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VI.

»Die militärischen Siedlungen werden geschaffen, wenn ich auch die ganze Straße von Petersburg bis nach Tschudow mit Leichen pflastern müßte,« sagte einmal der Kaiser, als er von einer Bauernrevolte hörte. Er hat es auch wirklich so gemacht: die Aufrührer wurden mit Kartätschen gebändigt, und das Blut floß wie bei einer richtigen Schlacht.

Jene Zeiten waren längst vorbei. Es gab keine Ausstände mehr. »Gott sei Dank, jetzt ist alles ruhig und friedlich,« berichtete Araktschejew.

»Das russische Heer hat mit seinen Heldentaten nicht nur unser Vaterland, sondern auch ganz Europa in Erstaunen versetzt; jetzt soll es einen süßen Lohn ernten,« hieß es im Manifest, das anläßlich der Beendigung des Feldzuges von 1812 erlassen worden war. Die militärischen Siedlungen sollten eben diesen süßen Lohn darstellen.

Die Träume vom himmlischen Jerusalem, von der theokratischen Regierung und von der Einsetzung des Reiches Gottes auf Erden wie im Himmel verwirklichten sich in der Begründung der heiligen Allianz in Europa und der militärischen Siedlungen in Rußland.

Jemand hatte einst von Alexander I. gesagt: »Der Kaiser tut oft Böses, doch er beabsichtigt stets das Gute.« So war es auch mit den militärischen Siedlungen. Wenn er sich auch täuschte, so beging er diesen Fehler nicht allein. Speranskij schrieb ein Werk: »Vom Nutzen und den Vorzügen der militärischen Siedlungen.« Karamsin hielt sie für »die wichtigste Tat dieser für Rußland so glücklichen Regierung«. General Tschernyschow schrieb an Araktschejew: »Alle erklären feierlich, daß die Vollkommenheit der Siedlungen alle Erwartungen in Schatten stellt. Die Ausländer sind von diesem ganz ungewöhnlichen Schauspiel erstaunt und bestürzt.«

Der Kaiser glaubte wirklich an die Richtigkeit aller dieser Äußerungen. Wenn aber die Klagen des Volkes – »Schütze, o Kaiser, dein christliches Volk vor Araktschejew!« an sein Ohr drangen, war er erstaunt und bestürzt; er wollte aber fortfahren, sein Volk zu beglücken, auch wenn es ihm seine Wohltaten mit Undank zollte. »Wir Fürsten wissen, daß Dankbarkeit in der Welt ebenso selten ist, wie ein weißer Rabe.«

Die ersten neun Tage nach seiner Abreise aus Zarskoje bereiste er die an den Ufern des Wolchowflusses gelegenen militärischen Siedlungen.

An den ersten Tagen bedrückte ihn aber noch stark sein Kummer, und er suchte ihn durch schnelle Fahrt zu betäuben; das schnelle Fahren wirkte auf ihn immer beruhigend, was er aus Erfahrung wußte.

Auch der Umgang mit Araktschejew gab ihm große Erleichterung. Er suchte bei ihm, wie immer in schweren Stunden, Trost und schmiegte sich an ihn wie ein erschrockenes Kind an die Mutter.

Er fuhr mit ihm in der gleichen Equipage und bemutterte ihn aufs sorgsamste. Er zupfte ihm den Mantel zurecht, knöpfte ihn ihm bei jedem kühlen oder feuchten Lufthauch zu und befächelte ihn mit einem Zweig, um die Mücken und Fliegen zu verscheuchen.

Am neunten Tag übersetzten sie frühmorgens auf einer Fähre den Wolchow. Hier begann das Araktschejewsche Erbgut Grusino. Die leibeigenen Bauern Araktschejews überreichten dem Kaiser Brot und Salz.

»Guten Morgen, Leute!«

»Guten Morgen, kaiserliche Majestät!« antworteten diese wie aus einem Munde und machten Front.

»Ich habe noch nie und nirgends so gesunde Menschen und eine so stramme Haltung gesehen!« bemerkte der Kaiser französisch zu seinen Begleitern: »die wunderbare Schönheit der Siedlungen« hatte auch ihn gefangen genommen.

»Es ist ja ganz offensichtlich, daß die Landbewohner hier in Glückseligkeit schwelgen,« sagte General Dibitsch, der neue Generalstabschef.

Der Weg war auf einem hohen Damm angelegt und von beiden Seiten mit Birken bepflanzt. Links lag eine flache Ebene, und rechts zog sich der trübe Wolchow hin. Es war ein trüber, stiller und warmer Tag. Der von engen Reihen grauer Wolken bedeckte Himmel schien hölzern und wie die Nowgoroder Bauernhäuser aus alten morschen Balken gezimmert. In der Ferne leuchteten die weißen Türme von Grusino. Die Landstraße war wunderbar: die Räder rollten wie auf weichem Samt. Der Kaiser wandte sich an seinen Kutscher:

»Nun, Freund, wie gefällt dir die Straße?«

»Wie Butter, Majestät! Wenn es überall solche Wege gäbe, so lebten wir wie im Paradies!« Ilja lachte still in den Bart hinein, denn er wußte, daß eine solche Antwort dem Kaiser gefiel; er wußte auch, daß auf dieser wunderbaren Landstraße niemand fahren durfte: sie war zu gewöhnlichen Zeiten an beiden Enden durch eiserne Tore abgesperrt, deren Schlüssel in Grusino verwahrt wurden; neben dieser Straße lag aber die elende schmutzige Straße für gewöhnliche Sterbliche.

Sie besichtigten die Siedlungen von Grusino, in denen die zweite und die dritte Division des Grenadierkorps lagen. Die Ordnung war hier noch vollkommener: alles war so regelmäßig, gleichförmig und einheitlich, daß man die einzelnen Siedlungen voneinander kaum unterscheiden konnte.

Die ganz gleichen rosagetünchten Häuschen standen in einer Linie wie Soldaten in der Front und bildeten schnurgerade, zwei bis drei Werst lange Straßen, die unendlich schienen. Die ganz gleichen Alleen von verkümmerten Birken waren nach dem gleichen Maß zugestutzt, vor den Häusern gab es ganz gleiche rote Treppchen, grüne Brückchen und weiße Pfosten. Alles war sauber, neu und glatt, wie frisch lackiert.

Für alle Dinge und Verrichtungen gab es peinlich genaue Vorschriften; sie handelten z. B. von den Besen, mit denen die Straßen gekehrt wurden, von den Fensterscheiben: »eingeschlagene Scheiben dürfen nirgends vorkommen; solche mit kleinen Sprüngen sind aber gestattet«; von den Schweinen: »Schweine zu halten ist verboten, denn diese Tiere wühlen überall die Erde auf und machen Unordnung; wer Schweine halten will, muß einen Erlaubnisschein einholen und sich verpflichten, darauf zu sehen, daß die Tiere nie auf die Straße kommen; wenn aber trotzdem ein Schwein auf die Straße gelangt, so wird es dem Besitzer abgenommen und ins Spital eingeliefert; der Besitzer wird ins Strafbuch eingetragen«.

Für die Feldarbeiten gab es wieder eigene Vorschriften. Die Bauern waren in Kompagnien eingeteilt, kurzgeschoren, rasiert und uniformiert; in diesen Uniformen mußten sie jeden Morgen unter Trommelschlägen ins Feld zum Ackern hinausziehen; sie marschierten hinter dem Pfluge stramm, unter dem Kommando von Korporalen, wie bei einer Parade. Sie mußten auch täglich in den Tennen marschieren und sonstigen militärischen Drill durchmachen.

»Die Uniformierung der Kinder von sechs Jahren aufwärts,« berichtete Araktschejew dem Kaiser, »begann auf meinen Befehl am gleichen Tage zur gleichen Stunde, um sechs Uhr früh, unter der Leitung der Kompagniechefs gleichzeitig an vier Stellen und wurde dann allmählich auf alle anderen Dörfer ausgedehnt; es gab hierbei keinerlei Schwierigkeiten, abgesehen von einigen alten Weibern, welche weinten. Was die uniformierten Kinder betrifft, so war ich von ihrem Anblick entzückt. Sie bemühen sich, ihre Arbeiten schneller zu verrichten; nach Hause zurückgekehrt, waschen und kämmen sie sich, bringen ihre Uniformen in Ordnung und gehen dann haufenweise von Dorf zu Dorf spazieren; wenn sie aber jemandem begegnen, machen sie Front.«

Die kleinen Soldaten machten auch jetzt vor dem Kaiser und Araktschejew Front und riefen mit ihren dünnen Stimmen:

»Guten Morgen, kaiserliche Majestät!«

»Es sind wahre Engel!« sagte Dibitsch gerührt.

Auf den Dorfstraßen herrschte eine tote Stille. Die Wirtshäuser waren abgeschafft und das Singen von Liedern war verboten; es waren nur geistliche Gesänge gestattet.

Im Innern der Häuser herrschte in allen Dingen die gleiche Einförmigkeit: die Räume waren nach dem gleichen Plan eingeteilt und die Möbel mit der gleichen gräulichen Farbe gestrichen. Am Fenster Nr. 4 war ein Vorhang aus weißem Kaliko angebracht, der zu einer bestimmten Stunde, nämlich, wenn sich die Kinder weiblichen Geschlechts ankleideten, vorgezogen werden mußte.

Auch alle häuslichen Verrichtungen waren streng reglementiert; es war genau vorgeschrieben, um welche Zeit die Fenster geöffnet und geschlossen, die Stuben gekehrt und die Säuglinge gebadet und gestillt werden mußten. Es waren im ganzen 36 Paragraphen. So lautete z. B. § 25: »Wenn die Mutter über etwas zornig wird, darf sie nicht dem Kinde die Brust reichen.« § 36: »Der Dorfschulze ist verpflichtet, bei seinem täglichen Rundgange in jedem Hause die Wiegen und Lutschbeutel zu inspizieren. Dieses Reglement muß in der Ecke neben den Heiligenbildern angeschlagen sein, damit man es immer vor Augen hat.«

Die Ehen wurden auf folgende Weise geschlossen: die Burschen und die Mädchen wurden in zwei Reihen gegeneinander aufgestellt; in einen Hut legte man Zettel mit den Namen der Mädchen und in einen anderen Zettel mit den Namen der Burschen, und dann loste man die Namen paarweise aus. wenn aber jemand mit dem auf ihn gefallenen Los unzufrieden war, so wurde er von Amts wegen »willig gemacht«.

»Jede Frau muß bei mir jährlich ein Kind zur Welt bringen,« pflegte Araktschejew zu sagen, »Wenn sie eine Tochter und keinen Sohn gebiert, wird sie bestraft. Und wenn sie eine Fehlgeburt hat, wird sie gleichfalls bestraft. Wenn sie aber im Laufe eines Jahres kein Kind bekommt, muß sie zur Strafe 10 Ellen Leinwand einliefern.«

Der Kaiser und seine Begleiter waren über alles, was sie sahen, entzückt.

»Eure Durchlaucht werden die Bauern durch diese Wohltaten verderben!« rief Dibitsch, als er auf den gußeisernen Ofentüren Amoretten, die sich mit Rosen bekränzten und Seifenblasen steigen ließen, sah.

Zu Mittag gab es in allen Häusern eine so fette Kohlsuppe und einen so schönen Brei, daß General Ugrjumow, nachdem er das Essen gekostet, feierlich erklärte:

»Es ist Nektar und Ambrosia!«

Als aber auch noch ein Spanferkel aufgetragen wurde, überzeugte man sich endgültig von der Glückseligkeit der Landbewohner.

»Was könnten sie denn noch verlangen?«

»Es ist ein paradiesisches Dasein!«

»Das goldene Zeitalter!«

»Das Reich Gottes!«

Dem General Schkurin traten vor Rührung Tränen in die Augen, und das hölzerne Gesicht Kleinmichels drückte solche Verzückung aus, als ob er nicht das Dorf »Hundebuckel«, sondern das himmlische Jerusalem vor sich sähe.

Sie besichtigten auch das Militärspital. Der Leibchirurg Tarassow geriet hier in helles Entzücken über die Wasserklosette von wunderbarer Konstruktion.

»Die Abtritte sind hier wirklich kaiserlich!« sagte er dem Kaiser etwas unüberlegt.

»Es könnte hier auch gar nicht anders sein,« erwiderte jener nicht ohne Stolz und erklärte, daß er diese englische Erfindung zum ersten Male in Rußland gerade bei den militärischen Siedlungen eingeführt habe.

Araktschejew war für einen Augenblick hinausgegangen. Da erhob sich einer der Kranken leise von seinem Lager, ging auf den Kaiser zu und fiel ihm zu Füßen.

Es war ein junger Mann mit wahnsinnigen Augen und einem versteinerten Ausdruck von Entsetzen in den Zügen; die gesenkten Augenlider und das gespaltene Kinn verliehen ihm einige Ähnlichkeit mit Araktschejew.

»Steh auf,« befahl der Kaiser, der es nicht liebte, daß man vor ihm niederkniete. »Wer bist du? Was willst du?«

»Ich bin Kapiton Alilujew, der leibeigene Maler des Grafen Araktschejew. Errette und beschütze mich, Väterchen Zar! ...« schrie er mit verzweifelter Stimme; dann wurde er ruhig, schielte nach der Türe, durch die Araktschejew hinausgegangen war, und stammelte etwas ganz Unverständliches, das sich wie das Delirium eines Fieberkranken anhörte; er sprach von einem Heiligenbilde, auf dem die große Hure, die verruchte Dirne Nastasja Minkina als Gottesmutter dargestellt war, und von einem anderen Heiligenbilde, das den Grafen Araktschejew selbst darstellte; von den Teufeln die ihn jede Nacht besuchten und peinigten und ihn in der nächsten Nacht totpeitschen werden; von zahlreichen geheimen Verbrechen des Grafen Araktschejew, dieses »Satans in Menschengestalt«, den er aber trotz alledem aus irgendeinem Grunde »Papachen« nannte.

Der Kaiser bemerkte, daß er entsetzlich nach Schnaps roch.

»Ich glaube, er ist betrunken?«

»Zu Befehl, Majestät,« antwortete der Heilgehilfe, dessen rotes Gesicht darauf schließen ließ, daß auch er nicht ganz nüchtern war.

Der Kaiser zeigte gar kein Interesse für die Frage, auf welche Weise sich die Leute im Spital Schnaps verschafften, und verzog angeekelt das Gesicht. Alle Anwesenden wurden plötzlich etwas befangen, über das goldene Zeitalter des Dorfes Hundebuckel huschte ein dunkler Schatten.

In diesem Augenblick erschien Araktschejew wieder. Als er Kapitän Alilujew vor dem Kaiser sah, war auch er etwas bestürzt. Er winkte, und der Kranke wurde sofort gepackt und fortgeschleppt. Er schlug um sich herum und schrie mit unmenschlicher Stimme:

»Die Teufel! Die Teufel! Die Teufel werden euch alle totpeitschen! Dich aber, Papachen, zu allererst!«

Dem Kaiser wurde erklärt, daß er einen an Säuferwahnsinn leidenden Trunkenbold vor sich habe. Er befahl Tarassow, den Kranken zu untersuchen und ihm ärztliche Hilfe zu leisten.

Dmitrij Klementjewitsch Tarassow, der selbst niedriger Herkunft war (er war der Sohn eines armen Dorfpopen) kannte und liebte das gemeine Volk. Auch die Leute vertrauten ihm, denn sie fühlten in ihm eine verwandte Seele, und beantworteten gern und aufrichtig alle seine Fragen.

Als der Kaiser das Spital verlassen hatte, erfuhr Tarassow, der dort noch etwas allein zurückgeblieben, höchst merkwürdige Dinge.

Kapiton Alilujew, wie es hieß ein unehelicher Sohn Araktschejews, war vom Priester von Grusino, P. Fjodor Malinowskij an Sohnes Statt großgezogen worden; später wurde er in das Hofgesinde des Grafen aufgenommen und in Malerei unterrichtet; beim Militäringenieur Batenkow erlernte er das Aufnehmen und Zeichnen von Plänen und Karten. In Araktschejews Auftrag mußte er zur gleichen Zeit Heiligenbilder für die Kathedrale und unanständige Bilder für einen Pavillon im Parke von Grusino malen. Von Kind auf war er tief religiös und trug sich sogar mit der Absicht herum, Mönch zu werden. Die gotteslästerlichen Heiligenbilder hielt er für eine Todsünde. Das Gewissen quälte ihn, er begann zu trinken und bekam das Delirium. Er wollte sich das Leben nehmen und ging ins Wasser. Man zog ihn jedoch heraus und peitschte ihn ordentlich durch. Darauf begann er noch mehr zu trinken; in einem Anfall von Raserei stürzte er sich einmal mit einem Messer auf das von ihm selbst gemalte Bild der Mutter Gottes mit den Zügen von Nastasja Minkina, um es in Stücke zu schneiden. Als man ihn dabei ergriff, erklärte er, daß er auch die lebendige Nastasja erdolchen würde. Araktschejew befahl, »ihn ordentlich auszupeitschen und dann vorzuzeigen«. Dies bedeutete: nach der Exekution mußte der Rücken dem Grafen vorgezeigt werden, der sich persönlich davon überzeugen wollte, ob die Strafe ordnungsgemäß ausgeführt sei. Die Henker hatten aber Mitleid mit ihm und rieben ihm den Rücken mit dem Blute eines frischgeschlachteten Huhnes ein, wie sie es zuweilen in ähnlichen Fällen machten; so entrann er dem Tode. Und trotzdem wurde er nach der Exekution mehr tot als lebendig ins Spital verbracht.

Tarassow erfuhr auch manches über die militärischen Siedlungen.

Trotz der wunderbaren Krankenhäuser gab es überall epidemische Krankheiten, Skorbut und Ruhr; die Menschen starben wie die Fliegen. In den Krankenhäusern waren die schönsten Parkettfußböden, doch die Kranken wagten nicht, darauf zu gehen, um sie nicht zu beschmutzen, und sprangen aus den Betten durch die Fenster. Es gab auch gelehrte Hebammen und Entbindungswannen, doch kam es einmal vor, daß eine Schwangere so ausgepeitscht wurde, daß das Kind tot zur Welt kam und auch die Mutter während der Exekution starb. Die Erziehung und Behandlung der Kinder war in sechsunddreißig Paragraphen festgelegt, und dabei kam es vor, daß eine Mutter selbst ihr Kind tötete mit der Begründung: wenn die Kinder den Müttern entrissen werden, so ist es besser, daß sie gar nicht leben.

In den Häusern war alles blitzblank, doch diese Sauberkeit kostete ganze Fuhren von Spitzruten. Während die Bauern die Alleen kehrten, ging das Getreide auf den Feldern zugrunde; während sie die Bäume nach dem gleichen Maß zustutzten, verfaulte das Heu. Sie hatten Ofentüren mit Amoretten und dabei kein Heizmaterial. Zu Mittag wurden Spanferkel gereicht und dabei verhungerten sie: ein junger kaiserlicher Flügeladjudant hatte dem Spanferkel im ersten Hause ein Ohr abgeschnitten und es dem gleichen Ferkel im fünften Hause wieder angesetzt; während der Kaiser von Haus zu Haus ging, wurde der Braten durch die Hinterhöfe nachgetragen. Die Wirtshäuser waren abgeschafft, doch wurden Branntweinflaschen in Pferdeschwänzen eingeschmuggelt. Alle Bauern soffen wahnsinnig; wer es nicht tat, wurde verrückt oder beging Selbstmord. Ganze Familien flohen ins Moor, um freiwillig zu verhungern. Mit allen den Totgepeinigten, Erschlagenen und Selbstmördern hätte man tatsächlich die Straße von Petersburg bis nach Tschudow pflastern können, wie es der Benedeite gedroht hatte.

»Errette, o Zar, dein christliches Volk vor Araktschejew!« wollte auch Tarassow ausrufen, als er all dies hörte. Er liebte den Zaren, kannte dessen Herzensgüte und es schien ihm unverständlich, daß er sich so sehr täuschen konnte. Vielleicht hatte auch Kapiton recht, und das Ganze war ein Werk der Teufel, die bald alle totpeitschen werden?

Der Kaiser hatte aber auch jetzt, wie jedesmal, wenn er nach Grusino kam, das Gefühl, das ein müder Wanderer empfindet, wenn er in seine Heimat zurückkehrt; hier konnte er alles vergessen, ausruhen und Trost finden. »Ich fühle mich bei dir wie am Busen Christi!« sagte er oft dem Gutsherren.

Er hatte auch ein anderes Gefühl, das noch viel süßer war: der Anblick des »irdischen Paradieses« der militärischen Siedlungen gab ihm jenen einzigen Trost, den er noch im Leben hatte: er, der selbst unglücklich war, sah sein Lebensziel darin, die andern glücklich zu machen.

Seine Seele war von diesem tröstenden Bewußtsein erfüllt, und er schlief in dieser Nacht so süß und ruhig, wie seit langem nicht mehr.

Araktschejew litt oft an Schlaflosigkeit. Es kam vor, daß er sich niederlegte, die Kerze ausblies, die Augen schloß, doch statt einzuschlafen, an den nahen Tod zu denken begann; er wurde unruhig, bekam Herzklopfen und einen Nervenanfall, und der Schlaf war dahin.

Einen solchen Anfall bekam er auch in dieser Nacht. Er wälzte sich lange im Bette herum. Er nahm Mandel-Anistropfen mit Queckengrasextrakt ein, doch ohne Erfolg. Er stand auf, zog sich einen langschößigen grauen Schlafrock, den er immer in Grusino trug, (denn er hielt nichts auf Eleganz) an und begann durch die Zimmer zu irren.

Er suchte nach irgendeiner Beschäftigung, um seine Langeweile zu vertreiben. Er kontrollierte die an den Wänden in jedem Zimmer angebrachten Inventarlisten, die alle mit der gleichen Überschrift versehen waren: »Schau soviel du willst, doch rühre nichts an.« Er sah, ob alles in der vorschriftsmäßigen Ordnung stand und lag, ob nichts fehlte, ob nicht irgendwo Schmutz, Staub oder Spinngewebe zu bemerken war. Er befeuchtete sein Taschentuch mit Speichel, legte sich auf den Fußboden, kroch unter die Möbel und untersuchte, ob die Fußböden sauber seien und sich nicht irgendwo Staub auf das benetzte Tuch festsetze. Doch Staub war nirgends zu entdecken. Krächzend und stöhnend erhob er sich vom Boden und setzte seine Wanderung durch die Zimmer fort.

Als er müde wurde, setzte er sich in einen Sessel und betrachtete die auf den Tischen herumliegenden Geschenke und Andenken. Er las die Ode, die der Dichter Olin auf das Bildnis Araktschejews verfaßt hatte:

Wie Cincinatus einst im Ruhmesglanz,
Hing an den Pflug er seinen Lorbeerkranz.
Ein Freund des Kaisers, der Gesetze,
Verdient er, daß man ihm ein Denkmal setze.

Er kennt nicht Neid! Er trachtet nicht nach Lohn!
Er ist ein Recke vor dem Kaiserthrone
O Russenland! Sei stolz: er ist dein Sohn,
Unsterblichkeit sei seine Krone.

Die Verse gaben ihm aber keinen Trost. Er nahm die Rechnungsbücher vor, in die mit mikroskopischer Schrift alle Auslagen für den Haushalt eingetragen wurden: wann ein Zuckerhut gekauft und in Stücke geschlagen wurde; wieviel Flaschen Wein ausgetrunken, wieviel Löffel Hanföl für die Speise aus geriebenem Rettich, die die Dienerschaft zum Nachtmahl bekam, verwendet wurden, wieviel Ellen baumwollenes Zeug die Hausmädchen für ihre Kopftücher und wieviel Ellen bunte Leinwand die Kutscher für ihre Hemden erhielten. Die Auslagen waren ungeheuer; wenn es so weitergeht, ist er bald ruiniert. Lieber nicht daran denken, denn das regt noch mehr auf.

Er sah in die »Strafbücher« hinein, in die alle Vergehen mit den dafür zudiktierten Strafen und der Zahl der verabfolgten Rutenstreiche eingetragen wurden.

Es fiel ihm ein, daß der diensthabende Kammerjunge schlecht gekräuseltes Haar hatte. Er trug es sofort ins Buch ein und begann einem imaginären Haushofmeister eine imaginäre Rüge zu erteilen: »Ich befehle dir, mit peinlicher Strenge darauf zu achten, sonst wird dein Rücken lange Zeit nicht verheilen.«

Einmal in Schwung gekommen, konnte er nicht mehr aufhören; mit eintöniger, näselnder, gedehnter Stimme marterte er den unsichtbaren Zuhörer zu Tode:

»Der Mensch muß alles, was seine Pflicht ist, ordentlich tun; für den Fall, daß er es schlecht tut, gibt es Ruten. Es erscheint mir unbegreiflich, wie man die Menschen nicht dazu anhalten kann, daß sie ihre Pflicht ordentlich tun ...«

Er verfiel allmählich in einen weinerlichen Ton:

»Du hast mich alten Mann gekränkt, obwohl du weißt, daß jede Kränkung mich tötet und mich meinem Lebensende, auf das ich mich stündlich vorbereite, näher bringt. Du kennst doch meinen empfindlichen Charakter und weißt, daß man mich mit der größten Zuvorkommenheit behandeln muß ...«

Ab und zu rief er zornig aus:

»Ich will dich nicht nach Sibirien schicken, sondern werde dich selbst totprügeln!«

Und dann wiederholte er unzählige Male leise, mit ersterbender Stimme, die beinahe liebevoll klang:

»Ordentlich durchpeitschen! Ordentlich durchpeitschen!«

Er kam wieder zur Besinnung, sah sich um, bemerkte, daß ihm niemand zuhörte, winkte hoffnungslos mit der Hand und begann wieder herumzuirren. Er konnte keine Ruhe finden. Die Langeweile war so entsetzlich, daß er weinen mußte. Er stöhnte und ächzte vor Langeweile, wie vor Schmerz. Sollte er vielleicht zu Nastja gehen? Nein, er hatte keine Lust. Oder etwas Kwas zu sich nehmen? Nein, es verlangte ihn auch nicht nach Kwas. Er hatte überhaupt zu nichts Lust. Es war eine tödliche, gähnende Langeweile, die er mit nichts in der Welt zu füllen vermochte. So konnte er auch leicht den Verstand verlieren. Er erschrak. Er nahm wieder Tropfen ein, doch sie halfen ihm wieder nicht.

Er wußte selbst nicht, wie er plötzlich in die im unteren Stockwerk gelegene Bibliothek gelangt war. Hier befand sich auch das Arsenal und die Folterkammer. In mehreren Fässern mit Salzwasser waren Ruten zum Beizen eingetaucht. Er versuchte eine Rute mit der Zunge, ob sie genügend salzig sei.

Er las die Rückentitel seiner Lieblingsbücher, die auf einem besonderen Regal standen: »Der junge Wilde, oder die Gefahren der ersten Leidenschaft.« – »Der Spott des Wilden über die Gelehrsamkeit und die Sitten unserer Zeit.« – »Von den zärtlichen Umarmungen in der Ehe und wie man sich mit seiner Geliebten am besten vergnügt.« – »Leckerbissen für die Fastenzeit.« – »Der Weg zum unsterblichen Zusammenleben der Engel.« – »Das ägyptische Orakel, oder eine vollständige neue Anleitung der Wahrsagekunst.« – »Ein Versuch über die beste Verwendung der Zeit und seiner selbst.«

Er nahm den »Versuch« vor. Das Buch war aber zu langweilig und unverständlich. Er betrachtete die Entwürfe zu Schlagbäumen und Schilderhäuschen. Für einen Augenblick konnten ihn diese noch fesseln. In der Bibliothek war es aber so schwül, es roch nach Büchern, Mäusen und nassen Ruten. Er bekam Lust, ins Freie zu gehen; vielleicht wird ihm die frische Luft einige Erleichterung bringen?

Er wickelte sich ein gestricktes Tuch um den Hals und zog sich lederne Galoschen an, die er auch beim trockensten Wetter trug: es kann ja jeden Augenblick zu regnen anfangen; wie leicht kann man sich erkälten und krank werden; wieviel braucht denn ein Mensch überhaupt?

Als er im Vorzimmer an einem Spiegel vorbeikam, erblickte er darin zufällig sein Gesicht; er erschrak: so mager, blaß und grün sah er aus, wie ein Totengerippe. Er wandte sich ab und spie geärgert aus.

Er kam in den Garten. Es war eine schwüle und heiße weiße Nacht. In der Stille hörte man nur das Summen der Mücken und das Quaken der Frösche. Das Grün der Bäume erschien im grauen Licht grau wie Asche. Der Nebel war dicht und warm wie im Dampfbad. Es roch auch hier nach feuchten Birkenruten. Es war zum Ersticken. Man konnte nicht unterscheiden, ob der Himmel bedeckt oder wolkenlos war; er war so gleichmäßig weiß und leer: auch im Himmel schien die gleiche gähnende Leere und grenzenlose Langeweile zu herrschen.

Er sah nach, ob die Gartenwege ordentlich gekehrt seien. Im Garten mußte die gleiche Ordnung und Sauberkeit herrschen wie in den Zimmern; wenn jemand durch die Allee ging, mußte der diensthabende Gärtner die betreffende Stelle sofort nachkehren.

Im Garten gab es eine Menge Denkmäler und Grabplatten: »Der lieben Diana«, »Dem treuen Mohr«, »Dem Andenken meiner lieben Eltern«. Es sah beinahe wie auf einem Friedhof aus. Auch er selbst sah wie ein dem Grabe entstiegenes Gespenst aus. Vielleicht war er auch wirklich schon lange tot und entstieg ab und zu dem Grabe, um bis in die Ewigkeit im Garten herumzuirren.

Er kehrte zum Hause zurück. Auf den Stufen vor dem Seitengebäude saß eine menschliche Gestalt. Wer konnte an dieser entlegenen Stelle, die auch am Tage niemand aufsuchte, sitzen? Links war ein Dickicht von Akazien, rechts zog sich die Mauer des unbewohnten Seitengebäudes hin. Es war eine schreckliche, gespensterhafte graue Gestalt. Er erkannte den verrückten Kapiton Alilujew. Er saß, mit einem grauen Schlafrock, wie man sie im Krankenhaus trug, und einer weißen Nachtmütze bekleidet, auf den Stufen und schien auf jemand zu lauern. Vielleicht auf ihn? »Er wird mich ermorden!« ging es Araktschejew durch den Kopf; er wollte sich schnell ins Gesträuch zurückziehen, doch es war zu spät: der Verrückte hatte ihn bemerkt und winkte ihn zu sich heran. Ohne seine Stimme zu hören, erriet Araktschejew aus der Bewegung seiner Lippen, daß er ihm zuflüsterte:

»Papachen! Papachen!«

Der Verrückte lachte.

Gleich in der Nähe, um die Ecke des Seitengebäudes, befand sich der Haupteingang des Hauses, wo vor den Fenstern des kaiserlichen Schlafzimmers Wachtposten standen. Er wollte schreien, doch seine Stimme versagte; er wollte fliehen, doch seine Füße waren wie gelähmt. Der Verrückte fuhr aber fort, ihm zu winken, als wenn er wüßte, daß Araktschejew ihm nicht entrinnen könnte. Etwas auch zog Araktschejew zu ihm hin. Er ging zu ihm heran und setzte sich an seiner Seite auf die Stufen. Kapiton sah ihn schweigend an, lachte lautlos und nickte ihm zu, wobei die Quaste auf seiner weißen Mütze hin und her baumelte.

»Was tust du hier, Kapitoscha?« begann Araktschejew vorsichtig und freundlich.

»Ich erwarte den Kaiser,« antwortete ihm der Verrückte mit schlauem Lächeln; er ließ sich wohl nicht so leicht überlisten.

»Wozu brauchst du den Kaiser?«

»Ich will eine Anzeige erstatten.«

»Gegen wen?«

»Gegen Sie, Papachen.«

»Wie bist du aus dem Spital hergekommen?«

»Die Teufel haben mich hergebracht. Sie schleppen mich jede Nacht herum und werden mich wohl bald totpeitschen und ganz fortschleppen.«

»Ach, lieber Kapitoscha, rede mir nicht davon zu dieser Nachtstunde, locke sie nicht herbei!«

»Warum sollte ich sie herbeilocken? Sie sind auch so immer in Ihrer Nähe. Unendlich ist ihre Zahl! Der Prügelteufel sitzt auf der Achsel, der Kitzelteufel auf dem Magen und der Schwatzteufel auf der Zunge; das sind die drei großen Teufel; auf jedem Finger sitzen aber zehn kleine Juckteufel ...«

Araktschejew wollte sich bekreuzigen, aber er konnte seine Hand nicht rühren.

»Wofür werden sie dich totpeitschen?«

»Für die teuflischen Heiligenbilder, auf denen die verruchte Dirne Nastja als Mutter Gottes und der Unmensch Araktschejew als Heiland dargestellt sind. Glauben Sie aber nicht, Papachen, daß sie mich allein holen werden: auch Sie kommen mit, und wir werden beide vor dem Richterstuhl erscheinen!«

Sie schwiegen eine Weile und blickten einander so an, daß man glauben könnte, man habe nicht einen, sondern zwei Verrückte vor sich.

»Wofür willst du mich beim Kaiser anzeigen?«

»Wissen Sie es denn nicht selbst? Für das unschuldige Blut! Für alle die Ertränkten, Erdrosselten, Füsilierten und Totgepeitschten! Für alle die Kinder, Frauen und Greise! Für das ganze rechtgläubige Volk! Und für den Zaren selbst! Und für mein Blut, für mein Blut! ...«

In der Ferne wurde auf der Hauptwache Reveille getrommelt und ganz in der Nähe wurden die Schritte eines Wachpostens hörbar.

»Zur Hilfe!« schrie Araktschejew auf, doch es klang nur wie ein schwaches Flüstern.

Der Verrückte drohte ihm noch einmal mit der Faust und lief plötzlich davon. Seine grauen Rockschöße flogen blitzschnell durch die graue Dämmerung.

»Zu Hilfe! Zu Hilfe!« schrie Araktschejew mit voller Stimme. »Fangt ihn! Fangt ihn! Fangt ihn!«

Die Wachtposten eilten herbei. Sie konnten anfangs gar nicht begreifen, was geschehen war. Endlich gelang es ihm, ihnen den Sachverhalt zu erklären. Sie begannen zu suchen, durchstöberten den ganzen Garten, fanden aber niemand. Alilujew war verschwunden, gleichsam in die Erde versunken; oder hatten ihn vielleicht wirklich die Teufel fortgetragen?

Nach Hause zurückgekehrt, begab sich Araktschejew in sein Schlafzimmer, legte sich angekleidet, wie er war, ins Bett und verfiel in einen tiefen Schlaf, der eher einem Ohnmachtsanfall ähnlich war.

Am Morgen erwachte er krank und mit Schmerzen in allen Gliedern. Er erzählte aber niemand von dem nächtlichen Abenteuer, dessen er sich vielleicht schämte.

Nach dem Frühstückstee geleitete er den Kaiser in den Garten, um ihm die neuen Blumenbeete, Gartenhäuschen und Spazierwege zu zeigen.

Er entdeckte im Garten eine Katze und rief den diensthabenden Gärtnerjungen herbei: er hatte befohlen, alle Katzen, die im Garten bemerkt wurden, zu erhängen, damit sie die Nachtigallen nicht verscheuchten; Araktschejew liebte den Gesang von Nachtigallen über alle Maßen und wurde beim Zuhören oft zu Tränen gerührt. Zu einer anderen Zeit hätte er den Jungen durchpeitschen lassen; vor den Gästen schämte er sich aber, es zu tun. Er kniff ihn nur ins Ohr und fragte:

»Ein Kätzchen?«

»Verzeihung, Durchlaucht!«

»Kennst du den Unterschied zwischen einem Feuerstahl und einem Jungen?«

»Nein, Durchlaucht.«

»Dann will ich es dir sagen: der Feuerstahl wird zuerst angeschlagen und dann hingelegt; der Junge wird aber zuerst hingelegt und dann geschlagen. Merke es dir!«

Man ging zum Teich und fuhr mit einem Boot auf eine kleine Insel, auf der ein tempelähnlicher Pavillon zum Andenken an den Artilleriegeneral Melessino, bei dem Araktschejew seine Karriere begonnen hatte, errichtet war. In diesem Pavillon befanden sich die von Kapiton Alilujew gemalten unanständigen Bilder; sie waren hinter den großen Wandspiegeln, die sich beim Druck auf einen verborgenen Knopf umdrehten, verborgen.

Der Hausherr betrat den Pavillon zuerst, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei.

»Er ist es! Er! Er! Bleibt draußen! Er wird uns alle umbringen!« schrie er entsetzt auf und fiel beinahe besinnungslos dem Kaiser in die Arme.

Die Gäste stürzten in den Pavillon. Es herrschte darin ein Halbdunkel, denn die hohen Bäume verdeckten die Fenster. In der finstersten Ecke zwischen zwei Spiegeln stand jemand. Man konnte nicht erkennen, wer es war und was er dort trieb.

Dibitsch kam näher und sah ein blaues Gesicht mit hervorgequollenen Augen und heraushängender Zunge; er streckte seine Hand aus, um die Gestalt zu berühren und zog sie gleich wieder zurück: die Gestalt bewegte sich und schien über ihn herfallen zu wollen.

»Hier hat sich jemand erhängt,« sagte Dibitsch.

»Nehmt ihn doch schnell aus der Schlinge!« befahl der Kaiser, den Pavillon betretend. »Sieh doch nach, Tarassow, ob man ihn nicht retten kann.«

Man befreite den Selbstmörder aus der Schlinge, – er hing so niedrig, daß seine eingezogenen Beine beinahe den Boden berührten, – und legte ihn auf einen Tisch. Der Kaiser beugte sich über ihn und erkannte Kapiton Alilujew.

»Ist er tot?«

»Zu Befehl, Majestät,« erwiderte Tarassow, »er hat sich wohl noch in der Nacht erhängt.«

»Was ist das?« fragte der Kaiser, auf ein Papier hinweisend, das der Tote in der erstarrten Hand so fest hielt, daß es Tarassow große Mühe kostete, es ihm wegzunehmen, ohne es zu zerreißen. Es war ein versiegelter Umschlag mit der Aufschrift: »An seine Kaiserliche Majestät, streng geheim.«

Tarassow reichte den Brief dem Kaiser. Dieser wollte ihn erst an Kleinmichel weitergeben, überlegte es sich aber und steckte ihn in seinen Ärmelaufschlag.

Araktschejew wollte den Pavillon gar nicht betreten. Er saß draußen auf der Schwelle, stöhnte, ächzte und trank Wasser, das ihm die Soldaten, die das Boot herübergerudert hatten, reichten. Man trug ihn ins Boot und brachte ihn nach Hause. Vor Schrecken bekam er eine heftige Magenverstimmung. Der Kaiser war sehr besorgt, doch Tarassow beruhigte ihn; er sagte, daß es nichts Ernstes sei, und verordnete dem Kranken Kamillentee und Klistiere. Der Kaiser blieb den ganzen Tag an seinem Krankenlager, bereitete eigenhändig den Kamillentee und wollte ihm sogar selbst das Klistier setzen.

Als er sich abends in sein Schlafzimmer zurückzog, entsiegelte er den Brief Alilujews. Als er aber sah, daß es eine Anzeige gegen Araktschejew war, las er ihn nicht weiter und durchflog nur den Anfang und das Ende.

»Eure kaiserliche Majestät, allergnädigster Herrscher! Der bloße Gedanke an die militärischen Siedlungen erfüllt jede wohlgesinnte Seele mit Qual und Grauen ...«

Zum Schluß hieß es:

»Die militärischen Siedlungen sind das größte Unrecht, das ein wütender Tyrann ersinnen konnte ...«

»Er ist nicht der Verfasser,« sagte sich der Kaiser, »wie käme auch dieser Trunkenbold dazu? Jemand hat es für ihn geschrieben, vielleicht jemand von ihnen

»Sie« waren immer und überall, die Mitglieder der Geheimen Gesellschaft.

Er zündete den Brief an einer Kerze an, warf ihn in den Kamin und mischte die Glut so lange mit dem Schürhaken, bis der Brief zu Asche verbrannt war.

Darauf ging er zu Bett und schlief ebenso ruhig wie in der vergangenen Nacht.

Für den nächsten Tag war die Abreise des Kaisers angesetzt. Als Araktschejew gemeldet wurde, daß die Leiche Alilujews in einen Sack genäht und mit einem Stein beschwert in den Wolchow geworfen sei, fühlte er sich sofort wieder wohl. Er bekreuzigte sich und begann mit Kleinmichel Boston mit geringen Einsätzen zu spielen; dies war das beste Zeichen, daß er vollkommen hergestellt war.

Im Zentrum der Araktschejewschen Besitzungen, im Dorfe Ljubuni, stand auf einem kleinen Hügel ein Aussichtsturm, in der Art der Feuerwachttürme. Von hier aus konnte man die ganze Gegend überblicken. Auf der Turmspitze befand sich eine goldene Kugel, die wie das Feuer eines Leuchtturmes blinkte, und eine Äolsharfe, deren Saiten im Winde klagend tönten. Wenn die Bauern abends am Turme vorbeigingen und diese Töne hörten, flüsterten sie erschrocken:

»Gott sei mit uns!«

Der Gutsherr führte seine Gäste vor der Abreise auf diesen Turm, um ihnen zum letztenmal Grusino zu zeigen. Man bestieg den Turm und betrachtete durch ein Fernrohr aus der Vogelperspektive alle die Dörfer, die Araktschejews Erbgut bildeten. Es war keine Landschaft, sondern eine geometrische Zeichnung: die Felder, Wiesen, Fluren und Äcker waren gleichsam mit Lineal und Zirkel entworfen, jedes Stück Land hatte eine eigene Nummer. Die Landstraßen, Gräben und Waldwege waren wie mit einem Lineal gezogen; zahllose Kubikklafter Holz, ein jeder mit einer Nummer versehen, zogen sich in schnurgeraden Linien durch die Landschaft. Dort, wo einst riesengroße Fichten standen, gab es jetzt nicht einmal Gras; alles war ausgerodet, gesäubert und nivelliert, als ob ein verheerender Sturm die Gegend verwüstet hätte. Das Antlitz der Erde drückte die gleiche überirdische Langeweile aus, wie das Gesicht Araktschejews.

Tarassow hatte im Spital erfahren, auf welche Weise diese militärische Nivellierung der Gegend durchgeführt worden war: wie die Soldaten ganze Dörfer abbrachen, Kirchen zerstörten und Friedhöfe aufgruben, wobei sie die heulenden alten Weiber von den Gräbern gewaltsam wegschleppen mußten; die alten Weiber flüsterten aber entsetzt: »Es ist der Jüngste Tag, der Antichrist ist erschienen!«

Außer ihm waren aber alle entzückt, der Kaiser am allermeisten. Er dachte wieder an seinen alten Plan, die militärischen Siedlungen auf ganz Rußland auszudehnen; überall sollten die gleichen Kasernendörfer mit den gleichen rosagetünchten Häusern, weißen Pfosten und grünen Brücken stehen; die gleichen schnurgeraden Alleen, schnurgeraden Gräben und schnurgeraden Waldwege laufen; die gleichen uniformierten Bauern hinter dem Pfluge marschieren; überall sollte es die gleichen Spanferkel zu Mittag, Ofentüren mit Amoretten und echt kaiserliche Wasserklosette geben. Dann wird es weder Revolutionen, noch Geheime Gesellschaften geben. »Gott sei Dank, jetzt ist alles ruhig und friedlich!«, wie es in einem Berichte Araktschejews hieß. Ein irdisches Paradies, das Reich Gottes, das himmlische Jerusalem. Wie es in der Schrift steht: »Alle Tale sollen erhöhet werden, und alle Berge und Hügel sollen geniedriget werden, und was ungleich ist, soll eben, und was höckericht ist, soll schlicht werden.«

»Ich danke dir, lieber Freund Alexej Andrejewitsch, für alle deine Bemühungen!« sagte der Kaiser beim Abschied mit Tränen in den Augen zu Araktschejew. »Der Herr möge dich dafür belohnen!«

»Ich werde mir alle Mühe geben, Majestät! Alles tu ich nur für Sie, nur für Sie, Väterchen!« Er fiel dem Kaiser schluchzend an die Brust. »Wenn Sie es zu befehlen geruhen, werden wir ganz Rußland in eine militärische Siedlung verwandeln!«

Die Saiten der Äolsharfe tönten und klagten; in ihnen schienen die Seelen Kapiton Alilujews und aller andern Totgepeinigten zu weinen:

»Der Antichrist ist gekommen!«


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