderten ihn an seiner revolutionären Betätigung; so oft die Sache brenzlich wurde, brachte ihn seine Frau aufs Landgut und hielt ihn dort so lange eingesperrt, bis alles wieder ruhig wurde.

Während er den Bleistift spitzte, lauschte er unwillkürlich den um ihn schwirrenden Gesprächen.

Man unterhielt sich ausschließlich über Pestel. Man sprach von seinem Vater, der früher Generalgouverneur von Sibirien war, dann aber wegen Gesetzverletzung und Bestechlichkeit vors Gericht kam und seines Postens enthoben wurde; doch »der Apfel fällt nicht weit vom Baume«: auch von Pestel hieß es, daß er die ihm untergebenen Offiziere tyrannisiere und die Soldaten für die geringsten Vergehen prügeln lasse.

»Er mag sie aber prügeln so viel er will: sie sind ihm alle treu ergeben und behaupten, daß es keinen besseren Regimentskommandeur geben könne.«

»Fürst Witgenstein, der Oberbefehlshaber der zweiten Armee, hat ja von ihm gesagt: Er läßt sich überall verwenden; man kann ihn ebensogut zum Generalissimus wie zum Minister ernennen: er wird sich auf jedem Posten bewähren.«

»Der Kaiser war bei der Truppenrevue vor Tultschin über Pestels Regiment entzückt; er geruhte zu sagen: ›Ausgezeichnet! Ganz wie bei der Garde!‹ und verlieh Pestel dreitausend Djessjatinen Land. Als er aber später erfuhr, daß Pestel bei der Geheimen Gesellschaft sei, soll er ordentliche Angst bekommen haben.«

»Der Kaiser hat überhaupt Angst vor uns,« bemerkte Bestuschew lächelnd und an seinem Schnurrbart zupfend.

»Puschkin hat ja auch einmal gesagt: Pestel ist klug im vollen Sinne dieses Wortes.«

»Ja, klug ist er wie der Satan, hat aber kein Herz,« nörgelte Küchel.

»Er ist einfach ein schlauer Despot und will uns in seine Gewalt bekommen. Ich weiß schon, was er für ein Vogel ist!« behauptete Bestuschew.

»Er wird nichts erreichen, uns aber alle zugrunde richten!« warnte Odojewskij.

»Er hat mir wirklich Grauen eingeflößt!« gestand Rylejew. »Man muß ihm etwas die Flügel stutzen, sonst wird er sich der Gesellschaft bemächtigen und wie ein Diktator walten.«

»Ich kenne diese Napoleons von der Linie!« rief verächtlich Jakubowitsch. Die gemeinsame Abneigung gegen Pestel hatte ihn mit Rylejew wieder versöhnt, um so mehr als Glafira nach Tschuchloma abgereist war.

»Er ist Napoleon und Robespierre in einer Person! Wartet nur, wenn er erst die Gewalt in der Hand hat, werdet ihr was erleben!« schloß Batenkow.

Während alle diese Reden hin und her schwirrten, blickte Fürst Valerian Michailowitsch Golitzin zum Fenster hinaus. Er sah den Abendstern auf dem grüngoldenen Himmel schweben und dachte an die Augen des sterbenden Mädchens. Was ist ihm mehr wert: ihre Errettung oder die Errettung Rußlands? Wenn auch wirklich die Revolution zustande kommt, was hat sie für einen Wert, wenn Sophie sterben muß? Warum soll das Schicksal eines einzelnen Menschen weniger bedeuten als das Schicksal der Menschheit? Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse? Hat nicht der Mensch, der gesagt hat: »Die Politik ist nur für den Pöbel«, vor dem Tode und vor der Ewigkeit doch recht? Wie anders ist doch alles, was diese Leute sagen, als der Abendstern auf dem grüngoldenen Himmel und als die Augen des sterbenden Kindes.

Wie verschieden, wie unvereinbar sind diese Dinge! Das Wort »unvereinbar« gebrauchte er in der letzten Zeit immer häufiger. Es gibt drei Wahrheiten: die eine gilt, wenn der Mensch allein ist; die zweite – wenn zwei Menschen beisammen sind; die dritte – wenn ihrer drei oder mehr beisammen sind. Diese drei Wahrheiten sind unvereinbar, wie auch das Meiste im Leben unvereinbar ist. »Entsetzlich unvereinbar ist alles!«

»Er! Er!« flüsterte man plötzlich, und alle Blicke richteten sich auf den Eintretenden.

Golitzin hatte einmal auf der Leipziger Messe in einem Wachsfigurenkabinett eine Napoleonfigur gesehen, die vom Stuhl aufstehen und den Kopf wenden konnte. Pestels eckige und hastige Bewegungen erinnerten ihn an diese Puppe, während der schwere, starre Blick seiner Augen, die etwas zu schielen schienen, ihn aber an einen Schulfreund, der später an Fallsucht erkrankt war, erinnerte.

Man setzte sich in Ledersesseln mit hohen Rücklehnen um einen langen Tisch, der mit einem grünen Tuch bedeckt war, und auf dem ein Tintenfaß aus Malachit, eine Bronzeglocke für den Vorsitzenden und einige Bronzekanbelaber standen: alle diese Sachen hatte Rylejew aus der Russisch-amerikanischen Kompagnie entliehen. Obwohl es noch recht hell war, wurden die Kerzen angezündet: dies sollte dem Ganzen einen feierlichen Anstrich geben. Der Hausherr besah sich noch einmal die ganze Ausstattung; er war mit ihr sehr zufrieden, denn alles sah wie in einem wirklichen Parlament aus.

»Meine Herren, ich eröffne die Versammlung,« verkündete der Vorsitzende Fürst Trubezkoj, wobei er ein Glockenzeichen gab; letzteres war ganz überflüssig, denn im Zimmer war es ohnehin still. »Das Wort hat der Direktor des Südbundes, Oberst Pawel Iwanowitsch Pestel.«

»Unsere Lektion schlägt eine Vereinigung des Nordbundes mit dem Südbunde auf folgender Basis vor,« begann Pestel. »Erstens: es wird ein gemeinsamer Diktator für die beiden Bünde anerkannt. Zweitens: diesem Diktator wird bedingungsloser und vollkommener Gehorsam geleistet. Drittens: der Weg der Aufklärung der Massen und der allmählichen Einwirkung auf die öffentliche Meinung wird aufgegeben und an Stelle der in unseren Statuten enthaltenen hohlen Sätze (die ja nur für den Anfang und für ängstliche Gemüter gut waren) werden wirksamere und kräftigere Beschlüsse gesetzt; ferner – es wird die Verfassung des Südbundes angenommen und durch Eid bestätigt, daß es keine andere Verfassung in Rußland geben soll ...«

»Verzeihen Sie, Herr Oberst,« unterbrach ihn der Vorsitzende in jenem übertrieben höflichen und milden Ton, in dem er immer zu sprechen pflegte. »Damit es keine Mißverständnisse gibt, gestatten Sie mir die Frage: ist Ihre Verfassung eine republikanische?«

»Ja.«

»Wer soll Diktator werden?« versetzte Nikita Murawjow wie vor sich hin, doch immerhin so laut, daß es alle hören mußten. In dieser Frage war offenbar eine andere enthalten: »Vielleicht Sie?«

»Diese Person soll von den Herren Mitgliedern der Gesellschaft gewählt werden,« antwortete Pestel etwas unfreundlich: er hatte wohl den in der Frage verborgenen Stachel bemerkt.

»Will einer der Herren etwas zu diesen Vorschlägen sagen?« fragte der Vorsitzende, die Versammlung überblickend.

Alle schwiegen.

»Bevor wir über die Möglichkeiten einer Vereinigung diskutieren können, müssen wir doch genau die Absichten des Südbundes kennen lernen,« fuhr Trubezkoj fort.

»Die Tätigkeit beider Verbände soll gleichförmig und in gleicher Ordnung ...« begann Pestel.

»Verzeihen Sie, Pawel Iwanowitsch,« unterbrach ihn Trubezkoj ebenso höflich und sanft wie vorhin, »Wir wünschen möglichst genau und bestimmt Ihre allernächsten Absichten und die ersten Schritte, die Sie zu tun gedenken, kennen zu lernen.«

»Unsere erste und wichtigste Aufgabe ist, – durch Empörung der Truppen und Abschaffung des Thrones eine Revolution hervorzurufen,« begann Pestel etwas gereizt, jedes einzelne Wort betonend: es ärgerte ihn, daß man ihn unterbrach und nicht zum Worte kommen ließ. »Der Synod und der Senat müssen gezwungen werden, eine provisorische Regierung mit unbeschränkter Gewalt zu proklamieren ...«

»Mit unbeschränkter, autokratischer Gewalt?« fragte Murawjow ganz leise.

»Ja, wenn Sie wollen, mit autokratischer Gewalt.«

»Wer soll aber der Autokrat sein?«

Pestel beantwortete diese Frage nicht, als hätte er sie einfach überhört.

»Das Allerwichtigste ist aber die Beseitigung des regierenden Hauses,« schloß Pestel.

»Das ist es ja, was wir von Ihnen wissen wollen,« fiel Trubezkoj ein: »Wie stellt sich der Südbund gerade zu dieser Frage?«

»Die Antwort ist klar,« erwiderte Pestel noch finsterer. »Die Ermordung eines einzelnen muß zur Bildung von feindlichen Parteien führen und Streitigkeiten und alle Schrecken eines Bürgerkrieges heraufbeschwören. Es ist unbedingt notwendig – alle auszurotten ...«

Er sagte dies so einfach und ruhig, als ob es sich um den Satz, daß die Summe der Winkel im Dreieck zwei rechte Winkel beträgt, handelte. Diese Ruhe, mit der er die blutleeren Worte vom Blut sprach, schien ganz widernatürlich.

– Ein Automat! – sagte sich Golitzin, – ein Automat oder ein Besessener? –

Als Pestel zu Ende war, schlugen alle unwillkürlich die Augen nieder und wagten kaum zu atmen. Es wurde so still, daß man das Knistern der Kerzen und das gemütliche Summen des Heimchens hinter dem Ofen hörte. Eine schwüle Stille lastete auf allen.

»Wenn wir auch vom grauenhaften Eindruck, den diese Morde machen müssen und von dem Abscheu, die die Mörder im Volke erwecken werden, absehen,« begann Trubezkoj, mit großer Anstrengung das unerträgliche Schweigen unterbrechend, »so ist immer noch die Frage offen, ob Rußland für die neue Ordnung genügend reif ist?«

»Je länger die alte Ordnung dauern wird, um so weniger wird Rußland für die neue Ordnung reif sein. Zwischen Gut und Böse, Freiheit und Sklaverei darf es keine Mitte geben. Wenn wir uns selbst darüber noch nicht klar sind, so können wir überhaupt nicht verhandeln,« sagte Pestel die Achseln zuckend.

Trubezkoj wollte noch etwas einwenden.

»Gestatten Sie, Herr Vorsitzender, daß ich zuerst meine Ansichten ordentlich darlege,« unterbrach ihn Pestel bestimmt und trocken.

»Wir bitten Sie darum, Herr Oberst.«

Wie im Gespräch mit Rylejew begann er auch jetzt »mit dem Zeitalter Nimrods«. Seine anscheinend improvisierten, in der Tat aber immer sorgfältig vorbereiteten Reden waren rein mathematisch aufgebaut: er ging vom Allgemeinen aus und kam allmählich auf die Einzelfälle.

»Bei den Ereignissen der Jahre 1812, 13, 14 und 15, wie auch in den vorhergehenden und folgenden Epochen wurden so viele Throne gestürzt, Reiche vernichtet und Umwälzungen vollbracht, daß die Völker genau das Wesen der Revolution, ihre Möglichkeiten und die zu ihrem Gelingen notwendigen Vorbedingungen kennen müssen. Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Charakter. Der Charakter des unsrigen ist revolutionär. Der Geist der Revolution zieht von einem Ende Europas zum andern, von Portugal bis Rußland und bringt selbst in so verschiedenartigen Staaten wie England und der Türkei die Gemüter in Wallung ...«

Er sprach durchaus literarisch, gebrauchte zuweilen schwerfällige Ausdrücke der Amtssprache und ersetzte die Fremdworte durch plumpe von ihm selbst erfundene russische Neubildungen: statt Revolution sagte er »Umwandlung«, statt »Tyrannei« – »Zwingherrschaft«, statt »Republik« – »Volksregierung«. »Ich liebe die ausländischen Worte nicht,« pflegte er zu sagen.

Puschkin hatte einmal den Dichter Rylejew – »Planmacher« genannt. Auch Pestel war in der Politik durchaus Planmacher. In seinen abstrakten Plänen flammte aber ein starker Wille: auch Eiskristalle scheinen im Mondlicht zu flammen. Er sprach wie ein herrschender, und der Reiz seiner Logik nahm einen gefangen wie Musik oder Frauenreiz.

Die einen waren bezaubert, die andern erzürnt; manche bezaubert und erzürnt zugleich. Alle hatten aber dasselbe Gefühl, das Rylejew neulich empfunden hatte: daß alles, was früher so fern und leicht erschien, in der Tat unheildrohend, schwer und verantwortungsvoll sei.

Die Verfassung Murawjows unterzog er einer vernichtenden Kritik. Er deckte ihre Ähnlichkeit mit dem uralten System der Fürstenperiode auf, das schon einmal Rußland beinahe zugrunde gerichtet hatte.

»Diese Verfassung führt zur Aristokratie und Plutokratie, die doch das Haupthindernis für das allgemeine Wohl und der Grundpfeiler der Zwingherrschaft sind und nur durch Einführung einer republikanischen Regierungsform vernichtet werden können.«

Murajow wollte abwarten, bis Pestel mit seinen Ausführungen zu Ende sei, und erst dann mit seiner Rede herausrücken. Er saß wie auf Nadeln und hielt es schließlich doch nicht aus:

»Wie können Sie von Aristokratie sprechen? Eine so ausgesprochene Demokratie, wie sie nach unserer Verfassung durch die Wahlen für die untere Kammer des russischen Parlaments erreicht werden kann, gibt es in keinem europäischen Staat, auch in England und selbst in Amerika nicht.«

»Mein Herr, ich führe zwar einen fremdländischen Namen,« sagte Pestel mit bebender Stimme, »doch ist mein Glaube an die Bestimmung Rußlands fester als der Ihrige. Ich nenne meine Verfassung ›Russische Wahrheit‹, weil ich fest daran glaube, daß diese Wahrheit einst von der ganzen Welt und von allen europäischen Völkern, die auch heute noch in Sklaverei schmachten, angenommen werden wird. Die Sklaverei ist in Westeuropa nicht so offenbar wie bei uns, doch womöglich noch ärger: denn die Ungleichheit der Vermögen ist die schlimmste Form von Sklaverei. Rußland wird sich von ihr zuerst befreien, von absoluter Sklaverei zur absoluten Freiheit – das ist unser Weg. Wir besitzen nichts und müssen alles gewinnen. Sonst ist das Ganze nicht der Mühe wert.«

»Bravo, Pestel, bravo! Gut gesprochen! Entweder alles oder nichts! Hoch die Russische Wahrheit! Hoch die weltumfassende Revolution!« Man schrie und applaudierte.

Wäre Pestel dabei stehen geblieben, so hätte er alle hingerissen und den Sieg davongetragen. Die erbarmungslose Logik zwang ihn aber weiter zu gehen; Sätze und Schlüsse folgten aufeinander, und er konnte nicht mehr aufhören. Das Mondlicht in den Eiskristallen flammte immer blendender. Er predigte eine allgemeine und absolute Gleichheit und Einförmigkeit der lebenden Menschenmassen.

»Die Gleichheit aller und jedes einzelnen und das Wohlergehen einer möglichst großen Anzahl menschlicher Wesen ist das Ziel der bürgerlichen Ordnung. Diese Wahrheit ist ebenso einleuchtend, wie jede mathematische Wahrheit, die keines Beweises bedarf und schon in ihrer Formulierung absolut einleuchtend ist. Da aus dem Vorgebrachten folgt, daß alle Menschen gleich sein müssen, so ist jede Einrichtung, die der Gleichheit widerspricht, als eine tyrannische abzuschaffen. Die neue Ordnung darf auch keinen blassen Schatten der alten enthalten ...«

Das Prinzip der allgemeinen mathematischen Gleichheit rasierte wie ein scharf geschliffenes Messer, es mähte die Köpfe, um alle auf eine Größe zu bringen.

»Jeder Unterschied der Stände wird abgeschafft. Alle Titel und selbst die Bezeichnung ›Edelmann‹ werden aufgehoben. Der Kaufmannsstand und der Kleinbürgerstand werden aufgelöst. Alle Völker sagen sich von ihren nationalen Vorrechten los, und selbst die Namen der Nationen, mit alleiniger Ausnahme des Großrussischen, werden abgeschafft ...«

Er schwang die scharfe Sichel immer rasender und erbarmungsloser. Die Worte »wird abgeschafft«, »wird aufgehoben« klangen wie die Schläge des Fallbeils in der Guillotine. Der Zauber der Logik, der Zauber der im Mondlichte flammenden Eiskristalle war wie der Zauber der Musik. Er war unheimlich und süß wie ein magischer Traum, wie die Vision einer anderen Welt – des vom großen Planmacher der Ewigkeit aus Edelsteinen erbauten kommenden Staates.

»Sobald alle Unterschiede der Stände, Vermögen und Nationalitäten beseitigt sind, werden alle Bürger zu Gemeinden vereinigt, die nach gleichen Formen verwaltet und gebildet werden. Alle werden dabei in allen Dingen vollkommen gleich sein.« Er war mit dem allgemeinen Entwurf fertig und begann mit der Schilderung der Einzelheiten.

Er forderte die Einführung einer strengen Preßzensur und einer Geheimpolizei, deren Agenten unter den tugendhaftesten Männern gewählt werden sollten. Die Gewissensfreiheit war in seiner Verfassung recht zweifelhaft: die griechisch-orthodoxe Kirche wurde zur herrschenden erklärt, die zwei Millionen russischer und polnischer Juden sollten aber Rußland verlassen und sich irgendwo in Kleinasien einen jüdischen Staat gründen.

Die Zuhörer erwachten allmählich aus dem magischen Schlaf. Anfangs warfen sie einander stumme Blicke zu, dann begann man zu flüstern, endlich wurden einzelne empörte Ausrufe hörbar:

»Das ist ja ärger als unter Araktschejew!«

»Es sind militärische Siedlungen und keine Republik!«

»Es fehlt nur noch, daß alle Russen eine gleiche Uniform mit parallelen Schnüren, die ein Sinnbild der Gleichheit sind, tragen müssen!«

»Es ist keine russische, sondern eine deutsche Wahrheit!«

»Ärger als jede Autokratie!«

Pestel sah und hörte nichts und fuhr unbeirrt, gleichsam für sich selbst fort.

Golitzin sah ihn an und mußte an den kleinen ruhigen Mann mit dem Dreimaster und dem grauen Mantel denken, den er im Pulverdampf auf den Höhen von Schewardino gesehen hatte; der kleine Mann ging mit schweren Schritten zwischen den Toten und Verwundeten auf und ab, und die Erde schien von seinen Schritten und nicht von den Kanonenschüssen zu stöhnen und zu beben. Der kleine Mann sah ganz wie die ihn darstellende automatische Puppe im Wachsfigurenkabinett aus. Das besessene Werkzeug des Schicksals schien für diese Erde zu schwer. Seine Bewegungen schienen nicht seinem eigenen Willen zu entspringen: er war wie ein Hampelmann, den man an der Schnur zieht.

Pestel entnahm seiner Mappe eine umgezeichnete Militärkarte des Russischen Reiches, breitete sie vor sich auf dem Tische aus und begann die Einteilung der zukünftigen Russischen Republik zu erläutern. Das neue Reich bekam eine neue Hauptstadt – das an der Grenze von Europa und Asien liegende Nischnij-Nowgorod; zu Ehren des heiligen Wladimir sollte es in »Wladimir« umgetauft werden. Die Karte bildete eine Beilage zur »Russischen Wahrheit«.

»Wir teilen das Fell des Bären, noch ehe er tot ist,« bemerkte jemand.

»Wo ist denn Polen?«

»Hier!« Pestel zeigte auf die Karte.

»Wieso hier? Außerhalb der Reichsgrenze?«

»Ja, Polen wird von Rußland losgetrennt ...«

»Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, meine Herren,« rief Rylejew erblassend und von seinem Platz aufspringend, aus, »was aber mich betrifft, so werde ich es niemandem gestatten, so über das Schicksal meines Vaterlandes zu entscheiden!«

Auch die andern sprangen auf und schrien wütend:

»Wir dulden es nicht! Wir dulden es nicht!«

»Also das sind die Absichten des Südbundes!«

»Ihr wollt Rußland zerstückeln! Der Teufel soll euch mit eurer Republik holen!«

»Verräter!«

»Feinde des Vaterlandes!«

Der rasende Küchel ergriff die Karte und riß sie entzwei.

Der Vorsitzende schwang ununterbrochen die Glocke, der Lärm wollte sich aber nicht legen.

»Ich glaube, Herr Oberst, daß die Loslösung so bedeutender Grundgebiete wie Polen vom Russischen Reiche bei vielen Mißfallen erregen wird ...« begann Trubezkoj versöhnlich, als es etwas ruhiger geworden war.

»Und ich glaube, Herr Vorsitzender, daß wir nicht dazu liberalen Anschauungen huldigen, um den Leuten, von denen die Mehrzahl Narren sind, zu gefallen!« Pestel sprach diese Worte so höhnisch, daß es selbst dem milden Trubezkoj durch Mark und Bein ging.

»Vor allen Dingen sind alle Kanaillen! ... Die Welt wird weder an Feuer, noch an einer Sündflut, sondern an der Kanaille zugrunde gehen!« schrie plötzlich Kachowskij, der bis dahin geschwiegen hatte, dazwischen; darauf verstummte er wieder für den ganzen Abend.

»Eines kann ich unmöglich begreifen,« schloß Rylejew, »nach Ihrer Verfassung wird die Todesstrafe abgeschafft; Sie können aber die Guillotine doch nicht entbehren, und wir werden die ersten sein, die Sie köpfen!«

»Es ist keine Guillotine, sondern eine Pesteline!« rief Bestuschew.

Odojewskij wand sich vor Lachen in Krämpfen und mußte ins andere Zimmer hinausgehen.

Golitzin hatte den Eindruck, als ob hier viele Menschen über einen Schlafenden oder Betrunkenen hergefallen wären und ihn schlugen.

Murawjow bat im Vorgefühl eines sicheren Sieges ums Wort. Kaum hatte er zu sprechen begonnen, als alle mit Wohlgefallen wahrnahmen, daß die Dinge, die Pestel verrückt hatte, auf ihren Platz zurückkehrten; alles schien wieder leicht und weder verantwortungsvoll noch unheildrohend; das scharfe Messer wurde mit Watte umwickelt; die Eiskristalle schmolzen und verwandelten sich in lauwarmes Wasser.

Murawjow bewies, daß man langsam handeln müsse.

»Auch in der Natur gibt nur der allmähliche und langsame Verlauf der Zeit den Dingen Leben, Wachstum und Reife; plötzliche und rasche Veränderungen erzeugen dagegen Wirbelwinde, Stürme, Erdbeben und Verwüstungen aller Art. Ebenso dürfen einem Volke, welches jahrhundertelang keine bürgerlichen Freiheiten kannte, die letzteren nur ganz allmählich verliehen werden. Es wäre ein wahnwitziges Beginnen, wenn wir plötzlich an Stelle der gesetzmäßigen Regierung die absolute Gewalt interimistischer Diktatoren, die kein Mensch kennt, setzen wollten, von der Überzeugung ausgehend, daß Rußland nur von einem gesetzmäßigen, durch die Erbfolge bestimmten Monarchen regiert werden kann,« schloß der Redner, »weist der Nordbund auch jeden Gedanken an eine republikanische Staatsform zurück und betrachtet die konstitutionelle Monarchie als ihr einziges Ziel.«

»Bravo! Bravo! Bravo, Murawjow!« Die gleichen Leute, die vorhin Pestel applaudiert hatten, applaudierten jetzt seinem Gegner Murawjow.

»Wir wollen keine Republik!«

»Hoch die Monarchie!«

»Hoch die nordische Verfassung!«

Golitzin hatte schon früher bemerkt, daß Pestels Gesicht erbleichte und sich verzerrte und seine trüben schwarzen Augen einen schweren, krankhaften Glanz bekamen. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief:

»Nein, ihr werdet doch die Republik haben!«

Für einen Augenblick wurde alles still. Doch gleich darauf schrie man wieder wie besessen:

»Nieder mit den Diktatoren!«

»Nieder mit Pestel!«

»Nieder mit dem zweiten Bonaparte!«

»Nieder mit dem zweiten Autokraten!«

»Er ist ja Paul der Zweite!«

Pestel war plötzlich wie aus einem tiefen Schlafe erwacht und sah sich langsam im Kreise um.

»Meine Herren,« sagte er mit veränderter Stimme; seine Augen waren erloschen und drückten stillen traurigen Zweifel aus. »Auf persönliche Angriffe will ich nicht antworten. Ich bin nicht dazu hergekommen. Wenn ich jemanden beleidigt habe, so bitte ich um Vergebung ... Aber diejenigen, die mir persönliche Motive zuschreiben, sollen sich schämen. Die Zukunft wird zeigen, wie sehr sie im Unrecht sind. Wenn ich hier übrigens störe, so bin ich bereit, aus der Gesellschaft auszutreten ...«

Er hielt inne, schwieg eine Weile und fuhr sich zerstreut, als ob er an etwas ganz anderes dächte, mit der Hand über die Stirne.

»Ich wollte noch etwas sagen ... Jetzt ist es aber gleichgültig ...«

Sein Gesicht und seine Stimme drückten etwas so erschütternd Wahres, Einfaches und Trauriges aus, daß alle wieder die Augen niederschlugen und den Atem anhielten. Ein jeder vermied, den andern in die Augen zu sehen. Eine schwüle Stille lastete auf allen. Sie fühlten, daß sie viel Überflüssiges gesagt hatten und daß sie nicht ihn, sondern sich selbst erniedrigt hatten.

Golitzin erhob sich und ging aus Pestel zu.

»Ich will es Ihnen vor allen sagen, Pawel Iwanowitsch. In vielen Dingen bin ich mit Ihnen nicht einverstanden, doch ich teile Ihre grundlegende Ansicht: man muß die Dynastie absetzen und eine Republik proklamieren. Was man auch dagegen sagen mag, dies ist der einzig richtige Weg, der einzig richtige Weg! ...«

Pestel sah Golitzin verwundert, beinahe verständnislos an; plötzlich lächelte er ihm zu. Es war dasselbe herzliche Lächeln, mit dem er sich neulich bei Rylejew wegen des persischen Schals für seine Schwester erkundigt hatte, und das sein Gesicht schöner und jünger erscheinen ließ.

»Ich danke Ihnen. Ich kenne Ihren Namen nicht ...«

»Fürst Valerian Michailowitsch Golitzin.«

»Ich danke Ihnen, Fürst!« Er drückte Golitzin so fest die Hand, daß es weh tat.

Golitzin blickte Pestel in die Augen und mußte gleichfalls lächeln; er fühlte, daß er ihn wie einen Bruder lieben könnte. Im gleichen Augenblick sah er aber auch die Augen des sterbenden Mädchens vor sich.

Pestel rüstete sich zum Gehen und packte alle seine Papiere, die einzelnen Blätter der »Russischen Wahrheit« und die Fetzen der Karte der Russischen Republik in seine Mappe; die Karte wird er wohl zu Hause sorgfältig zusammenkleben. Niemand hielt ihn zurück.

Das grüne, aus der Russisch-amerikanischen Kompagnie entliehene Tischtuch wurde weggetan; an seine Stelle kam eine gewöhnliche weiße Tischdecke. Man blies die Kerzen aus und braute einen Ananaspunsch; der Zucker erglühte in den blauen Wellen der Spiritusflamme. Champagnerpfropfen knallten. Jeder Gast hatte zu diesem Gastmahl zwanzig Rubel in Papiergeld beigesteuert.

Nach der unheimlichen und schweren Stimmung, die Pestel heraufbeschworen hatte, erschien der gewöhnliche Zustand doppelt leicht und angenehm. Man reckte die Glieder wie nach einem schweren Schlafe und beeilte sich, das Versäumte nachzuholen. Man sprach von der letzten Truppenparade, von Titelverleihungen und Ernennungen, von der Tänzerin Istomina, von den letzten von Gardeoffizieren hinter den Kulissen verübten Streichen, von der Schauspielerin Ssemjonowa, die neulich im Lobanowschen Drama »Phädra« durchgefallen war; man disputierte über die Vorzüge der Zigeunerinnen Fjoschka und Maljarka mit dem gleichen Eifer, mit dem man erst eben über Republik und Monarchie gestritten hatte.

Blonde Locken, runde, pralle Wädchen,
Blaue Augen habt ihr, meine Mädchen!

sang Bestuschew, die Zigeunerin Fioschka imitierend.

Dann sang man im Chor:

Das Vaterland leidet unsäglich
In grausam despotischer Fron!
Doch wenn uns das Joch unerträglich,
Wir stürzen den Zaren vom Thron!
O Freiheit! O Freiheit!
Du bist unsre Göttin! ...

Küchel versuchte einen Kasatschok zu tanzen, glitt aber aus und fiel zum allgemeinen Gaudium seiner ganzen Länge nach hin. Jakubowitsch hielt eine Rede:

»Meine Herren, ich will zu keiner geheimen Gesellschaft gehören, um nicht nach einer fremden Pfeife tanzen zu müssen. Ich bin der Ansicht, daß ein einziger wirklich entschlossener Mann mehr vollbringen kann, als eine ganze Gesellschaft. Er hat mich schwer beleidigt. Wißt ihr denn nicht, wozu ich mich in Petersburg aushalte? Der Grund ist ja mit blutigen Lettern auf meiner Stirne geschrieben ...«

Er riß seine Stirnbinde herab und zog aus der Brusttasche einen vergilbten Papierfetzen heraus: es war der Befehl des Gardestabes, laut dem er den Hauptmanntitel statt des erwarteten Oberstentitels erhalten hatte. Er fuchtelte mit dem Schriftstück herum und schrie:

»Das ist die bittere Pille, die ich nun volle acht Jahre an meinem Herzen trage! Seit acht Jahren lechze ich nach Rache! Er kann mir nicht entrinnen! ... Nützt doch diese Gelegenheit aus, um auch eure Zwecke zu erreichen! Meldet es eurem Großen Rat und tut was ihr wollt! ...«

Man hörte ihn schweigend an und begann gleich von anderen Dingen zu sprechen: wo man den Rest der Nacht zubringen sollte; ob man eine Trojkafahrt zur Roten Schenke unternehmen, oder die »Mädchen« in der nahen Laternengasse aufsuchen sollte. Man sprach aber schon ohne besondere Begeisterung: man war müde, berauscht und konnte sich kaum noch bewegen. Die fröhliche Stimmung erlosch allmählich wie die blaßblaue Punschflamme im blaßgrünen Morgenlicht.

Man sang noch zum letztenmal, doch ohne rechten Schwung, das Lied:

Das Vaterland leidet unsäglich
In grausam despotischer Fron ...

und dann wieder:

Blonde Locken, pralle, runde Wädchen,
Blaue Augen habt ihr, meine Mädchen

Odojewskij hatte sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Er saß allein auf dem Sofa und hielt sein Gesicht mit den Händen bedeckt. Als Golitzin ins Zimmer trat, fuhr er zusammen und nahm die Hände vom Gesicht.

»Wissen Sie, Fürst,« sagte er, und Golitzin glaubte in seinen Augen Tränen zu sehen: »Pestel hat doch recht: wie beschämend, mein Gott, wie beschämend und häßlich ist doch das Ganze! ... Nichts werden wir erreichen ... wir sind nur elende Schwätzer ... viel Lärm um nichts ...«

Golitzin nahm schweigend Abschied und trat ins Freie.

Es war still, hell und leer. Unten im Wasser der Mojka schimmerte ein weißer Himmel, und oben hing der gleiche weiße, blinde Himmel, gläsern, wie das Auge eines Toten. Über das graue Polizeigefängnis ragte ein grauer Feuerwachtturm. Am gestreiften Schilderhaus lehnte ein verschlafener Nachtwächter. Mehrere Wagen mit stinkenden Fässern polterten vorbei. Bei einer Wirtschaft, vor der eine rote Laterne hing, zankten sich zwei Betrunkene. Irgendwo in der Ferne wurde eine Trommel geschlagen: es war wohl das Wecken bei der Hauptwache.

An der Ecke der Wosnessenskaja holte ihn Rylejew ein. Sie gingen eine Zeitlang schweigend, nebeneinander.

»Nun? Was glauben Sie? ...« begann Golitzin. Rylejew machte eine abwehrende Handbewegung und stöhnte:

»Ach, fragen Sie lieber nicht. Es ist traurig ...«

Sie gingen schweigend weiter durch die helle, stille und leere Straße, die sich unter dem weißen, blinden und toten Himmel hinzog.

Plötzlich zuckten beide zusammen. Ein einsamer mächtiger Ton zog durch die Stille, zitterte wie eine dicht am Ohre schwingende Saite und erstarb langsam in der Ferne. Ihm folgte ein zweiter, ein dritter und bald war die ganze Luft von langsamen ehernen Tönen erfüllt. Bei der Himmelfahrtskirche läutete man zur Frühmesse.

Sie blieben stehen und horchten.

»Wir werden gar nichts erreichen,« begann Rylejew, gleichsam die Worte der Kirchenglocken nachsprechend. »Und doch müssen wir anfangen! Die Stimme der Freiheit wird sich erheben und die schlafenden Russen wecken ...«

Er sprach hochtrabend und pathetisch wie immer; doch in seinem Gesicht und in seiner Stimme lag etwas ebenso Einfaches und Aufrichtiges, wie vorhin in Pestels Worten.

Golitzin legte ihm seine beiden Hände auf die Schultern und blickte ihm ins Gesicht, das im blassen Morgenlicht blaß und beinahe tot erschien.

»Ja, wir müssen anfangen!« sagte auch er, gleichsam als Antwort auf die Frage der Kirchenglocken. »Gott helfe Ihnen, wenn Sie auch an Gott nicht glauben!«

Sie umarmten und küßten einander.

Als Rylejew fort war, lauschte Golitzin noch lange dem Glockengeläute, zog dann den Hut, bekreuzte sich und sprach das Gebet, mit dem ihn Sophie gesegnet hatte:

»Herr, behüte und beschütze uns und sei uns gnädig! Errette uns, reine Himmelskönigin!«

Am nächsten Tag traf er an der Ecke der Newskij und der Polizeibrücke Pestel. Sein Gesicht konnte er zwar nicht sehen, denn Pestel ging vor ihm, doch er erkannte ihn sofort. Pestel trug unter dem Arm ein Paket: wahrscheinlich war es der Schal für die Schwester. Golitzin holte ihn ein und ging neben ihm; Pestel sah aber weder nach rechts noch nach links und bemerkte ihn nicht. Sein Gesicht war leblos, seine Augen schienen nichts zu bemerken, seine Schritte mechanisch. Er würde wohl auch vor einem Graben nicht haltmachen: er ging wie ein mechanisch betriebener Automat.

Die Sonne brannte wie im Sommer. Die kaum belaubten dünnen Lindenbäumchen gaben wenig Schatten. Pestel ließ sich auf einer Bank nieder, lüftete die Mütze und wischte sich mit dem Tuch die Stirne. Fürst Valerian setzte sich neben ihn, doch er sah oder erkannte ihn noch immer nicht.

»Guten Tag, Pawel Iwanowitsch.«

»Ach, Valerian ...« er konnte sich kaum auf seinen Namen besinnen, »Valerian Michailowitsch ... Verzeihen Sie, ich bin sehr zerstreut und erkenne niemand ...«

Golitzin brachte das Gespräch auf die letzte Versammlung, Pestel hörte ihm aber kaum zu, gab fast keine Antworten und schien an etwas anderes zu denken. Golitzin hatte den Eindruck, daß er über diese Begegnung wenig erfreut sei und seine gestrige Dankbarkeit vergessen habe.

»Euer Petersburg gefällt mir nicht,« sagte er plötzlich, sich umblickend und das Gesicht verziehend, »es ist so heiß, staubig und dumpf ... Ich liebe übrigens den Frühling überhaupt nicht. Wie anders ist doch der Herbst, besonders auf dem Lande; am schönsten ist der Spätherbst in einer ganz einsamen Gegend. Kennen Sie die ›Tröstungen der Melancholie‹?«

»Nein, was ist das?«

»Ein altes Buch. Mir gefällt es. Als ich vorhin den Newskij entlang ging, mußte ich an das Buch denken. Warten Sie, wie heißt es doch nur? ›Ein glückseliger, ruhiger Winkel, ein entlegenes Dörfchen, deine friedliche Zuflucht im Häuschen der Herbststürme, trösten meine bekümmerte Seele; die geliebte Einöde nährt meine Melancholie ...‹ Es ist doch höchst rührend, nicht wahr? Dumm, aber rührend. Wie eine Übersetzung aus dem Deutschen. Daher gefällt es mir wohl auch so ...«

Er erhob sich und fragte unvermittelt:

»Wie kommt man zum Denkmal Peter des Großen?«

»Es ist ganz in der Nähe. Ich will Sie begleiten, wenn Sie erlauben.«

Sie machten sich beide auf den Weg. Unterwegs zitierte Pestel noch einige Stücke aus den »Tröstungen der Melancholie«:

»– Im Rauschen der Oktoberstürme, in dichter und wilder Finsternis, von stürmischen Winden umbraust und vom milden Lichte Cynthias begrüßt ... – wer ist Cynthia? Ist es etwas Mythologisches? Weiter habe ich vergessen.«

»Wie konnten Sie überhaupt etwas davon behalten?« Golitzin mußte lächeln.

»Ich habe es noch als Kind mit der Mutter gelesen, und später mit der Schwester. Wir pflegten an Herbstabenden in der Birkenallee am Teich, – wir hatten im Park einen großen Teich, da gab es auch eine herrliche Aussicht, – auf und ab zu gehen und Lamartine, Chateaubriand, oder diese ›Melancholie‹ zu lesen ...«

»Lieben Sie auch Verse?«

»Nein ... Ich weiß übrigens nicht ... Ich habe zu wenig gelesen, höchstens noch mit meiner Schwester. Wenn ich allein bin, habe ich weder Zeit noch Lust dazu ...«

»Und Puschkin?«

»Auch Puschkin kenne ich wenig.«

»Ich glaube, Sie haben ihn einmal persönlich gesprochen?«

»Ja, ich habe ihn vor Jahren in Kischinew kennen gelernt. Wir haben damals eine ganze Nacht über Politik und die Unsterblichkeit der Seele disputiert.«

»Zu welchem Ergebnis kamen Sie denn?«

»Zu gar keinem. Wie es immer in solchen Fällen ist, blieb jeder bei seiner Meinung. Er wollte beweisen, daß es weder einen Gott, noch eine Unsterblichkeit gibt. Ich behauptete, daß man dieses nicht beweisen könne. Alles ist ja in solchen Dingen doppelsinnig: das Herz sagt, daß es keinen Gott gibt, und die Vernunft sagt, daß es ihn doch gibt. Mon cœur est matérialiste, mais ma raison s'y réfuse ...«

»Gewöhnlich ist es doch umgekehrt?« erstaunte Fürst Valerian.

»Nein, bei mir ist es so!« erwiderte Pestel etwas mürrisch. Seine Augen bekamen plötzlich einen Ausdruck, den Golitzin auch schon früher wahrgenommen hatte: es war so, als ob man vor der Nase eines zudringlichen Gastes die zu den inneren Gemächern des Hausherrn führende Türe zuschlüge. Er begann auch gleich von anderen Dingen zu sprechen und erzählte u. a., daß Puschkin gerne in die Gesellschaft eintreten wollte; man könne ihn aber nicht aufnehmen, denn er sei wenig verläßlich.

Sie durchquerten den neuen Admiralitätsboulevard und gelangten zum Senatsplatz, wo sich das Denkmal Peter des Großen befand.

Pestel betrachtete das Denkmal aufmerksam von allen Seiten, drückte sein Gesicht an das Gitter und versank in Betrachtung des Gesichts des Bildwerkes, als ob er einen lebenden Menschen vor sich hätte. So stand er lange schweigend vor dem Monument und hatte seinen Begleiter anscheinend ganz vergessen. Endlich flüsterte er französisch:

»Unten ist ja ein Abgrund: wenn das Pferd den Sprung wagt, fliegt der Reiter zum Teufel ...«

»Ja, kein Knochen bleibt ganz.«

»Und wir? Stürzen wir mit ihm?«

»Sind wir denn mit ihm?«

»Wo denn?«

»Hier unter den Hufen des Pferdes liegt eine Schlange, das ist der Aufruhr, die Revolution.«

»Glauben Sie? Puschkin hat aber gesagt, daß er,« Pestel wies auf die Figur des Kaisers, »der Urheber der russischen Revolution sei.«

»Er ist auch der Urheber des Absolutismus,« bemerkte Golitzin.

»Ja, die Extreme berühren sich ... Wie ist es nun: sind wir mit ihm oder gegen ihn? ...« fragte Pestel nach einer Pause.

»Ich weiß nicht,« erwiderte Golitzin etwas spöttisch, »ich weiß nicht, wie es mit uns steht. Sie sind aber gewiß mit ihm.«

»Warum denn ich? ...« versetzte Pestel. Er schien wieder an etwas anderes zu denken: die Türe zu den inneren Gemächern wurde wieder zugeschlagen. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er hastig Abschied, rief eine Droschke herbei und fuhr fort.

Golitzin blieb allein vor dem Denkmal stehen und blickte auf den ehernen Reiter mit der gleichen Frage: Gegen ihn oder mit ihm?

Er bekam keine Antwort, und schließlich sagte er zu sich selbst: »Und doch müssen wir anfangen, sei es mit ihm, sei es gegen ihn.«


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