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V.

Der Kaiser wußte, daß Sophie starb; er wußte auch, daß mit ihrem Tode das letzte Band, das ihn noch mit dem Leben verknüpfte, reißen würde. Doch wie gewöhnlich, verheimlichte er seinen Kummer vor allen. Er klagte nicht und blieb allen seinen Gewohnheiten und Beschäftigungen treu. Er wohnte, wie immer in den Sommermonaten, abwechselnd auf der Kamennyi-Insel, in Zarskoje und in Krasnoje Ssjelo, wo in seiner Gegenwart große Manöver stattfinden sollten. Wo er sich auch aufhielt, bekam er zwei- und dreimal täglich durch Feldjäger die letzten Nachrichten über Sophies Befinden. Auch er selbst besuchte sie beinahe täglich.

Er saß meistens an ihrem Bett, schwieg oder las, was ihm gerade in die Hand fiel; sie hörte ihm kaum zu und lag regungslos mit geschlossenen Augen, ihre abgemagerten, durchsichtig blassen blaugeäderten Arme vor sich hingestreckt. Die Bettdecke warf sie von sich ab, denn alles erschien ihr, wie es meistens bei Schwindsüchtigen vor dem Tode der Fall ist, zu schwer; sie war nur von einem Laken bedeckt, so daß ihr ganzer Körper von den kleinen Füßen bis zu den kaum sichtbaren Mädchenbrüsten, vom weißen Gewebe übergossen, wie nackt, aus Stein gemeißelt, scharf und gespannt wie ein Pfeil auf einer allzu gespannten Sehne erschien.

Manchmal öffnete sie die Augen und blickte ihn lange schweigend an. Dann fühlte er sich vor ihr schuldbeladen und glaubte, daß er ihr etwas sagen, oder etwas unternehmen müsse, um seine Schuld gutzumachen, so lange es nicht zu spät sei. Es schien ihm auch, daß sie von ihm sich in eine unerreichbare Höhe entferne, in eine unendliche Tiefe versinke; dann verschwand sein Schmerz, er fühlte weder Grauen, noch Mitleid, sondern nur Neid: er wollte ihr in die Ferne folgen.

Es war Anfang Juni. Die Tage waren heiß, der Himmel war von weißen Gewitterwolken bedeckt, das Grün der Wiesen erschien feucht und giftig, aus den Sümpfen kam ein schwüler feuchter Geruch, der etwas an den Geruch von Pelzen erinnerte; ab und zu grollte dumpf und verschlafen der Donner, und nachts zuckten ruhelose Wetterleuchten.

Als er ihr an einem Nachmittag aus dem Evangelium vorlas, öffnete sie plötzlich die Augen, und er erriet, daß sie ihm etwas sagen wollte. Er beugte sich über sie und legte sein rechtes Ohr, mit dem er besser hören konnte, an ihre Lippen. Sie flüsterte kaum hörbar, und ihre Stimme klang wie das nächtliche Rauschen trockener Gräser:

»Jetzt ist wohl die Heuernte, Papa?«

»Ja, doch das Heu kann leicht verderben, denn es hört nicht auf zu regnen.«

»Wie schön ist es doch,« flüsterte sie, »wenn man sich jetzt auf dem Felde ins Gras legt, sich darin mit dem Kopf vergräbt und einschläft. Es ist so schön, so frisch, hier ist es aber heiß und schwül, ich kann gar nicht atmen. In der Nacht kommt immer die Atjka ...«

»Wer ist Atjka?«

»Mein Affe. Hast du ihn denn vergessen?«

»Ach ja, ich kann mich seiner noch gut erinnern.«

Sie dachten an ganz andere Dinge; sie sprachen nur, um irgend etwas zu sagen und das unerträgliche Schweigen zu brechen.

»Ist Mama auch krank?«

Mama nannte sie die Kaiserin Jelisaweta Alexejewna. Er hatte sich an diese Bezeichnung gewöhnt und gebrauchte sie selbst.

»Sage ihr, daß ich neulich von ihr geträumt habe: wir wohnten zusammen irgendwo an einem fernen Meere, vielleicht in der Krim ...«

Er erzählte ihr oft davon, daß er die Absicht habe, nach seiner Verzichtleistung, »wenn er den Abschied genommen«, Oreanda, seinen Lieblingsplatz auf dem Südufer der Krim, zu kaufen, ein kleines Häuschen im Walde am Meeresstrande zu bauen und dort mit ihr und Mama zu wohnen.

»In der Krim?« fragte er erstaunt. »Auch Mama träumte es neulich davon, daß wir alle in Oreanda wohnten.«

Sophie war aber nicht im geringsten erstaunt.

»Ja, bald werden wir alle zusammenwohnen! ...« sagte sie so leise, daß er es gar nicht hörte.

Dann las er ihr weiter aus dem Evangelium:

»Wer ist aber unter euch, der einen Turm bauen will und sitzt nicht zuvor und überschlägt die Kosten, ob er's habe, hinauszuführen? Auf daß nicht, wo er den Grund gelegt hat, und kann's nicht hinausführen, alle, die es sehen, fangen an, sein zu spotten und sagen: Dieser Mensch hub an, zu bauen und kann's nicht hinausführen.«

Er hielt inne und sah sie an: sie lag mit geschlossenen Augen und schien zu schlafen.

Er versank in seine Gedanken. Sein gestriges Gespräch mit Golitzin über die Verzichtleistung fiel ihm ein. Waren denn nicht die Worte des Evangeliums, die er eben gelesen, auf ihn und seinesgleichen gemünzt? Hub er denn nicht auch einen Turm zu bauen an, hatte den Grund gelegt und konnte es nicht hinausführen? Glich nicht sein ganzes Leben der Ruine eines unvollendeten Baues? Er hatte nach großen Dingen gestrebt, wollte die Heilige Allianz gründen und das Reich Gottes auf Erden herstellen. Das einzige, was er wirklich tun konnte – nur einen einzigen Menschen, Sophie glücklich zu machen, war ihm aber auch mißlungen. Wozu hat er sie gezeugt? Wozu hat er ihr diese unnötige Qual, dieses unverstandene Leben, diesen unverständlichen Tod gegeben? Womit konnte er es wieder gutmachen? Was konnte er sagen, was unternehmen, solange es nicht zu spät ist? Oder war es schon zu spät?

Sophie öffnete die Augen und blickte ihn stumm und unverwandt an, wie sie ihn in den letzten Tagen immer anzublicken pflegte; es schien ihm, daß sie die gleichen Gedanken hatte wie er, daß sie alles sah und ihn richtete.

»Nicht doch, lieber Papa,« flüsterte sie ihm zu, als er sich wieder über sie beugte, »laß die Gedanken und fürchte nichts. Alles wird gut werden, alles wird sich zum besten wenden ... Du sagst ja immer selbst, daß alles zu unserem Besten ist ...«

Ihr unerreichbar fernes fremdes Lächeln war heiter und weise; sie schien über ihn zu lächeln. Engel, die über die sündige Menschheit lächeln, haben wohl den gleichen Ausdruck.

Ihre trockenen Lippen flüsterten ihm noch etwas zu, und es klang wieder wie das nächtliche Rascheln trockener Gräser; er konnte sie aber nicht mehr verstehen, obwohl er gespannt horchte, seinen kahlen Kopf über sie geneigt und den Hals gereckt, so daß die Halsadern sich aufblähten und die blaßblauen kurzsichtigen Augen hervorquollen.

»Du hast so komische Augen, genau wie ein Kälbchen!« pflegte sie ihm als Kind zu sagen, während sie ihn liebkoste und die blaßblauen Augen mit den blonden Wimpern küßte; diese Worte fielen ihr jetzt wieder ein und auch der Scherz Speranskijs, den sie einmal aus einem Gespräche der Erwachsenen aufgefangen hatte. In einem von der Geheimpolizei abgefangenen Briefe schrieb Speranskij einem Freund: »Unser Vauban ist ein Veau blanc.« Vauban war ein berühmter französischer Ingenieur und Erbauer zahlreicher Festungen (hier war damit der Kaiser gemeint, der um jene Zeit seine Festungen besichtigte); Veau blanc heißt aber französisch weißes Kalb. Der Kaiser war über diesen harmlosen Scherz so aufgebracht, daß er im ersten Augenblick Speranskij füsilieren lassen wollte. Sophie konnte damals das Beleidigende dieser Worte gar nicht fassen: »Nun ja, er ist ja wirklich blond, kahl und rosig wie ein hübsches kleines Kälbchen, warum soll dies eine Beleidigung sein?« Zuweilen schien es ihr sogar, daß er auch wie ein Milchkalb roch. In einer Kirche sah sie einmal auf einem Deckengemälde einen goldenen sechsgeflügelten Cherub, der den Kopf eines jungen Stieres hatte; es kam ihr vor, daß er ihrem Papa ähnlich sah; beide hatten den gleichen milden, sanften und schwerfälligen Ausdruck.

Alle diese Erinnerungen tauchten jetzt wieder für einen kurzen Augenblick in ihrem überirdisch heiteren und weisen Lächeln auf. Mit ersterbender Stimme flüsterte sie ihm jetzt als Abschiedsgruß diese kindlichen Worte zu:

»Weißes Kälbchen!«

Er konnte die Worte nicht mehr hören, doch er erriet, was sie ihm sagen wollte; sein Herz krampfte sich zusammen, und er verließ das Zimmer, um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen.

Auf dem Treppenabsatz stieß er auf Dmitrij Ljwowitsch Naryschkin. Er stand oft hier in der finsteren Ecke vor der Türe, horchte und weinte still in sich hinein; er wagte nicht, das Krankenzimmer zu betreten. Der betrogene Gatte, über den alle spotteten, liebte das fremde Kind wie ein eigenes.

Als er den Kaiser vor sich sah, bemeisterte er seinen Schmerz und machte ein gleichgültiges Gesicht.

»Nun? Wie geht es?« fragte er im Flüsterton. Jetzt hielt er es aber nicht mehr aus, streckte die Zunge aus und schluchzte hilflos wie ein Kind.

Der Kaiser umarmte ihn, und beide ließen ihren Tränen freien Lauf.

Dann blieb er wieder zwei Tage aus. Er hatte viele unaufschiebbare Geschäfte. Am 18. Juni sollten die Manöver stattfinden. Am 17. Juni verbrachte er den ganzen Tag auf der Villa der Naryschkins. Es wurde ihm mitgeteilt, daß die Kranke am Vorabend das Abendmahl eingenommen hatte. Er erschrak und glaubte, daß es schon das Ende sei. Ihr Zustand war aber unverändert. Sie war sehr schwach, sprach fast kein Wort, öffnete die Augen nicht und schien bewußtlos. So oft er sich über sie beugte, fragte sie ihn:

»Bist du noch hier? Bist du noch nicht fort? Gehe nicht fort, ohne von mir Abschied zu nehmen, wenn ich schlafen sollte, wecke mich ...«

Er sah, daß sie etwas fürchtete. Auch ihn überfiel ein Grauen. Jedesmal, wenn er sie verließ, sagte er sich: wenn ich morgen komme und sie nicht mehr am Leben finde, was dann? Heute war diese, Angst größer als je. Sollte er vielleicht doch noch bei ihr bleiben? Wäre es nicht besser, die Manöver und die anderen Geschäfte aufzuschieben? Bei ihr zu bleiben und das Ende abzuwarten, das nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte?

Doch ihn überfiel jenes Schamgefühl, das ihn, der liebte und litt, so oft schon gefühllos erscheinen ließ; es ekelte ihn, sein Leid zur Schau zu stellen; es war ein fast animalisches Gefühl, das auch das kranke Tier empfindet, wenn es sich vor dem Tode in sein Loch zurückzieht, damit niemand sein Sterben sieht. Und je größer sein Schmerz war, um so unbezwingbarer das Schamgefühl.

Er entschloß sich, doch fortzugehen und morgen nach dem Manöver wiederzukommen. Er versuchte sich damit zu trösten, daß sie ähnliche Schwächeanfälle schon früher gehabt hatte, und daß sie jedesmal wieder vergingen. So Gott will, wird auch dieser Unfall vorübergehen.

Kaum hatte er diesen Beschluß gefaßt, als die Kranke unruhig wurde, sich regte, erwachte, ihn durch einen Blick zu sich heranrief und ihn fragte:

»Wie spät ist es?«

»Neun Uhr.«

»Es ist spät. Fahre schnell heim. Du mußt morgen früh aufstehen ... Nein, warte. Was wollte ich noch? Ich vergesse es immer ... Ach ja, ich weiß schon ...«

Er hob ihren Kopf von den Kissen und legte ihn auf seine Schulter, damit sie es leichter habe, ihm ins Ohr zu flüstern.

»Ist Ihre Abneigung gegen den Fürsten Valerian sehr groß, Papa?« Sie sprach französisch, wie immer, wenn es sich um wichtige Dinge handelte.

»Nein, was könnte ich gegen ihn haben? ...« Er stockte, denn er hatte das Gefühl, daß er sie jetzt nicht anlügen durfte. Nach einer Pause fuhr er fort:

»Ich kenne ihn zu wenig, doch glaube ich, daß er eher mich haßt, als ich ihn.«

»Es ist nicht wahr! Wenn er mich liebt, so liebt er auch Sie, oder er wird Sie noch lieb gewinnen ...« Sie warf ihm einen Blick zu, der, wie es ihm schien, ihn ganz durchschaute und anklagte.

»Warum ist er dir plötzlich in den Sinn gekommen?«

»Ich wollte Sie bitten: lassen Sie ihn zu sich kommen, und sprechen Sie mit ihm.«

»Jetzt gleich?«

»Nein, später.«

Er begriff, daß »später« – »wenn ich tot bin« bedeutete.

»Erfüllen Sie diese Bitte, versprechen Sie mir, daß Sie sie erfüllen werden.«

»Worüber sollte ich mit ihm sprechen?«

»Forschen Sie ihn aus, erfahren Sie von ihm alles, was er denkt und was er will ... was jene Leute von der Errettung Rußlands denken ... Sie wollen ja doch das gleiche ...«

»Von welchen Leuten sprichst du?«

»Du weißt es,« antwortete sie russisch, »frage mich nicht. Wenn du aber nicht willst, so laß es sein und vergib mir ...«

Ja, er wußte wohl, wen sie meinte. Diese Gemeinheit! Sie haben die Tochter gegen den Vater gehetzt und ein krankes, sterbendes Kind zum Werkzeug ihrer verbrecherischen Pläne gemacht. So sind sie alle! Sie haben weder Gewissen noch Scham im Leibe. Sie hetzen ihn, wie die Jagdhunde ein wildes Tier, sie umkreisen ihn und erreichen ihn selbst hier bei seiner letzten Liebe, an seiner letzten Zufluchtsstätte.

Sie sah ihn aber noch immer mit dem gleichen heiteren, allsehenden Blicke an. Und plötzlich fühlte er, daß nun der Augenblick gekommen sei, wo er unbedingt etwas sagen oder tun müsse, um seine Sünde gutzumachen; wenn er es jetzt nicht gleich tat, so wird er es nie mehr tun können, denn sonst wird es zu spät.

»Gut,« sagte er erblassend, »ich werde mit ihm sprechen und alles tun, was in meiner Macht liegt.«

In ihren Augen erschien der Ausdruck einer lebenden, irdischen Freude; sie war gleichsam aus der unerreichbaren Ferne, in die sie halb entrückt war, für einen Augenblick zu ihm zurückgekehrt.

»Versprichst du es mir?«

»Ich gebe dir mein Wort darauf.«

»Hab Dank! Das ist, glaube ich, alles. Geh.«

Sie sank erschöpft in die Kissen zurück und hauchte kaum hörbar:

»Bekreuzige mich.«

»Gott sei mit dir, mein Kind!« Er küßte ihre geschlossenen Augen und fühlte, daß sich ihre Wimpern unter seinen Lippen wie die Flügel eines einschlafenden Schmetterlings regten.

Er blieb noch eine Weile bei ihr; ihr Atem ging ruhig, und sie schlief. Er ging zur Türe und blieb an der Schwelle noch einmal stehen: Es schien ihm, daß sie ihn rief. Sie rief ihn aber nicht; sie blickte ihm nur mit weitgeöffneten schreckerfüllten Augen nach. Sein Herz erbebte vor Angst. Sollte er nicht doch bei ihr bleiben?

Er trat wieder an ihr Bett.

»Noch einmal ... umarme mich ... so! ...« Sie drückte ihre Lippen so fest an die seinigen, als wolle sie ihm in diesem Kusse ihre ganze Seele geben.

»Jetzt geh, geh! ...« Sie riß sich von ihm los und stieß ihn fort. »Nicht doch, fürchte dich nicht ... wir werden bald alle beisammen sein, bald ...«

Sie kam nicht weiter. Vielleicht verstand er auch ihre weiteren Worte nicht. Später dachte er oft an diesen Augenblick zurück und versuchte den Sinn des abgebrochenen Satzes zu erraten.

Er verließ das Zimmer. Dmitrij Ljwowitsch beauftragte er, wenn nachts etwas vorfallen sollte, ihn sofort durch einen Feldjäger zu benachrichtigen. Er setzte sich in die Equipage, die ihn unten seit mehreren Stunden erwartete, und fuhr nach Krasnoje.

* * *

Am nächsten Morgen erwachte er später als sonst. Die Uhr zeigte ½8, die Manöver waren für 9 angesetzt. Er läutete dem Kammerdiener und fragte, ob nicht während der Nacht ein Feldjäger gekommen sei. Nein, es war keiner gekommen, und er beruhigte sich. Den Tee trank er im Bett. Dann machte er eilig die Morgentoilette und begab sich ins Garderobenzimmer, wo ihn seine nähere Umgebung erwartete: der ehemalige Chef des Generalstabs, sein langjähriger Freund und Begleiter auf allen seinen Reisen, Fürst Pjotr Michailowitsch Wolkonskij, der erste Leibarzt, der Schotte Baronet Jakow Wassiljewitsch Wyllié und der Leibchirurg Dmitrij Klementjewitsch Tarassow. Der Letztere begann wie jeden Morgen den Verband am kranken Fuß des Kaisers zu wechseln.

Der Kaiser beobachtete die Gesichter und erriet sofort, daß man vor ihm etwas verheimlichte.

» Quomodo vales?« fragte er Tarassow lateinisch, wie er es im Scherze täglich beim Verbandwechsel tat.

» Bene valeo, autocrator!« erwiderte jener.

»Draußen ist es, wie mir scheint, sehr windig?« fuhr der Kaiser mit der gleichen geheuchelten Ruhe fort, die Gesichtsausdrücke seiner Umgebung immer hastiger, immer unruhiger studierend.

»Der Wind wird Regen bringen, Majestät.«

»Gott sei Dank. Es wird wieder frischer werden, und die Leute werden es leichter haben.«

Dann wandte er sich rasch nach Wolkonskij um, der mit gesenktem Kopfe und niedergeschlagenen Augen bei der Türe stand, und fragte ihn mit der gleichen ruhigen Stimme:

»Was gibt es Neues, Pjotr Michailowitsch?«

Wolkonskij gab keine Antwort und senkte den Kopf noch tiefer.

Wyllié näherte sich plötzlich dem Kaiser mit auffallender Eile, untersuchte das Bein und sagte englisch:

»Es geht ausgezeichnet! Majestät werden bald vollkommen wiederhergestellt sein.«

»Ich werde wohl bald tanzen können?« bemerkte der Kaiser lächelnd. Plötzlich erbleichte er noch mehr und sah Wyllié starr in die Augen.

»Was gibt es denn? Was gibt es denn? Sprechen Sie doch! ...«

Doch Wyllié gab ebenso wie Wolkonskij keine Antwort. Tarassow zog in diesem Augenblicke vorsichtig den Reitstiefel auf den verbundenen Fuß an. Der Kaiser stieß ihn zurück, zog den Stiefel selbst an, sprang auf, packte Wyllié bei der Hand und fragte leise:

»Der Feldjäger?«

»Zu Befehl, Majestät, er ist soeben angelangt.«

Und ebenso entschlossen, wie er während einer Operation sein Messer ins Fleisch bohrte, sagte er laut, was bereits lautlos durch die Stille klang:

»Alles ist zu Ende. Sie ist nicht mehr.«

Der Kaiser bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Tarassow bekreuzigte sich. Wolkonskij wandte sich ab und schluchzte.

»Geht alle hinaus,« sagte der Kaiser, das Gesicht noch immer mit den Händen bedeckend.

Alle gingen hinaus. Man erwartete, daß die Manöver abgesagt werden. Aber nach einer Viertelstunde hörte man aus dem Garderobenzimmer ein Glockenzeichen. Der Kammerdiener Melnikow lief geschäftig hin, dann zurück und wieder hin und brachte dem Kaiser seinen Degen, Handschuhe und den hohen Dreimaster mit dem weißen Federbusch.

Nach einer Minute trat der Kaiser ins Audienzzimmer, wo ihn alle Stabsgeneräle, Divisionäre und Bataillonskommandeure erwarteten, die ihn ins Manöver begleiten sollten. Er zog sie ins Gespräch, befragte sie über dies und das und unterhielt sich mit ihnen in seiner gewohnten liebenswürdigen Manier.

»Ich habe sein Gesicht aufmerksam beobachtet,« berichtete später Tarassow, »doch zu meinem größten Erstaunen konnte ich darauf nichts entdecken, was auf seinen qualvollen seelischen Zustand hingewiesen hätte. Er behielt sich so sehr in der Gewalt, daß außer uns dreien, die im Garderobenzimmer anwesend waren, niemand etwas erfuhr.«

Als er im Jahre 12 zu Wilna auf einem Balle tanzte, während er bereits wußte, daß Napoleon den Niemen überschritten hatte, zeigte er den gleichen Gesichtsausdruck. Sein Gesicht blieb vollkommen ruhig, unbeweglich, undurchdringlich und erinnerte an eine Maske oder an die Marmorbüste von Thorwaldsen, an jene kalte und weiße Puppe, die die kleine Sophie einst mit ihren Küssen erwärmen wollte.

Als er das Palais verließ und aufs Pferd stieg, schlug die Uhr neun.

Das Manöver nahm seinen Lauf. Er kommandierte mit gewohnter schneidiger Stimme, die die Soldaten fröhlich stimmte; er bemerkte alle Fehler in der Front, wie den wackelnden Gang einzelner Soldaten, das Zucken der Schultern unter dem Gewehr und Ungleichheiten in der Körpergröße. Aus einer Entfernung von zwei Werst bemerkte er mittels eines Fernrohres, daß bei einzelnen Offizieren die Federbüsche nicht genügend gerade standen, daß bei einem Stabsoffizier das Zaumzeug nicht ganz in Ordnung und bei einem anderen nicht vorschriftsmäßig war. Im großen ganzen war er aber befriedigt und dankte allen mit gnädigen Worten.

Als das Manöver zu Ende war, kehrte er ins Palais zurück, ließ das Mittagessen unberührt, kleidete sich rasch um, setzte sich in seinen Wagen, der wie jedesmal, wenn er sich aufs Land begab, mit vier Pferden bespannt war, und fuhr in die Villa der Naryschkins.

Der Kutscher Ilja, den er fortwährend zur Eile antrieb, fuhr so, daß ein Pferd auf der Mitte des Weges und ein zweites am Ende des Weges, bei der Einfahrt auf die Peterhofer Landstraße, verendete.

Was er auf der Villa gesehen und gehört, konnte er sich später nie vergegenwärtigen.

Es gab da ein dunkles Licht wie im Traume und lauter vertraute und dabei doch fremde Gesichter, wie Gespenster. In diesem Nebel sah er bald Maria Antonowna, die ihm mit dem unnatürlichen und theatralischen Schrei »Alexandre!« um den Hals fiel und erkannte den ihm längst bekannten und unangenehmen Geruch ihres Parfüms; bald den alten Dmitrij Ljwowitsch, der sich vergeblich Mühe gab zu weinen und nur fortwährend die Zunge herausstreckte; bald die alte Kinderfrau Wassilissa Prokofjewna, die in einem fort den gleichen kurzen Bericht vom Ableben Sophies wiederholte: sie war so still verschieden, daß es niemand sah und hörte; Prokofjewna war am frühen Morgen zu ihr gekommen und sah sie schlafen; sie wollte wieder weggehen, doch wurde es ihr plötzlich unheimlich zumute; sie beugte sich über sie und rief sie beim Namen, nahm ihre Hand, und die Hand war eiskalt. Sie lief hinaus und schrie nach einem Arzt. Der Arzt kam, sah sich Sophie an, betastete sie und erklärte, daß sie vor etwa zwei Stunden gestorben wäre.

Im Zimmer mit dem roten Nelkenmuster auf der weißen Atlastapete stand die Balkontüre weit offen. Nach dem Regen roch es nach Blumen, feuchter Erde und frischgemähtem Gras. In der Ferne hoben sich von einer schwarzblauen Gewitterwolke sonnenbeschienene weiße Segel ab. Ein Windhauch zog durchs Zimmer und bewegte die rötlichen Flammen der Kerzen und eine Haarsträhne auf der Stirne der Toten. Sie lag im Sarge in jenem Brautkleide, das sie bei Lebzeiten nicht anprobieren wollte, schlank, scharf umrissen und gespannt wie ein fliegender Pfeil.

Er berührte ihre kalten Lippen mit den seinigen und bemerkte auf ihrer Brust ein kleines Bildnis der Kaiserin Jelisaweta Alexejewna, das man aus dem goldenen Medaillon, in dem sie es bei Lebzeiten getragen, herausgenommen hatte; es war verpönt, einem Toten goldene Gegenstände in den Sarg zu legen. Plötzlich begegnete sein Blick dem des Fürsten Valerian Michailowitsch Golitzin, der auf der anderen Seite des Sarges stand: Sophie lag zwischen ihnen und verband auf diese Weise den geliebten Vater mit dem geliebten Freund.

Doch plötzlich wurde es ihm finster vor den Augen, die Kerzenflammen wurden zu grünen und roten kreisenden Flecken; er sah vor sich einen im Staube röchelnden Pferdekopf, wie vorhin auf der Landstraße, mit blutigem Schaum auf den Lefzen und mit Augen so mild, wie die der Kaiserin Jelisaweta Alexejewna.

»Es ist nichts, es ist nichts, nur ein leichter Schwindelanfall –« hörte er die Stimme Riemanns, des einen von den beiden Leibärzten, die Sophie behandelt hatten; der andere Leibarzt – Miller reichte ihm ein Weinglas mit Wasser, das von hineingeträufelten Arzneitropfen getrübt war.

Seine Zähne klapperten gegen das Glas; er schämte sich seiner Schwäche und bemühte sich, die Flüssigkeit mit den Lippen zu erhaschen.

Wieder saß er im Wagen. Fuhr er hin oder zurück? Nach Hause oder von zu Hause? War vielleicht alles, was er eben erlebt, nur ein Traum? Er sah wieder die unendliche Ebene, auf der es weder Erhöhungen noch Sträucher gab; in die Unendlichkeit zogen sich gleichmäßige Torfhügel hin, und am Horizont, wo die Wolken wie mit einer Schere abgeschnitten waren, leuchtete ein messinggelbes Abendrot. Er hatte den Eindruck, daß er seit undenklichen Zeiten unterwegs sei und daß seine Reise ewig dauern werde.

Der Kutscher Ilja zog aus allen Kräften an den Zügeln und hielt die Pferde an, Die Equipage legte sich auf die Seite und wäre beinahe umgefallen. Auf der Straße lag das eine der beiden vorhin gefallenen Pferde. Die beiden lebenden Pferde scheuten vor dem toten, bäumten sich, warfen sich blindlings hin und her, und wollten nicht weiter. Eine Schar Raben flog vom Kadaver auf und hob sich schwarz vom messinggelben Himmel ab.

Ilja stieg vom Bock, machte sich am Geschirr zu schaffen und bemühte sich, das in einen Graben geratene Rad herauszuziehen. Er warf einen Blick ins Innere der Equipage: der Kaiser war weder zu sehen noch zu hören. Schlief er vielleicht?

Nein, er schlief nicht: er hatte sich in eine dunkle Ecke gedrückt, sein bleiches Gesicht war vor Schreck verzerrt, und mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die leere Landstraße.

* * *

Er fuhr nicht nach Krasnoje, sondern nach Zarskoje. Er befahl, seine Ankunft der Kaiserin Jelisaweta Alexejewna nicht zu melden, obwohl er wußte, daß sie ihn mit banger Sorge erwartete.

Er begab sich direkt in sein Schlafzimmer. Es fiel ihm ein, daß er seit dem Morgen nichts gegessen hatte, und es wurde ihm übel vor Hunger. Er ließ sich Tee reichen. Er war sehr müde und hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Bevor er aber zu Bett ging, schrieb er noch zwei Briefe. Der eine war an die Kaiserin gerichtet, mit der er oft aus einem Zimmer ins andere korrespondierte, und enthielt nur die eine französische Zeile:

»Elle est morte. Je reçois le châtiment de tous mes égarements.« (Sie ist tot. Ich bin für alle meine Verirrungen bestraft.)

Der andere Brief war an Araktschejew und lautete:

 

»Du kannst wegen mir unbesorgt sein, lieber Freund Alexej Andrejewitsch. Es ist Gottes Wille, und ich bin es gewohnt, mich ihm zu fügen. Ich trage mit Geduld mein Leid und bete zu Gott, daß er meine Seelenkräfte stärken möge. Ich freue mich schon auf das Vergnügen, dich morgen wiederzusehen, und ich hoffe, daß die Reise und die Dinge, die ich unterwegs zu sehen bekomme, meine traurigen Gedanken etwas zerstreuen werden.

Dein Dich ewig liebender
Alexander.«

 

Er ging zu Bett und schlief sofort ein. Plötzlich erwachte er wie von einem Stoß. Ihm fiel die Erscheinung ein, die er vorhin auf der Landstraße, als die Raben vom Pferdekadaver aufflogen, gesehen hatte.

Es war ein kleines altes Männchen, das einem von jenen herumirrenden Bettlern ähnlich sah, die auf den Landstraßen herumziehen und im Namen Christi freiwillige Gaben zur Erbauung von Kirchen sammeln. Der Greis war kahlköpfig, hatte silberweißes haar und blaue Augen, »so wehmütige Augen wie ein Kälbchen«, wie er sie auch bei sich selbst im Spiegel sehen konnte. Diesen Greis hatte er schon bereits einmal gesehen: es war kurz nach dem Tode seines Vaters, als er den Verstand zu verlieren glaubte. Damals hatte er die Erscheinung noch nicht begriffen, jetzt aber erkannte er im Bettler sich selbst, den Kaiser, der auf den Thron verzichtet hat und ein armer Vagabund geworden ist.

Es heißt, daß wenn man sich selbst im Traume sieht, es den nahen Tod bedeutet. Er sagte sich: »Nun, der Tod ist ja auch eine Verzichtleistung, vielleicht sogar die allerbeste. Alles ist zum besten!« Und plötzlich wurde es ihm so leicht ums Herz, er lächelte, wandte sich auf die linke Seite, schob die Hand unter die Wange und schlief sofort ein.

Am nächsten Tag begab er sich mit Araktschejew auf die Reise, um die militärischen Siedlungen zu besichtigen.


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