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IV.

Fürst Valerian Michailowitsch Golitzin fürchtete sich vor der bevorstehenden Begegnung mit Araktschejew, wie sehr er auch darüber lachte.

Er wußte, daß der Liebling des Kaisers in seinem Schreibtisch leere Bogen liegen hatte, die unten die Unterschrift des Zaren trugen. Er konnte auf diese Formulare alles schreiben, was ihm nur beliebte: Titel, Orden, Festungshaft, Verbannung, Sibirien. Er konnte auch jedermann beleidigen und erniedrigen; wie sollte man sich an ihm rächen?

»Der Kaiser ist mein Freund,« pflegte er zu sagen, »gegen mich kann man höchstens vor Gott Klage erheben.«

Vor einigen Jahren erzählte man sich in Petersburg, daß der Dichter Puschkin in der Geheimpolizei mit Ruten gezüchtigt worden wäre. Die besten Freunde des Dichters verbreiteten dies Gerücht mit gutmütigem Lächeln. Viele zweifelten: »Ist denn so etwas überhaupt möglich?« – »Es ist höchst einfach,« behaupteten andere: »In der Geheimpolizei haben sie in einem Zimmer ein versenkbares Dielenbrett, wie so eine Versenkung im Theater, in der die Teufel verschwinden; wenn jemand auf dieses Brett zu stehen kommt, so versinkt er bis an die Brust in diesem Loch. Unten stehen aber Männer mit Ruten bereit, die ihm schnell die Beinkleider ausziehen und die Exekution vornehmen. Nun soll einer versuchen, sich zu beschweren!«

Nicht nur Dichter und Kammerjunker, selbst Großfürsten zitterten vor dem »Drachen«. Als Fürst Valerian als Offizier des Preobraschenskij-Regiments einmal im Winterpalais Wache stand, sah er, wie die Großfürsten Nikolaj Pawlowitsch und Michail Pawlowitsch, die damals noch sehr jung waren, auf der Fensterbank saßen und mit den jüngeren Flügeladjutanten Possen trieben; plötzlich flüsterte jemand: »Araktschejew!« Die Großfürsten sprangen sofort von der Fensterbank und standen stramm, wie Soldaten heim Kommando Stillgestanden.

Ja, er fürchtete sich vor dieser Audienz. Doch lebte in ihm neben der Furcht noch eine Hoffnung.

Vor zwei Jahren hatte Golitzin dem Kaiser ein Memorandum überreicht, in dem von der Befreiung der Leibeigenen und der Einführung einer Verfassung, als von nahe bevorstehenden und dem von der Höhe des Thrones verkündeten kaiserlichen Willen entsprechenden Dingen die Rede war.

Über das Schicksal dieses Memorandums hatte er nichts mehr gehört, es war anscheinend verschollen. Inzwischen hatte er selbst auch jeden Glauben an die Ausführbarkeit seiner Ideen verloren. Und doch hoffte er noch immer auf ein Wunder, vielleicht wird der Kaiser ihn doch noch sprechen wollen; dann wird er ihm alles sagen, und der Kaiser wird ihn verstehen.

Er dachte an das Jugendbildnis des Kaisers, an die gepuderten Locken, an die zartrosa Gesichtsfarbe, die an Perlmutter erinnerte, an die dunkelblauen etwas verschleierten Augen und an das reizende, noch nicht voll erblühte Lächeln der kindlichen Lippen. Er und Sophie sahen sich ähnlich wie Geschwister.

Manchmal sah Fürst Valerian dieses Gesicht im Traume; er konnte nie unterscheiden, ob es das Gesicht des Vaters oder der Tochter war. Doch war er im Traume in beide zugleich verliebt, wie auch ganz Rußland einst in den schönen Knaben verliebt gewesen war.

»Mein Wunsch ist, überall Republiken zu sehen: dies ist die einzige Staatsform, die den Menschenrechten entspricht!« pflegte Alexander mit kindlichem Lächeln zu sagen. Aber im reiferen Alter, nach dem schrecklichen Blutbad von Tschugujew, wo die Leute je zwölftausend Spießruten laufen mußten, weinte er in den Armen Araktschejews und sagte: »Lieber Freund Alexej Andrejewitsch, ich weiß ja, wie schwer es dir bei deinem empfindsamen Herzen fiel!«

Der Vater Sophies und der Freund Araktschejews, Republik und Spießruten, das Warten auf ein Wunder und das Warten auf eine körperliche Züchtigung – alles vermengte sich in Golitzins Kopf zu einem wüsten Durcheinander. Um diese Gedanken loszuwerden, ging er zu Bett.

Er hatte einen häßlichen Traum: eine Leichenprozession mit zahllosen offenen Särgen zog an ihm vorüber, in den Särgen lagen aber Skelette und Spirituspräparate von Mißgeburten, in denen er seine alten Freunde, die Mitglieder der Geheimen Gesellschaft, erkannte. Auch er selbst schwamm in Gestalt einer bleichen Larve, eines bebrillten Homunkulus in Spiritus.

Als er erwachte, konnte er den Sinn dieses Traumes zuerst unmöglich begreifen; plötzlich begriff er ihn: die Professoren der Kasanschen Universität beerdigten auf den Befehl Magnitzkijs die anatomische Sammlung.

* * *

Als Fürst Valerian am nächsten Tag genau zur bestimmten Stunde – um sechs Uhr abends das Adjutantenzimmer im Winterpalais betrat, wurde er von den diensthabenden Generaladjutanten Uwarow, Sakrewskij, Fürst Menschikow und Orlow sehr freundlich begrüßt.

»Für dein Wohlergehen, lieber Fürst, sollte man eine zentnerschwere Kerze der Kirche stiften: du hast den Schurken so beschimpft, wie er es verdiente,« sagte Menschikow, ihm die Hand schüttelnd.

»Er ist wirklich ein Scheusal!« rief Orlow.

»Ein Drache!« sagte Sakrewskij.

»Nein, warum ein Drache? Er ist einfach eine Fledermaus!« entgegnete Uwarow und gab folgende Anekdote zum besten: Auf Araktschejews Gute Grusino wurde bei einem Bauer eine ausgetrocknete Fledermaus gefunden, die er in seinen Kleidern eingenäht herumtrug; er gestand, daß er durch dieses Zaubermittel Araktschejew verderben wollte; Araktschejew ließ ihn zu Tode peitschen und rief ihm während der Exekution zu: »Ich selbst werde für dich eine Fledermaus sein!« – So wurde er zu einer unheilbringenden Fledermaus für ganz Rußland.

»Wird sich denn wirklich niemand finden, der dem Kaiser über diesen Unmenschen die volle Wahrheit sagt?« schloß Uwarow seine Erzählung.

In der Türe zeigte sich das flache hölzerne Gesicht des Adjutanten Araktschejews, des Deutschen Kleinmichel. Er rief Golitzin zu:

»Darf ich bitten, Fürst.«

Fürst Valerian betrat den Sekretärsaal, einen großen finsteren Raum, dessen Fenster auf den Schloßgarten hinausgingen.

An einem Tisch, der mit grünem Tuch bedeckt war, saß Araktschejew. Vor ihm stand ein alter General, vielleicht einer der Helden des Jahres 12, ein Genosse Bagrations und Rajewskijs in jenen ruhmvollen Schlachten, von denen sich der Liebling des Zaren »infolge Nervenschwäche« ferngehalten. Während ihm Araktschejew eine Rüge erteilte, stand der General vor ihm, mit gekrümmtem Rücken, den Kopf zwischen die Schultern eingezogen, wie ein Schuljunge da. Obwohl Fürst Valerian sein Gesicht nicht sehen konnte, – der Alte kehrte ihm den Rücken – konnte er doch nach seiner Glatze, die glänzend und rot, wie das Gesicht eines Neugeborenen war, und der blauroten Falte auf dem aus dem engen Kragen hervorquellenden Halse schließen, daß der alte Mann in tausend Ängsten schwebte.

»Ich glaube, mein Herr, daß Sie gar Lust hätten, den Dienst zu schwänzen; ich will aber nicht dulden, daß meine Untergebenen das sorglose Leben von Kammerjunkern führen.« Araktschejew sprach mit gleichmäßiger, leiser, näselnder Stimme, beinahe flüsternd: in den kaiserlichen Gemächern durfte man doch nicht laut sprechen. – »Der Befehl Numero eintausendachthundertdreiundsiebzig, von dem Sie behaupten, daß er Ihnen die Möglichkeit nimmt, Ihren Pflichten gewissenhaft nachzukommen, verlangt von Ew. Exzellenz nichts Unmögliches, wie es überhaupt in dienstlichen Angelegenheiten nichts Unmögliches geben darf ...«

Man hatte den Eindruck, daß er imstande sei, mit dem gleichen Gesichtsausdruck und im gleichen Tonfall, ohne Pausen noch zwei, drei Stunden und beliebig lange zu sprechen.

Fürst Valerian hatte ihn schon einigemal flüchtig gesehen. Jetzt musterte er ihn aber mit besonderem Interesse, als sähe er ihn zum erstenmal im Leben.

Er war in den Fünfzigern, groß gewachsen, knochig und sehnig und hielt sich etwas gebückt. Zwischen den beiden oberen Knöpfen seiner dunkelgrünen Artillerieuniform trug er wie ein kleines Heiligenbild – ein Miniaturbildnis des seligen Kaisers Paul I. Sein Gesicht war durchaus nicht das eines Militärs, sondern ein typisches Beamtengesicht. Seine glattrasierten Wangen waren eingefallen, seine Lippen fein, seine Nase dick, etwas aufgeworfen und gerötet, als ob er ewig Schnupfen hätte. Dieses Gesicht drückte weder Klugheit, noch Dummheit, weder Güte noch Bosheit, sondern nur Langeweile aus. Die halbgeöffneten Lider und die trüben Augen verliehen ihm das Aussehen eines Menschen, der soeben erst erwacht ist und gleich wieder einschlafen wird.

»Ich wünsche, daß alle Geschäfte ordentlich, schnell aber ordentlich erledigt werden; vielen Geschäften kann eine schnelle Erledigung übrigens nur schaden. Dazu hat uns Gott die Vernunft gegeben; es gibt in der Welt nichts Gutes ohne Böses, und dabei gibt es immer mehr Böses als Gutes ...«

Draußen schneite es große nasse Flocken. Ins Zimmer drang die Dämmerung, grau wie Spinngewebe. Im grauen Spinngewebe der Dämmerung, im grauen Spinngewebe der eintönigen Worte herrschte jene fast mystische Langeweile, die wohl die Toten in ihren Särgen empfinden. Die Langeweile flößte tiefes Grauen ein.

Araktschejew nickte: damit bedeutete er dem General, daß die Audienz zu Ende sei. Der Greis verließ das Zimmer rot und schweißgebadet, wie nach einem Dampfbade.

Golitzin näherte sich dem grünen Tisch.

»Ein Neffe des Fürsten Alexander Nikolajewitsch?«

»Zu Befehl, Durchlaucht.«

»Ich habe Ihnen zweierlei mitzuteilen, Fürst. Das erste ist: für das Tragen einer Brille in Gegenwart von allerhöchsten Personen muß ich Ihnen auf Befehl des Kaisers einen strengen Verweis erteilen. Das zweite betrifft Ihr Memorandum ...«

Er reichte ihm das Schriftstück, das seinen eigenhändigen mit Rotstift hingeschriebenen Vermerk trug: »Wegen Endberlichkeit, zurük!« Araktschejew hatte es fertig gebracht, in diesen drei Worten drei orthographische Fehler zu machen.

»Sie dürfen es mir, altem Mann, nicht übel nehmen,« sagte er, indem er Golitzin scharf in die Brauen und nicht in die Augen sah: dies war seine Art, die Leute, zu denen er sprach, anzusehen; sein Gesicht nahm den Ausdruck erheuchelter Liebenswürdigkeit an. – »Ich bin ein einfacher und ungebildeter Mann. Als armer Nowgoroder Landedelmann habe ich die gewöhnliche russische Bildung genossen. Das Lesen habe ich beim Küster der Dorfkirche gelernt; es ist daher kein Wunder, daß ich sehr wenig weiß. So kann ich bei meiner Einfalt unmöglich begreifen, was es für eine Verfassung ist, von der Sie in Ihrem Memorandum sprechen. In meinem ganzen langen Leben habe ich noch nie etwas von einer Verfassung gehört; ich war stets der Meinung, daß wir in Rußland die autokratische Regierungsform haben ...«

Nun folgte wieder ein unendliches Spinngewebe von Worten; Fürst Valerian empfand nichts als tödliche, fast mystische Langeweile. Araktschejew erhob sich plötzlich von seinem Sessel, ging zum Kamin und winkte Golitzin zu sich heran: er wollte ihm wohl etwas sagen, was der Adjutant nicht hören durfte. Als Golitzin sich ihm genähert hatte, ergriff er einen Knopf seiner Uniform und flüsterte ihm noch freundlicher, beinahe einschmeichelnd zu:

»Es war immer mein Unglück, Durchlaucht, daß das Publikum von mir schlecht denkt. Übrigens hat einmal ein kluger Mensch gefragt: wieviel Dummköpfe machen ein Publikum aus? Daher habe ich auch keinen sonderlichen Respekt vor dem Sankt Petersburger Geschwätz: was ein Esel von mir spricht, das acht' ich nicht. Die Hauptsache ist, daß man ein reines Gewissen hat ... Wie heißt dieser Gegenstand, wenn ich fragen darf?«

»Es ist ein Paravent, Durchlaucht.«

»Ja, ein Paravent. Auch Ihr ergebenster Diener ist nichts anderes, als so ein Paravent: was auch hinter meinem Rücken geschieht, alles muß ich mit meinem Gesicht decken. Es gibt nichts, für das ich nicht verantwortlich gemacht werde ... Man beschimpft mich: Araktschejew ist ein Unmensch, Araktschejew ist ein Bösewicht, Araktschejew ist ein ›Scheusal‹. Meine ganze Schuld besteht aber darin, daß ich einen aufrichtigen Charakter habe, niemandem schmeichle und den Willen meines kaiserlichen Herrn gewissenhaft erfülle. Was er mir auch befiehlt, tue ich. Wenn er mir die Proklamierung einer Verfassung oder selbst einer Republik befiehlt, so werde ich auch das sofort ausführen ... Warum denn nicht?«

– Er ist gar nicht so dumm, – sagte sich Golitzin. – Aber was will er von mir? –

»Auch Ihr Onkel, Fürst Alexander Nikolajewitsch, ist auf mich schlecht zu sprechen. Ich trage ihm aber gar nichts nach, wie es auch im Evangelium heißt: Liebet, die euch hassen. Was aber dich, lieber Fürst Valerian Michailowitsch, betrifft, so zweifele ich nicht, daß du mich bald liebgewinnen wirst: du mußt erst einsehen, daß ich dich wie ein wahrhafter Christ behandle ...«

Er schwieg; seine halbgeöffneten Augenlider fielen ganz zu; es schien, daß er Golitzin ganz vergessen hatte und am warmen Kamin stehend, einnickte. Golitzin betrachtete schweigend sein Gesicht. Er entdeckte auf seinem gespaltenen Kinn ein kleines weiches Grübchen, das auf diesem Gesicht sehr sonderbar wirkte; er mußte dieses Grübchen immer und immer wieder anstarren. Er dachte an das »empfindsame Herz« Araktschejews, von dem der Kaiser nach dem Blutbade von Tschugujew sprach; auch die leibeigene Konkubine Araktschejews, die berühmte Nastja Minkina, fiel ihm ein: in zärtlichen Augenblicken küßte sie wohl eben dieses Grübchen im Kinn.

Plötzlich öffnete er ganz langsam ein Auge und blinzelte Golitzin zu; er sah ihm dabei wieder in die Augenbrauen.

»Nun, Fürst, ist es lange her, daß Sie Mitglied der Geheimen Gesellschaft sind?« fragte er ganz unvermittelt.

»Von welcher Geheimen Gesellschaft belieben Durchlaucht zu sprechen?« fragte Golitzin so naiv und ruhig, daß er selbst darüber staunte; sein Herz stand aber beinahe still; er sagte sich: So, jetzt geht es los!

»Sie wissen es nicht? Wir wissen aber alles, alles, und nicht nur das von Ihnen, sondern auch von Ihrem Onkel ...«

»Was? Mein Onkel soll bei der Geheimen Gesellschaft sein?! ...« platzte Golitzin heraus. Er sah sofort ein, daß er eine unverzeihliche Dummheit gemacht hatte; es war aber zu spät.

»Warum staunen Sie so, wenn Sie nichts von der Geheimen Gesellschaft wissen? Vielleicht wissen Sie doch etwas, haben es aber nur vergessen? Was?«

»Wenn ich auch etwas wüßte, Durchlaucht, und es Ihnen sagen würde, so wäre ich ein Schuft und ein Denunziant!« sagte Fürst Valerian erblassend, doch nicht aus Angst, sondern aus Haß.

»Beruhige dich, Fürst, laß es. Wenn du nichts sagen willst, so will ich auch nichts hören. Ich spreche ja zu dir wie ein Vater, der nur dein Bestes will; ich will ja aus dir einen dem Kaiser nützlichen Menschen machen, denn du scheinst mir klug. Das mit der Brille ist Unsinn. Du hast den besten Leumund. Der Kaiser kennt dich noch vom Kongreß zu Verona her, dich und Schuwalow, den Bräutigam von Sofia Dmitrijewna; er spricht von dir immer sehr huldvoll. Heute bist du Kammerjunker, morgen vielleicht schon Kammerherr. Niemand wird mir einreden, daß es einen Kammerjunker gibt, der nicht gerne Kammerherr werden möchte ... Überlege es dir, Fürst, überlege es dir gut. Über Nacht kommt guter Rat. Komme doch einmal zu mir nach Grusino, da können wir ungestörter plaudern. Besuche mich alten Mann, es wird mich sehr freuen, Ew. Durchlaucht bei mir auf meinem Ruhesitz empfangen zu dürfen ...«

Golitzin fiel der Vers des Dichters Rylejew ein: »Ich gebe nichts auf deine Huld, du Schuft!« Als er die zwei Finger, die ihm Araktschejew als Zeichen höchsten Wohlwollens entgegenstreckte, berührte, fühlte er, daß dieses Wohlwollen noch viel erniedrigender sei, als eine Züchtigung mit Ruten.

* * *

Die Audienzen waren zu Ende. Kleinmichel zog sich zurück.

Araktschejew schlich sich ganz leise auf den Zehenspitzen zur Türe des ersten der beiden Gemächer, die zwischen dem Sekretärsaal und dem Arbeitszimmer des Kaisers lagen, öffnete vorsichtig diese Türe und flüsterte:

»Jefimytsch? He, Jefimytsch?«

»Zu Befehl, Durchlaucht,« antwortete gleichfalls flüsternd der Kammerdiener des Kaisers, Melnikow.

»Hat der Kaiser nach mir gefragt?«

»Nein, Durchlaucht.«

»War jemand da?«

»Niemand, Durchlaucht.«

Sie schlichen beide auf den Zehenspitzen durch die beiden leeren Gemächer. Als unter Melnikows Schritten plötzlich ein Dielenbrett knarrte, fuchtelte Araktschejew zornig mit beiden Armen. Alle seine Bewegungen waren schleichend, weich und leise wie die einer Fledermaus.

Vor der Türe des Arbeitszimmers blieben sie mit verhaltenem Atem, als ob da drinnen ein Sterbender läge, stehen und begannen zu horchen. Zuerst neigte sich Melnikow zum Schlüsselloch und blickte hinein; dann tat Araktschejew dasselbe; beide taten es mit einer gewohnten raschen Bewegung. Der Kaiser war allein und las in einem Buch. Sie wechselten schweigend rasche Blicke.

Dann gingen sie wieder in den Sekretärsaal.

»Führe den Vater Photius so hinein, daß es niemand sieht.«

»Zu Befehl, Durchlaucht.«

»War der Wagen des Fürsten vom Quai noch nicht da?«

»Nein.«

»Und von der Eremitage?«

»Auch nicht. Wir haben überall Leute postiert, die den Wagen nicht passieren lassen.«

»Wenn etwas kommen sollte, wirst du es mir sofort melden.«

»Durchlaucht können ganz unbesorgt sein.«

»Vergiß es nicht, dem Kutscher Ilja zu sagen: wenn der Kaiser auf die Fontanka fährt, soll er mir sofort einen Kurier in die Litejnaja schicken.«

Auf die Fontanka bedeutete – zum Minister für geistliche Angelegenheiten, dem Fürsten Alexander Nikolajewitsch Golitzin.

Araktschejew holte aus der Tasche eine goldene Tabatiere heraus und drückte sie Melnikow in die Hand. Dieser wußte anfangs nicht, was er damit anfangen sollte; er öffnete die Dose und nahm eine Prise mit solcher Pietät, als ob er Heiligenreliquien küßte. Dann wollte er die Tabatiere wieder zurückgeben.

»Nimm sie nur, Jefimytsch, ich schenke sie dir zum Andenken.«

»Durchlaucht! Ich bin auch so schon überreich mit Gnaden überschüttet ... Ich weiß gar nicht, wie ich danken soll ...« stammelte Melnikow, ihm die Hand küssend.

»Also, sieh zu, mein Lieber, daß alles klappt.«

»Durchlaucht können ganz unbesorgt sein.«

Als der Kammerdiener gegangen war, setzte sich Araktschejew in einen Sessel am Kamin zurecht und holte aus seinem Portefeuille einen Brief, den er soeben von Nastenjka bekommen hatte:

»Mein lieber Vater und Wohltäter, Durchlaucht! Wenn Sie abwesend sind, habe ich keine Freude und keinen Trost, außer Tränen: ich weine in einem fort; ich male mir aus, Väterchen, wie Sie aus dem Schlafzimmer treten und mich für die Überraschung, die ich Ihnen zugedacht, küssen. Wenn ich mir aber denke, daß Sie verreist sind, fange ich gleich wieder zu weinen an. Wenn Sie noch lange ausbleiben, will ich lieber mit dem Wagen zu Ihnen in die Litejnaja kommen, als daß ich jeden Augenblick mit wundem Herzen an Sie denke. Auf unserem Gute, Väterchen, ist alles in Ordnung. Die Bauern sind gesund, ebenso das übrige Vieh und Geflügel. Matjuschka hat den Porzellandeckel vom Milchtopf zerschlagen, und ich habe ihn dafür mit Ruten bestraft. Wie Sie es, Väterchen, selbst befohlen haben, ließ ich den Nefed und den Koch Finogen ordentlich mit Ruten durchpeitschen. Die Französin und die Herbstfavoritin haben in der vergangenen Woche gekalbt. In den Treibhäusern ließ ich die Fenster einsetzen. Zwei Fäßchen gesalzenes Kalbfleisch sind verdorben; ich ließ sie der Dienerschaft geben. Schonen Sie sich doch um Christi willen, mein Herz! Bei feuchtem Wetter bleiben Sie lieber zu Hause. Und vergaffen Sie sich nicht in die jungen Weiber. Ich muß oft an Ihnen zweifeln, denn ich kenne Ihren unbeständigen Charakter; meine Liebe ist aber so groß, daß ich Ihnen alles vergebe. Wenn ich Sie nicht lieben dürfte, so wäre ich unwürdig, auf der Erde zu leben. – Ew. Durchlaucht bis zum Grabe ewig ergebene Dienerin – Nastja. – Ich küsse Sie auch unter die Halsbinde.«

Er schloß gerührt die Augen und stellte sich vor, wie sie ihn unter die Halsbinde, in das Grübchen am Kinn küßt. Er schlummerte ein. Im Schlafe hörte er die Töne der Äolsharfe, die auf einem der Türme von Grusino angebracht war, und in dieser Musik – die ihn einlullende Stimme Nastenjkas: »Schlafen Sie, Väterchen, schlafen Sie süß, – bei Ihrer schwachen Gesundheit bedürfen Sie der Ruhe ...«

Plötzlich fuhr er zusammen und erwachte: vielleicht passen die Leute doch nicht gut auf und lassen Alexander Golitzin ins Schloß? ...

Um die Schläfrigkeit zu vertreiben, begann er im Kopfe folgendes Exempel durchzurechnen: wieviel Besen werden in Grusino im Laufe eines Jahres verbraucht? In der Küche braucht man wöchentlich 2, macht im Jahre 104; im Dienstgebäude wöchentlich 5 und im Jahre 260; in den Treibhäusern, Stallungen usw. – im ganzen 1890 in 1 Jahre; in 5 Jahren sind es 9450, in 25 Jahren - 47 250.

Nein, das Exempel war zu einfach. Er dachte sich ein schwierigeres aus: wieviel Schotter braucht man zu einer Chaussee von Grusino nach Tschudow?

Die Höhe eines jeden Schotterhaufens beträgt – 3 Arschin 7 Werschok; der Umfang – 6 Arschin 13 Werschok; die schräge Fläche ist 4 Arschin 9 Werschok breit. Im Kopfe war es schwer zu berechnen. Er holte einen kleinen Papierfetzen und einen Bleistiftstummel aus der Tasche und begann zu rechnen; er schrieb die Zahlenkolonnen möglichst eng nebeneinander, denn er sparte stets am Papier.

Eine wunderbare freudlose und leidlose Ruhe umfing ihn; er fühlte sich gleichsam in der Ewigkeit.

Als er bereits mit Millionen von Kubikwerschoks operierte, ging die Türe aus dem Adjutantenzimmer leise auf und Kleinmichel meldete:

»Durchlaucht, es ist ein Bote von seiner Hoheit dem Großfürsten ...«

»Habe ich dir denn nicht gesagt, du Teufelssohn, daß du jedermann hinausschmeißen sollst?!« Araktschejew stürzte mit erhobener Faust auf ihn los und rief ihm ein ganz gemeines Schimpfwort zu.

Kleinmichel zuckte mit keiner Wimper und rührte sich nicht von der Stelle. Wenn die Faust Araktschejews auf dieses hölzerne ausdruckslose Puppengesicht niedersausen würde, gäbe es wohl einen trockenen, hölzernen Ton.

Araktschejew ließ die Hand sinken und flüsterte dem Adjutanten wütend zu:

»Hinaus!«

Er setzte sich wieder in seinen Sessel am Kamin. Die Rechnung wollte nicht vorwärts gehen: der Adjutant hatte alles durcheinandergebracht. Vor Ärger bekam er Herzklopfen und einen Anfall von Nervenschwäche.

»Mein Gott! Mein Gott!« seufzte er auf, »keinen Augenblick läßt man mich in Ruhe!«

Er nahm Anismandeltropfen ein, beruhigte sich etwas und vertiefte sich wieder in sein Rechenexempel.

Wieder umfing ihn jene freud- und leidlose Ruhe; in der ganzen Welt gab es für ihn nichts als die zwei Reihen gleichmäßiger Schotterhaufen, die sich zu beiden Seiten der Chaussee in die Unendlichkeit hinzogen.

Fürst Valerian begab sich aber nach der Audienz bei Araktschejew zu seinem Freund, dem Fürsten Sergej Petrowitsch Trubezkoj, dem Direktor der Nordsektion der Geheimen Gesellschaft und teilte ihm seinen Entschluß, dieser Vereinigung beizutreten, mit. Nach einigen Tagen wurde auch seine Aufnahme vollzogen.


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