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Zweiter Teil.


1.

»Es handelt sich jetzt einfach um die Frage: soll Rußland sein oder nicht sein?«

»So, wie es heute ist, muß es untergehen.«

»Alles ist bei uns so abscheulich; bald wird man es gar nicht mehr aushalten können!«

»Das Motto eines jeden Russen ist: je schlimmer, um so besser!«

»Wartet nur: wenn wir unsere Revolution machen, wird alles anders werden! ...«

Diese Bruchstücke eines Gesprächs vernahm Fürst Valerian Michailowitsch Golitzin noch im Vorzimmer der Rylejewschen Wohnung.

Der Sekondeleutnant a. D. Kondratij Fjodorowitsch Rylejew, einer der Direktoren der Geheimen Gesellschaft, wohnte an der Mojka, in der Nähe der Blauen Brücke, im Hause der Russisch-amerikanischen Kompagnie, bei der er als Geschäftsführer angestellt war. Jeden Sonntag versammelte er seine Freunde zu einem »russischen Frühstück«. Alles war im russischen Stil gehalten: damastene Tischtücher, hölzerne Löffel, Salzfässer in Form von Hahnenkämmen und geschnitzte Holzteller. Auch die Speisen und Getränke waren echt russisch: Wodka, Kwas, Roggenbrot, Sauerkraut und Fischpiroggen; dies alles sollte die alte russische Freiheit symbolisieren. »Wir müssen alles Ausländische vermeiden, denn die Vorliebe für das Fremde kann die heiligen Gefühle der Vaterlandsliebe nur trüben,« pflegte Rylejew zu sagen. »Nicht der römische Brutus, sondern der Nowgoroder Wadim soll uns das Vorbild bürgerlicher Tugenden sein.«

Die kleine aber gemütliche Wohnung lag zu ebener Erde; vor den Fenstern waren hohe eiserne Gitter angebracht. In der ganzen Wohnung spürte man die Hand der guten Hausfrau, vor den Fenstern hingen schneeweiße Tüllvorhänge, auf den Fensterbänken standen Töpfe mit Balsaminen und Tausendschönchen; unter einem Glassturze wuchs ein kleines aus einem Kern getriebenes Zitronenbäumchen, daneben stand ein Bauer mit Kanarienvögeln. Die blankgewichste, mit hausgewebten Teppichen belegte Diele roch nach Firnis. In den Ecken schimmerten Heiligenbilder, vor denen Öllämpchen und Ostereier hingen. Das Sonnenlicht flutete zu den Fenstern hinein und bildete auf dem Fußboden schiefe leuchtende Rechtecke, die vom schwarzen Schatten der starken, an ein Gefängnis erinnernden Gitterstäbe durchquert waren. Die Kanarienvögel schmetterten ohrenbetäubend. Man glaubte sich in ein bescheidenes Häuschen einer kleinen Provinzstadt versetzt; alles war hier so einfach, heiter, unschuldig und von einer Geburtstags- oder Flitterwochenstimmung erfüllt.

Golitzin traf eine große Zahl von Gästen an; es waren lauter Mitglieder der Geheimen Gesellschaft. Sie saßen und standen in ungezwungenen Gruppen, sprachen, aßen und rauchten. Ein Klappfenster stand offen: man hörte das Gepolter der ersten Droschken auf dem erst eben vom Schnee entblößten Pflaster, das unermüdliche Geplauder der von den Dächern fallenden Tropfen und das sonntägliche Geläute der Kirchenglocken.

Obwohl Fürst Valerian seit einem Monat Mitglied der Geheimen Gesellschaft war, hatte er noch keine Versammlung besucht. Sophie war nach der Unterredung, die sie mit ihm während des Wjelgorski-Konzertes hatte, ernsthaft erkrankt. Er hielt sich für den Schuldigen an dieser Erkrankung und verbrachte, von Kummer und Sorge verzehrt, ganze Tage im Hause der Naryschkins. Umso größer war seine Freude, als der Arzt erklärte, daß jede Gefahr vorüber sei.

Golitzin begab sich zu Rylejew auf Einladung Trubezkojs, der auch zu den Direktoren der Gesellschaft gehörte und seine Aufnahme bewirkt hatte.

»Hat der Eisgang auf der Newa schon begonnen?« fragte jemand inmitten des Schweigens, das sich einstellte, als er und Trubezkoj den Saal betraten.

»Nein, noch nicht; er wird aber wohl bald beginnen, denn das Eis ist schwarz geworden, man sieht bereits größere Schollen, die Übergänge sind gesperrt und die Brücken sind abgenommen.«

In diesen Worten fühlte Golitzin die gleiche Frühlingsstimmung, wie in jenen, die er noch im Vorzimmer gehört hatte: »Wartet nur: wenn wir unsere Revolution machen, wird alles anders werden.«

Er musterte neugierig die Anwesenden. Sie sahen gar nicht wie Verschwörer aus. Alle Gesichter waren jugendlich, heiter, gleichsam vom Frühling durchleuchtet. »Es sind liebe Kinder,« sagte er sich. Wie ein Betrunkener glaubt, daß alle betrunken sind, so glaubte auch er in seinem Glück, daß alle glücklich seien.

Trubezkoj stellte ihn dem Hausherrn vor.

Rylejew hatte ein braunes, mageres Gesicht mit etwas kindlichen Zügen und hervortretenden Backenknochen, feine spöttische und freche Lippen, große, schöne Augen, die gewöhnlich ruhig und traurig schienen, aber in Augenblicken der Leidenschaft in unheimlichem Feuer erstrahlten. Seine Kleidung war elegant, doch nicht sehr geschmackvoll: er trug einen flohfarbenen Frack, der offenbar von einem sich für einen Ausländer ausgebenden russischen Schneider genäht war, eine allzu grelle farbige Weste mit Glasknöpfen und viel zu enge Spitzenmanschetten. Seine ganze Erscheinung war ebenso schlicht, heiter, unschuldig und von der gleichen Geburtstags- oder Flitterwochenstimmung erfüllt, wie alles in seinem Hause. Die weiße Halsbinde aus Batist war sorgfältig, anscheinend von den Händen seiner Frau geschlungen, die ihm während dieser Verrichtung wohl auch die Wange streichelte und dazu die Worte sprach: »Du mein liebes, süßes Männchen!« Die Haare waren glatt gekämmt und mit einer nach Reseda duftenden Pomade festgeklebt. Auf dem Scheitel ragte aber ein widerspenstiger Haarschopf empor: der Knabe ist wohl gar nicht so artig und wohlerzogen, wie er aussieht!

»Ich kenne Sie, Fürst, noch von der Loge zum Flammenden Stern her; auch habe ich Sie noch früher, Anno 14 in Paris gesehen,« sagte Rylejew zu Golitzin. »Sie dienten, wenn ich nicht irre, im Preobraschenskij-Regiment, ich war aber Fähnrich bei der reitenden Kompagnie der ersten Artilleriebrigade.«

»Ja, Sie haben sich aber sehr verändert; ich hätte Sie nicht wiedererkannt,« sagte Golitzin, der sich auf Rylejew gar nicht besinnen konnte.

»Das will ich glauben! Vor zehn Jahren waren wir ja noch Kinder.«

– Auch jetzt seid ihr noch Kinder! – ging es dem Fürsten Valerian durch den Kopf.

»Die russischen Kinder haben Paris erobert und Europa befreit. So Gott will, werden sie auch Rußland befreien!« sagte Rylejew selig lächelnd; jetzt glich er noch mehr einem kleinen Jungen.

»Sie sind bereits der zehnte Fürst, den wir in unserer Gesellschaft haben,« fügte er mit dem gleichen Lächeln, das Golitzin immer mehr gefiel, hinzu. »Unsere ganze Revolution wird eine Auflehnung des Warjagenbluts gegen das Germanenblut, der Nachkommen Rjuriks gegen die Romanows sein ...«

»Man kann uns kaum Nachkommen des Rjurik nennen; es gibt ja ebenso viele Golitzins wie Iwanows ...«

»Sie sind aber immerhin Fürst und Kammerjunker,« fuhr Rylejew mit einer etwas zudringlichen Offenheit fort: er sprach mit Golitzin, wie ein Schuljunge mit seinem Kameraden spricht. »Männer in solchen Stellungen können wir immer brauchen.«

»Ja, aber meine Stellung ist sehr schlecht. Araktschejew hat mich neulich zusammengeschimpft, und ich habe die Absicht, den Dienst zu quittieren.«

»Das dürfen Sie um nichts in der Welt tun, Fürst! Wie können Sie daran überhaupt denken! Wir haben den Grundsatz: unsere Mitglieder müssen ihre Ämter behalten, damit wir alle bedeutende Posten wie im Militär-, so auch im Zivilressort in unseren Händen haben. Auch Ihre Hoffähigkeit ist durchaus nicht zu unterschätzen. Wenn Sie in den Hofkreisen etwas hören, werden Sie uns davon sofort benachrichtigen. So ist zum Beispiel Fedja Glinotschka – so nennen wir unsern Glinka – Kanzleichef beim Generalgouverneur: durch ihn erfahren wir alle Berichte der Geheimpolizei; dies ist oft unsere einzige Rettung ...«

»Ich weiß ja überhaupt noch nicht, ob ich in die Gesellschaft aufgenommen bin,« sagte Golitzin, über die naive Art, wie ihn Rylejew zu seinem Spion machen wollte, erstaunend. »Ist denn gar kein Treueid oder Schwur notwendig?«

»Nichts ist notwendig. Früher pflegte man bei uns auf das Evangelium und den Degen zu schwören. Es war eine leere Komödie, wie bei den Freimaurern. Heute haben wir es vereinfacht, Wenn Sie wollen, können Sie mir jetzt gleich Ihr Wort geben, ein treues Mitglied der Gesellschaft zu sein.«

Golitzin erstaunte noch mehr. Er wollte aber Rylejew nicht kränken und sagte daher:

»Ja, ich gebe mein Wort.«

»So ist die Sache abgemacht!« Rylejew schüttelte ihm die Hand.

»Was aber den Fürstentitel betrifft, so dürfen Sie nicht glauben, daß ich es aus Ehrgeiz gesagt habe. Ich bin zwar adeliger Herkunft, doch in der Tiefe meiner Seele – Plebejer. Nicht umsonst war mein Taufpate ein alter Soldat, Vagabund und Bettler. Ich trage auch seinen Namen: den Bauernnamen Kondrat. Daher kommt vielleicht auch meine Vorliebe fürs gemeine Volk.«

Sie schwiegen und horchten zu den anderen Gästen hin.

»Heutzutage muß jeder Dichter unbedingt ein Romantiker sein. Die romantische Richtung ist die Revolution in der Literatur,« sagte der Dragonerrittmeister Alexander Bestuschew, ein junger Mann von jenem angenehmen Typus, den die Kameraden mit »Guter Junge«, und die jungen Damen auf dem Newskij-Prospekt mit »Süßer Gardeoffizier« bezeichnen. Auch er glich einem Knaben: er zupfte fortwährend den dunklen Flaum an der Oberlippe, als wolle er sich vom Wachstum seines Schnurrbarts überzeugen. Er sprach begeistert und schmachtend.

»Der unvergleichliche Byron ist der echte Romantiker! Seine Poesie gleicht einer Äolsharfe, durch die ein Sturm fährt ...«

»Der Romantismus ist das Bestreben des unendlichen Menschengeistes, sich in einer endlichen Form auszudrücken!« rief ein junger Mann in Zivil dazwischen. Es war der Deutschrusse, Kollegienrat Wilhelm Karlowitsch Küchelbäcker oder Küchel, wie er für gewöhnlich genannt wurde, ein blonder, glotzäugiger, langer Patron, der an eine langbeinige Mücke erinnerte. Sein schiefes Gesicht schien das eines Wahnsinnigen; bei näherer Betrachtung fand man aber in seinen Zügen etwas bezaubernd Gütiges.

»Das Schöne ist das Morgenrot des Wahren, das Wahre aber – ein Strahl des Göttlichen auf Erden. Auch ich bin ewig!« Er machte eine begeisterte Handbewegung und warf dabei ein Glas um: er war kurzsichtig und zerstreut, ließ alles fallen und stolperte über jeden Gegenstand.

Die Rede kam auf Puschkin. Die Kanarienvögel schmetterten so laut, als ob sie die Streitenden überschreien wollten. Man bedeckte das Bauer mit einem Tuch, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Puschkin ist gefallen, weil er die richtige Verwendung seines Talents nicht erfaßt hat und es immer an der unrichtigen Stelle vergeudete,« erklärte Bestuschew, selbstgefällig seinen Schnurrbart zupfend.

»Ziehst du ihm etwa den Bulgarin vor?« spottete der Gardefähnrich Fürst Odojewskij, ein hübscher und lustiger Junge mit frischem Mädchengesicht; er liebte es, Bestuschew, wie auch alle, die hochtrabend sprachen, zu necken.

»Warum denn nicht?« entgegnete Bestuschew. »Bulgarin wird sich immer behaupten. Sein ›Iwan Wyschygin‹ wird einst als erstes Denkmal der Weltliteratur gelten! ... Euer Puschkin ist aber nur eine bezaubernde Sirene, ein reizender Sänger und nichts weiter. Man sagt, daß er jetzt gerne mit seinem sechshundert Jahre alten Adel protzt. Auch darin sucht er Byron nachzuäffen! Ich mußte lachen, als ich es hörte. Es fehlte ihm einfach am Verstand – das ist das ganze Unglück. Mit den Worten: ›Mein Gott, die Poesie muß etwas einfältig sein‹, hat er wohl sich selbst gemeint ... Einmal besuchte ihn ein Freund. ›Ist Puschkin zu Hause?‹ – ›Der gnädige Herr schlafen.‹ – ›Er hat wohl die ganze Nacht gearbeitet?‹ – ›Ja, wenn Kartenspiel eine Arbeit ist‹ ...«

»Begabung ist nichts; wesentlich ist nur die moralische Persönlichkeit,« bemerkte traurig Küchel, der an seinem ehemaligen Lyzeumkameraden mit zärtlicher Liebe hing.

»Du mußt Dichter und Bürger sein!« platzte Bestuschew schließlich heraus; mit diesem Zitat aus Rylejews Gedichten, glaubte er dem Dichter Puschkin endgültig den Garaus gemacht zu haben. »Die Poesie soll der Menschheit nützen und in jugendlichen Herzen Eifer und Interesse für das öffentliche Wohl wecken.«

Odojewskij verzog das Gesicht, als spürte er plötzlich einen üblen Geruch. Er sah seinen Gegner herausfordernd und frech wie ein Schuljunge an und sagte:

»Weißt du, Bestuschew, was Puschkin einmal seinem Bruder Leo gesagt hat?«

»Leo dem Trunkenbold?«

»Ja. ›Die Politik ist nur für den Pöbel. – Tout ce qui est politique n'est fait que pour la canaille.‹«

»Also sind wir auch Pöbel, weil wir uns mit Politik befassen?«

»Zum Pöbel gehören alle, die das Erhabene erniedrigen! ...« antwortete Odojewskij mit funkelnden Augen; in diesem Augenblick war er so schön, daß Golitzin ihn beinahe umarmen wollte.

»Was ist denn erhabener als das öffentliche Wohl?« Bestuschew zuckte selbstbewußt die Achseln, »warum ereiferst du dich so? Ist euer Puschkin ein Heiliger oder ein Prophet?«

»Ich weiß nicht, ob er ein Prophet ist,« sagte ein Gast, der bisher geschwiegen hatte, »ich weiß aber, daß alle anderen Herren Dichter von heute nicht würdig sind, seinen Schuhriemen zu lösen.«

Iwan Iwanowitsch Puschtschin, der diese Worte sprach, erschien mit seinem einfachen ruhigen Gesicht und seiner einfachen ruhigen Sprache unter allen diesen hitzigen Jünglingen wie ein Erwachsener unter Kindern. Gleich Küchelbäcker war er ein Lyzeumsfreund Puschkins; seine glänzende Stellung bei der Garde hatte er aufgegeben, um Gouvernementsrichter zu werden, denn er war der Ansicht, daß geringe Ämter oft wichtiger sind als hohe, und daß man auch bei der bescheidensten Tätigkeit bürgerliche Tugenden zeigen kann. Golitzin sah in seinem stillen, einfachen Wesen etwas Schlichtes und Wahres, etwas Puschkinsches, was ihn so sehr von den andern unterschied; die Ähnlichkeit der Namen Puschkin und Puschtschin schien ihm nicht ganz zufällig.

»Wir sprechen hier immer von großen Taten, Puschkin hat aber wirklich etwas geleistet,« sagte Puschtschin leise und einfach. Alle horchten aber sofort auf.

»Was hat er denn geleistet?« fragte Bestuschew gereizt. »Sie sprechen hier immer von Puschkin, als ob er wirklich der einzige Mensch von Bedeutung wäre. Sagen Sie mir gefälligst, was hat er denn geleistet?«

»Was er geleistet hat?« erwiderte Puschtschin. »Er lehrte uns die Wahrheit sprechen.«

»Was für eine Wahrheit?«

»Nun, zum Beispiel diese:«

Im gleichen stillen und einfachen Ton rezitierte er das Gespräch Tatjanas mit der Kinderfrau aus dem erst eben vollendeten dritten Kapitel des »Onjegin«.

Als er fertig war, verstummten alle wie die Kanarienvögel im verhängten Bauer.

»Wie schön!« flüsterte Odojewskij.

»Ja, die Verse sind wohlklingend, und das Ganze ist recht gefühlvoll. Aber was ist denn sonst dran?« begann Bestuschew von neuem. Alle blickten ihn aber sofort so an, daß er verstummte und spöttisch seinen Schnurrbart zu zupfen anfing.

Neben dem Eßzimmer befand sich das kleine Gastzimmer, das durch einen Vorhang vom Schlafzimmer getrennt war. Die Ausstattung war hier dieselbe, wie in allen bescheidenen Häusern: ein Kanapee mit gestickten Kissen, ein runder Tisch mit gehäkelter Decke, ein ovaler Wandspiegel, eine schlecht gestochene Ansicht von Neapel mit dem Ausbruch des Vesuvs und ein Kronleuchter aus Kristallglas mit Wachskerzen. Den Fußboden bedeckte ein Teppich mit einem Mohren und einem Tiger. Am Fenster lag ein Stickrahmen mit einer angefangenen Stickerei: einem blauen Eichhörnchen mit stufenförmig gezacktem Rücken. Man sah auch eine efeuumschlungene Gitterwand und ein Klavier mit den aufgeschlagenen Noten eines Liedes:

O dunkle Sehnsucht, zages Hoffen!
O liebliches und trautes Tal,
Wo mich zum ersten Mal getroffen
Der blauen Augen milder Strahl ...

Hier brannten mehrere Räucherkerzen; aber der Geruch von Tabak und Sauerkraut, der aus dem Eßzimmer kam, verdeckte den Duft des Ambers.

Frau Natalja Michailowna Rylejewa war noch sehr jung, anmutig, hielt sich etwas geziert und erinnerte an eine Institutsschülerin oder Popentochter. Auch sie verbreitete den gleichen Geburtstags-, Flitterwochen- und Resedaduft, wie ihr Mann. Ihr Kleid hatte sie wohl selbst genäht, es war aber von modernem Schnitt; am Halse trug sie eine Baregeschleife à la trou-trou, die wohl aus einem billigen Geschäft stammte. Ihre Frisur war gleichfalls modern, doch standen ihr die langen an den Ohren herabhängenden künstlichen Locken schlecht zu Gesicht. Sie führte den französischen Namen – Natalie, statt des russischen Natascha. Doch ihre Hände verrieten die gute Hausfrau und ihre Augen – die gute Mutter.

Golitzin, Puschtschin und Odojewskij begaben sich ins Gastzimmer. Natalja Michailowna las eben, vor Stolz errötend, eine Notiz aus Bulgarins »Literarischen Blättern« vor:

»Die Verleger hatten die Ehre, je ein Exemplar des ›Polarsterns‹ Ihren Kaiserlichen Majestäten, den beiden Kaiserinnen, zu überreichen, wofür ihnen folgende Beweise allerhöchster Huld zuteil wurden: Kondratij Fjodorowitsch Rylejew erhielt zwei Brillantringe und Alexander Alexandrowitsch Bestuschew eine goldene Tabatiere von wunderbarer Arbeit.«

»Was kann man sich noch mehr wünschen?« bemerkte Puschtschin ironisch. »Einst mußte der Dichter Tredjakowskij, wenn er der Kaiserin eine Ode überreichen wollte, von der Türe bis zum Thronsessel auf den Knien kriechen; heute überreichen uns aber die Kaiserinnen selbst schöne Geschenke.«

Natascha verstand ihn nicht und errötete noch mehr. Sie hielt es schließlich aber doch nicht aus und brachte das Futteral mit den beiden Ringen herbei. Sie tat sehr stolz und klagte:

»Mein Mann ist so sonderbar! Er will die Ringe um nichts in der Welt tragen. Die Steine sind wirklich herrlich!« Sie ließ die Brillanten in der Sonne spielen und geriet in helles Entzücken.

»Vielleicht steht es einem Republikaner nicht an, diese Ringe zu tragen?« fuhr Puschtschin in gleichem ironischen Tone fort.

»Warum denn? Ich bin ja selbst Republikanerin und doch vergöttere ich die ganze Zarenfamilie. Besonders die beiden Kaiserinnen; sie sind wirklich so gütig und freundlich!«

»Eine Republik mit Beibehaltung der Zarenfamilie?«

»Warum denn nicht?« fragte Natalie naiv, ihre Brauen hochziehend. »Kondratij Fjodorowitsch sagt ja selbst: eine Republik mit dem Zaren als Präsidenten, wie es in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist ...«

»Natalie, rede keinen Unsinn!« rief ihr aus dem Nebenzimmer Rylejew, der alles gehört hatte, zu.

Im Eßzimmer wurde inzwischen über das Zweikammersystem und über direkte und indirekte Wahlen zum künftigen russischen Parlament debattiert. Rylejew war Feuer und Flamme, er schrie und schlug mit den Fäusten auf den Tisch.

»So, jetzt fängt er wieder an! Er ist wirklich unausstehlich!« sagte Natalie, ihren Mann spöttisch und zugleich zärtlich anblickend. »Neulich hat er auch so geschrien, getobt und niemand zu Worte kommen lassen, schließlich lief er ohne Mütze auf die Straße. Es ist ein wahres Unglück!«

»Worüber wurde denn damals gestritten? Über die Republik mit der Zarenfamilie?«

»Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls war es ein Unsinn. Die ganze Sache ist keinen roten Heller wert, er ereifert sich aber so, als ob es Gott weiß wie wichtig wäre!«

Puschtschin lächelte traurig und mild.

»Wie geht es Ihrer Nastenjka? Hustet sie noch immer?«

»Nein, es ist Gott sei Dank vergangen! Ich hatte solche Angst! Man sagt, daß in der ganzen Stadt Keuchhusten wütet. Heute wurde sie wieder spazieren geführt. Trofim versprach ihr einen lebenden Hasen vom Lande zu bringen. Nun warten wir sehnsüchtig auf ihn!« Die hohle Natalie hatte sich in die kluge und gute Natascha verwandelt.

Im trauten Winkel hinter der Efeuwand saß ein Pärchen: Hauptmann Jakubowitsch und Fräulein Glafira Nikitischna Teljaschowa, ein junges Mädchen aus der Provinz, das nach Petersburg gekommen war, um ihre Cousine Natascha zu besuchen und sich nach Freiern umzusehen.

Der »tapfere Kaukasusheld« Jakubowitsch war einmal am Kopfe verwundet worden; obwohl die Wunde längst verheilt war, trug er noch immer auf der Stirne eine schwarze Binde, mit der er wie mit einem Ordensband paradierte. Er war berühmt als Bezwinger weiblicher Herzen und als Duellheld; für eines seiner zahlreichen Duelle wurde er nach dem Kaukasus verbannt. Sein bleiches, unheimliches Gesicht trug bereits den Stempel des Byronismus, obwohl er Byron nie gelesen und kaum etwas über ihn gehört hatte.

Er blätterte im Poesiealbum des jungen Mädchens. Es enthielt die üblichen Verse und Zeichnungen. Ein Bildchen stellte zwei Tauben über einem Grabhügel dar; die Verse darunter lauteten:

Zwei Turteltauben weisen
Dir auf mein kühles Grab ...

Ein Amor flatterte über einem Blumenstrauß. Darunter die Verse:

Die Biene lebt von Rosen,
Gott Amor lebt vom Kosen.

Daneben eine verblaßte Zeile in altertümlicher Schrift:

»O Natur! O Empfindsamkeit!«

»Ihr Herren haltet uns alle für dumme Gänse,« redete das Mädchen mit großer Zungenfertigkeit, »unser Geist ist aber feiner als der eurige. Ein Mann kann unmöglich alle unsere Listen erforschen, wenn er auch dem sein ganzes Leben widmet. Einen Mann kann man innerhalb vier Wochen vollkommen durchschauen, uns aber – nie!«

»Sie haben vollkommen recht, meine Dame!« bestätigte der Hauptmann höflich, wobei er seinen schwarzen Schnurrbart wie ein Käfer die Fühlhörner bewegte. »Die ganze weibliche Natur ist ein aus feinsten Fasern gewebter Flor. Es ist leichter, den Stein der Weisen zu finden, als Ihr unbeständiges Geschlecht zu ergründen ...«

»Warum sind wir unbeständig? Auch wir können treu lieben. Unser Geschlecht ist natürlich von dem Ihrigen verschieden, denn jedes Weib muß etwas haben, was es umschlingen kann, wie dieser Efeu das Gitter; ohne Stütze müssen wir verwelken!« Glafira zeigte seufzend auf die Efeuwand. Sie blickte ihn schmachtend mit ihren mongolischen Schlitzaugen an; die dichten Wimpern warfen einen leichten Schatten auf ihr rosig-bräunliches Gesichtchen. Sie war bereits achtundzwanzig; in zwei Jahren wird auch sie verwelken. Jetzt hatte sie aber noch jenen beliebten Reiz der Jugend, auf den die Männer so leicht hereinfallen.

»Genug davon! Erzählen Sie mir lieber von Ihren Kämpfen auf dem Kaukasus, Hauptmann!«

Jakubowitsch ließ sich nicht lange bitten; von seinen Heldentaten erzählte er leidenschaftlich gerne, wenn man ihm zuhörte, konnte man glauben, daß er ganz allein den Kaukasus erobert hätte.

»Ja, ich kann wirklich sagen, daß mein Säbel sich mit Menschenfleisch gesättigt hat; der edle Dampf des Blutes stieg oft von meiner Klinge zum Himmel empor. So oft ein kühner Reiter von meiner Kugel getroffen zusammenbrach, durchbohrte ich jauchzend sein Herz mit dem Säbel und wischte dann die bluttriefende Klinge an der Mähne meines Rosses ab ...«

»Ach, wie grausam!« entsetzte sich Glafira.

»Warum grausam? Wenn es noch ein schutzloses Wesen wie Sie wäre ...«

»Hatten Sie denn gar keine Furcht?« unterbrach sie ihn errötend.

»Meine Dame, Furcht ist ein Gefühl, das wir Russen nicht kennen. Unser Motto lautet: dem Unvermeidlichen kann niemand entgehen. Wenn uns die Kugeln um die Ohren pfeifen, so achten wir darauf weniger, als auf das Pfeifen des Windes. Mein Mantel wurde von zwei Kugeln durchlöchert; eine Kugel durchbohrte den Lauf meines Gewehres und zerbrach den Ladestock.«

»Sind alle so tapfer wie Sie?«

»Daß ein Russe tapfer ist, ist ebenso selbstverständlich, wie daß er auf zwei Beinen steht.«

Die Schöne bestätigte dies mit den patriotischen Versen:

Noch ist jener nicht geboren,
Der die Russen je besiegt.

Hinter der Efeuwand stand Odojewskij, der das ganze Gespräch belauschte. Er konnte sein Lachen kaum verbeißen und zwinkerte Golitzin zu. Sie stellten sich einander vor und kamen bald ins Gespräch.

»Ist auch dieser ein Mitglied der Gesellschaft?« fragte Golitzin Odojewskij, etwas zur Seite gehend.

»Und was für ein Mitglied! Rylejew setzt auf ihn die größte Hoffnung. Er ist Brutus und Marat in einer Person, unser erster Tyrannenmörder ... Finden Sie ihn nicht prachtvoll?«

»Ja, wissen Sie, wenn es bei Ihnen viele von diesem Schlag gibt ...«

»Nein, solche wie er gibt es nicht viel; doch haben wir alle etwas von seinem Wesen. Ein Byron aus Tschuchloma. Wo er das alles her hat, weiß der Teufel. Weil man ihn bei der Verteilung von Orden oder Ämtern irgendwie übergangen hat,

Will er den Gott vom Himmel stürzen
Und Thron vernichten und Altar ...

wie es in einem Gedichte Rylejews heißt. Leider sind es nicht nur die Dümmsten, die diesen Jakubowitsch beneiden und nachäffen: selbst Puschkin hat einmal sein Bedauern ausgesprochen, daß er ihn nicht kennen lernen konnte, um ihn als Modell für seinen ›Gefangenen im Kaukasus‹ zu benützen ...«

Sie traten zu Puschtschin heran. Als dieser erfuhr, wovon sie eben sprachen, sagte er mit seinem milden Lächeln:

»Eigentlich ist in uns allen etwas von diesem albernen Zeug enthalten. Wir alle sind Schwätzer, Literaten, Repetilows; wir können nur reden. Wir ›befassen uns mit zahmer Literatur‹, wie von uns die Zensurbehörde in einem Berichte sagt. Die Herren Literaten, hat Alfieri gesagt, neigen stets mehr zur Kontemplation, als zu Handlungen. Viel Lärm um nichts ...«

Mit einem Blick auf Golitzin fuhr er fort:

»Natürlich sind nicht alle so. Es gibt auch bessere Menschen. Vielleicht ist das Ganze nur eine harmlose Kinderkrankheit, die mit der Zeit von selbst vergeht.«

Die drei begaben sich wieder ins Eßzimmer. Der Leibgardeoberst Fürst Trubezkoj las seinen Entwurf zu einer Verfassung vor. Trubezkoj war pockennarbig, hatte rötliches Haar, eine lange Nase und sah etwas jüdisch aus; sein Gesicht war aber vornehm und freundlich.

»Vorschläge zum Entwurf einer positiven Verfassung, wenn seine Kaiserliche Majestät geruhen wird ...«

»Ja, Schnecken!« rief jemand dazwischen.

»Hört! Hört!«

»... geruhen wird, mit Hilfe des Allmächtigen das slawisch-russische Kaiserreich zu konstituieren. Paragraph eins: die Erfahrung aller Völker zeigt, daß die absolute Macht wie für die Regierung so auch für die Gesellschaft gleich verderblich ist; daß sie weder den Grundsätzen unserer heiligen Religion, noch denen der Vernunft entspricht; das freie und unabhängige russische Volk darf nicht das Eigentum eines einzelnen Menschen oder einer Familie sein ...«

Mit dem ersten Paragraphen waren alle einverstanden; als aber die Rede auf die Beschränkung der Monarchie kam, zeigten sich solche Meinungsverschiedenheiten, daß Trubezkoj überhaupt nicht mehr zu Worte kam. Alle redeten zu gleicher Zeit, ohne aufeinander zu hören; die einen waren für die Monarchie, die andern für eine Republik.

»Das russische Volk wird, wenn ich die Wahrheit sagen soll, eine Republik nie verstehen können,« versetzte der Genieoberst Gawrila Stepanowitsch Batenkow.

Er war noch nicht Mitglied der Gesellschaft, trug sich aber mit der Absicht herum, ihr beizutreten und schob es immer wieder hinaus. Er genoß aber das Vertrauen der Mitglieder, auch schätzte man ihn für seinen seltenen Mut: In der Schlacht bei Montmirail im Feldzuge von 1814 verteidigte er, von allen Seiten vom Feinde umringt, die gefährlichste Stellung. Aus zehn Bajonettwunden blutend, blieb er auf dem Schlachtfelde bewußtlos liegen und wurde gefangen genommen. In der Meldung des Stabes hieß es: »Verloren wurden zwei Geschütze samt Bedienungsmannschaft infolge der übertriebenen Tapferkeit des kommandierenden Offiziers Batenkow.« Er verkehrte viel bei Speranskij, der ihn für seine hervorragenden Fähigkeiten hochschätzte. Jetzt diente er unter Araktschejew bei den berüchtigten »Militärischen Siedlungen«, wollte aber den Abschied nehmen. Er war hervorragender Ingenieur und feiner Mathematiker. In der Gesellschaft nannte man ihn »unser Minister«.

Er war knochig, ungelenk, bewegte sich langsam, hielt sich gebückt und sah trotz seiner dreißig Jahre wie ein Greis aus. In dieser Versammlung erschien er gleich Puschtschin wie ein Erwachsener unter Kindern. Er hatte eine hohe Stirne, eine gerade Nase, ein hervortretendes Kinn und einen gespannten, gleichsam nach innen gerichteten Blick. Seine Sprache war schwerfällig: die Worte klangen so, als ob er schwere Steine herumwälzte. Er rauchte eine lange perlenbestickte Pfeife; zuweilen schien er aus ihr die ihm fehlenden Worte herauszusaugen.

»Das russische Volk wird die Republik nie verstehen können. Es kann sie höchstens als eine neue Art Frohndienst auffassen. Schon die Kirchengesänge stehen mit dem republikanischen Prinzip in Widerspruch. Eine Verfassung kann uns unmöglich passen. Hat doch schon Kaiserin Katharina gesagt: ›Der Schneider, der für Rußland einen Rock zuschneiden könnte, ist noch nicht geboren‹ ...«

»Sagen Sie es doch offen: sind Sie gegen die Republik?« rief ihm Bestuschew zu; er fürchtete Batenkow und war ihm nicht besonders gewogen.

»Wenn ich die Wahrheit sagen soll ...« begann Batenkow wieder seine schweren Steine zu rollen, »nach der besonderen Konstitution meines Geistes, liebe ich die Republiken nicht, denn sie schmachten sämtlich unter dem Joche der allzu despotischen Gesetze. Es ist wohl auch eine besondere Eigenart meines Verstandes, daß mir die Republiken wie das Alte Testament vorkommen, wo jeder, der das Gesetz übertritt, verdammt wird; die Monarchie halte ich dagegen für das Neue Testament, denn der gottgesalbte Monarch verkörpert die göttliche Gnade und kann, kraft dieser Gnade, wohltätige Wunder wirken. Ein Selbstherrscher kann ungesetzlich die größten Taten vollbringen, was ihm die Gesetze einer Republik unmöglich machen würden ...«

»Warum sind Sie dann der Gesellschaft beigetreten, wenn Ihnen der Absolutismus so gut gefällt?«

»Ich bin ihr noch gar nicht beigetreten, werde es aber vielleicht doch noch tun ... Warum? Ja, eben aus dem Grunde, weil wir in Rußland den echten Absolutismus gar nicht haben; wir haben keinen russischen Zaren, sondern einen deutschen Kaiser ... Der russische Zar ist ein Vater, der Deutsche aber – ein Feind des Volkes ... Seit zwei Jahrhunderten haben wir die Deutschen auf dem Halse sitzen ... Zuerst sind es die Deutschen, dann kommen die Juden ... Damit muß, wenn ich die Wahrheit sagen soll, gründlich aufgeräumt werden ...«

»Batenkow hat recht! Nieder mit den Deutschen! Der Teufel mag sie holen!« schrie Küchelbäcker begeistert.

»Was fällt dir ein, Küchel? Du bist ja selbst ein Deutscher ...« sagte Odojewskij erstaunt.

»Wenn ich ein Deutscher bin, so gehöre ich auch zum Teufel!« schrie Küchelbäcker und sprang auf, die Tischdecke mit dem ganzen Geschirr mitziehend. »Doch haue ich jedem, der behaupten wollte, daß ich kein Russe bin, den Schädel ein! ...«

»Begreift es doch, meine Herren, daß der Weg Europas nicht unser Weg ist,« schleppte Batenkow mühselig seinen schwersten Stein herbei. »Unsere Geschichte erfordert andere Gedankengänge. Rußland hatte ja nie etwas mit Europa gemein ...«

»Wirklich nichts?« fragte Puschtschin lächelnd.

»Nichts, d. h., wenn ich die Wahrheit sagen soll ... nichts Wesentliches ... Von solchem Unsinn, wie Handwerk und Industrie will ich nicht sprechen.«

»Ist denn auch die Aufklärung Unsinn?«

»Ja, auch die Aufklärung ist Unsinn, wenn man sie mit dem Wesentlichen, das ich meine, vergleicht.«

»Alles Nationale verschwindet vor dem Allgemein-Menschlichen!« bemerkte Bestuschew.

Batenkow blickte ihn nur ernst an, ohne etwas zu erwidern.

»Gestatten Sie die Frage: was ist dann das Wesentliche?« bestürmte man ihn von allen Seiten.

»Was das Wesentliche ist? Das will ich Ihnen sagen.« Er sog so fest an seiner Pfeife, daß sie aufstöhnte. »Der Russe ist nämlich der freieste Mensch in der Welt ...«

»Hat man je so etwas gehört? Wozu brauchen wir dann die Verfassung? Warum mühen wir uns überhaupt noch ab?«

»Ich sagte frei und nicht ungefesselt,« erklärte Batenkow. »Der Russe ist der freieste und sklavischeste Mensch. Er hat einen sklavischen Körper und eine freie Seele.«

»Sie meinen wohl nur die Besitzenden und nicht die Leibeigenen?«

»Auch die Leibeigenen. Es ist ganz gleich ...«

»Meinen Sie die primitive, wilde Freiheit?«

»Eine andere gibt es nicht; wenigstens heute nicht.«

»Und in Europa?«

»In Europa gibt es Staatsgewalt und Gesetzmäßigkeit. Dort liebt man die Obrigkeit und achtet die Gesetze; man versteht zu befehlen und zu gehorchen. Wir können es aber nie lernen, so sehr wir es auch möchten. Wir achten die Gesetze nicht und lieben auch die Staatsgewalt nicht; das ist alles. Ein jeder Russe sagt in seinem Herzen zu seinem Vorgesetzten: ›Laß mich zufrieden, Verdammter, und verschwinde aus meinen Augen!‹ Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, meine Herren, von mir muß ich aber sagen, daß mir jede Staatsgewalt und der Wille nach ihr – immer verhaßt waren. Jede Staatsgewalt ist für mich ein Schreckgespenst. Nur daraus schließe ich überhaupt, daß ich ein Russe bin!« Er blickte seine Zuhörer so aufrichtig an, daß sie in seinen unverständlichen und anscheinend sinnwidrigen Worten etwas Wahres fühlen mußten. Alle empörten sich aber und suchten ihn zu widerlegen:

»Was sagen Sie, Batenkow? Haben wir etwa keine Staatsgewalt?«

»Ist es denn eine Gewalt? Es ist zum Lachen. Eine Willkür ist es, Anarchie und Gesetzlosigkeit. Daher lieben auch die Russen ihren Zaren so sehr, weil er keine menschliche, sondern eine göttliche Gewalt hat, die er durch die Salbung empfängt. Es ist kein Gesetz, sondern die göttliche Gnade. Die Ausländer werden es ebensowenig verstehen, wie wir das ihrige verstehen können. Dies ist aber die Hauptsache, dies ist – alles! Wenn ich die Wahrheit sagen soll, hat sich Rußland nur als Staat verkleidet; was es aber in Wirklichkeit ist, weiß niemand zu sagen ... Wir werden nicht von der Regierung, sondern vom heiligen Wundertäter Nikolai regiert ...«

»Und Araktschejew?«

»Hat auch Araktschejew etwas von der göttlichen Gnade?«

»Vielleicht haben Sie nur aus dem Grunde die Stellung bei den Militärischen Siedlungen gewählt, weil dort göttliche Gnade ruht?« spottete Bestuschew.

Batenkow schien aber diesen Spott gar nicht zu hören; ungelenk und schwerfällig verfolgte er nur seine eigenen Gedanken. Er kam ganz allmählich ins Feuer. Vor dieser schweren Hitze erschien das leichte Feuer seiner Gegner wie Strohfeuer vor einem weißglühenden Stein.

Er schwieg eine Weile nachdenklich, nahm den Mund voll Rauch und ließ Ringe emporsteigen.

»Alles, was in Rußland gut ist, kommt von der göttlichen Gnade; alles, was nach den Gesetzen geschieht, ist aber schlecht!« sagte er endlich, voller Bewunderung für die klare Form seiner eigenen Gedanken. Man konnte ihm leicht den Mathematiker ansehen.

»Diese Gemeinheit! Diese Gemeinheit!« schrie plötzlich jemand empört auf.

In der Ecke am Ofen stand ein junger Mann mit unansehnlichem, hungrigem und hagerem Gesicht, mit dem gewöhnlichen grauen, gleichsam verstaubten Gesicht eines Leutnants von der Linie. Seine Unterlippe trat hervor, was ihm einen verächtlich-stolzen Ausdruck verlieh, seine Augen waren traurig, wie bei einem kranken Kind, oder bei einem Hund, der seinen Herrn verloren hat. Er trug einen alten schwarzen Zivilfrack, ausgefranste Hosen, eine zerfetzte Halsbinde, ein schmutziges Hemd von grobem Leinen und Schuhe mit schiefgetretenen Absätzen. Er sah halb wie ein Räuber in einem Drama, halb wie ein Klavierstimmer aus. Ein Proletarier: dieses Wort war in Rußland erst eben aufgekommen.

Er war noch im Anfang des Streites, von niemand bemerkt und ohne jemand zu begrüßen, eingetreten; er machte sich sofort über die Fischpiroggen und den Schnaps her und nahm von den ersteren drei Stück, denen er fünf Glas Schnaps folgen ließ. Dann ging er in die Ecke zum Ofen und blieb dort in Napoleonischer Pose mit gekreuzten Armen stehen; bis zu diesem Augenblick hatte er noch kein Wort gesprochen und die Streitenden von oben herab betrachtet.

»Wer ist das?« fragte Golitzin Odojewskij.

»Der Leutnant a. D. Pjotr Grigorjewitsch Kachowskij. Auch ein Tyrannenmörder. Jakubowitsch ist Numero eins, und dieser – Numero zwei.«

Als Kachowskij »Diese Gemeinheit!« gerufen hatte, blickten sich alle nach ihm um; eine peinliche Stille trat ein. Man war gespannt, wie Batenkow auf diese Beleidigung reagieren würde. Er sagte aber ruhig und nachdenklich, als verfolge er noch immer seine eigenen Gedanken:

»Sie haben recht, mein Herr: es kann tatsächlich eine Gemeinheit genannt werden. In Rußland gibt es heute überhaupt nichts als Gemeinheit. Es war aber nicht immer so. Dazu brauchen wir ja die Revolution, um mit allen Gemeinheiten auszuräumen ...«

»Geh doch nicht immer so um den Brei herum!« rief Rylejew empört dazwischen. »Sage es lieber gerade heraus: bist du für den Zaren?«

»Für den Zaren? Nein ... d. h., wenn ich die Wahrheit sagen soll ... Wenn ich für den Zaren bin, so jedenfalls nicht für so einen, wie wir ihn jetzt haben. Ein echter Zar muß ein Heiliger sein. Er opfert sein Leben für sein Volk. Er ist ein Märtyrer und Dulder. Er sagt sich selbst von seiner Gewalt los, übergibt sie Gott und befreit das Volk ... Was ist uns aber der heutige Zar? ...«

»Der Kaiser hat ja auch dasselbe verkündet!« entgegnete Rylejew. »Du weißt doch, wie es von der Heiligen Allianz heißt: ›Alle Könige der Erde legen ihre Kronen dem Heiland, dem einzigen himmlischen König zu Füßen‹ ...«

»Es ist ein großer Gedanke! Ein gewaltiger Gedanke! Einen tieferen Gedanken hat es noch nie auf Erden gegeben und wird es auch nie geben. Nur haben es die Schurken so verdreht, so verunreinigt, daß es höchstens noch für Metternich oder für den Teufel gut ist. Dafür sollte man sie alle mindestens ermorden!« Eine plötzliche Wut überkam ihn, er fuchtelte mit den Fäusten, und sein Gesicht nahm wohl den gleichen Ausdruck an, wie in der Schlacht bei Montmirail, als er die zwei Geschütze samt Mannschaft »infolge übertriebener Tapferkeit« verloren hatte.

»In diesem Falle,« lachte Rylejew auf, »ist uns wirklich gleich, wer heute der Zar ist. Wer die Messe liest, der ist Pope. Eine Revolution ist aber auf jeden Fall notwendig!«

Batenkow verstummte und klopfte grimmig die verloschene Pfeife aus. Auch er war gleichsam erloschen: endlich sah er ein, daß ihn hier niemand verstand.

Die einen lachten, die andern schimpften.

»Dunkel ist der Rede Sinn!«

»Unser Minister ist anscheinend nicht ganz bei Trost!«

»Es erinnert schon an die Mysterien der Freimaurer!«

»Die Ohren schmerzen, wenn man ihm zuhört!«

»Blühender Unsinn!«

»Er ist für die Krone und verdient selbst eine Narrenkrone! So kann man wirklich keine Revolution machen!«

»Er ist ein Spion! Wie, seht ihr es selbst nicht ein, meine Herren, daß er ein Spion Araktschejews ist?!« flüsterte Bestuschew einigen Gästen ins Ohr, obwohl er selbst daran nicht glaubte und auch wußte, daß es ihm niemand glauben werde.

Und dabei spürten alle, daß in Batenkows Worten etwas war, was man nicht mit Lachen abfertigen konnte.

Fürst Valerian war der einzige, der ihn verstand: ihm fiel ein, was er in Paris von Tschaadajew über den Gegensatz und die Ähnlichkeit zwischen den beiden ewigen Doppelgängern – dem russischen Zaren und dem römischen Pontifex gehört hatte. Plötzlich regte sich in der Tiefe seiner Seele all das Heimliche und Schreckliche, was ihn wie ein Alp bedrückte. Er wußte, daß er diesen Leuten nichts zu sagen hatte, weil ihn niemand verstehen würde. Etwas würgte aber an seiner Kehle und bemächtigte sich seiner Sinne. Er erhob sich, ging auf Batenkow zu und sagte mit zitternder Stimme zu ihm:

»Kachowskij hat es eben eine Gemeinheit genannt; es ist aber schlimmer als eine Gemeinheit ...«

»Schlimmer als eine Gemeinheit?« Batenkow blickte ihn, ohne sich beleidigt zu fühlen, neugierig und verständnislos an.

»Was ist denn ärger als eine Gemeinheit?« fragte jemand.

»Gotteslästerung,« erwiderte Golitzin.

»Wo können Sie da, wenn ich die Wahrheit sagen soll, eine Gotteslästerung erblicken?« fragte Batenkow interessiert.

»Sie machen den Zaren zum Heiland und einen Menschen zu einem Gott. Der Gedanke ist vielleicht auch groß, aber er kommt vom Teufel! Es ist die schrecklichste Gotteslästerung, fürchterlicher Frevel! ...«

Plötzlich verstummte er, blickte sich um und kam zur Besinnung. Auf seinen Lippen spielte wieder das schiefe Lächeln, das eine Erbitterung gegen sich selbst, und nicht gegen die andern ausdrückte; das lebendige Feuer seiner Augen erlosch unter dem toten Glanze der Brillengläser; er erinnerte wieder an Gribojedow in seinen spöttischesten Stimmungen. »Warum habe ich überhaupt angefangen?« fragte er sich geärgert. Er schämte sich so, als ob er ein fremdes Geheimnis verraten hätte.

»Vielleicht haben Sie auch recht ... wenn ich die Wahrheit sagen soll ... Ich habe auch selbst darüber nachgedacht ... Wir wollen aber noch einmal darüber sprechen, wenn es Ihnen recht ist ...«

Er wollte noch etwas sagen, kam aber nicht dazu: alle fingen plötzlich wieder zu sprechen und zu lachen an.

»Ist das mit dem Teufel Ihr Ernst?« fragte Bestuschew.

»Gewiß. Warum?«

»Sie glauben an den Teufel?«

»Ja.«

»An einen mit Hörnern und Schweif?«

»Ja.«

»Glauben Sie vielleicht, daß er hier irgendwo anwesend ist?«

»Es ist möglich.«

»Ich gratuliere! Sie haben den Teufel am Schwanze gepackt!«

»Nun sind wir glücklich beim Teufel angelangt!«

Aus dem Gastzimmer kam Jakubowitsch. Nachdem er eine Weile zugehört hatte, begann er plötzlich zu schimpfen; was ihn so sehr empörte, war völlig unklar; vielleicht war er wieder einmal darüber aufgebracht, daß andere Leute kluge Gespräche führten, an denen er sich nicht beteiligen konnte.

»Wir haben doch hier eine wichtige Frage zu besprechen, reden aber Gott weiß was für blödes Zeug ...«

»Hört! Hört!«

»Was ist es für eine wichtige Frage?«

»Nun, folgende Frage: der Quell allen Übels ist der Kaiser. Daraus folgt, daß, wenn wir wirklich frei sein wollen ...«

»Genug, mein Lieber, genug. Wir wissen, daß du ein Held bist,« suchte ihn Rylejew zu beruhigen.

»Macht doch wenigstens das Fenster zu, sonst hört es noch der Revieraufseher!« bemerkte Odojewskij lachend.

»Das macht nichts, der wird sich denken, daß wir Schiller übersetzen und uns ›mit zahmer Literatur befassen‹.«

»Wenn wir wirklich frei sein wollen,« fuhr Jakubowitsch, ohne auf jemand zu hören und mit dem gleichen unnatürlichen Feuer, mit dem er soeben von seinen Heldentaten auf dem Kaukasus erzählt hatte, fort, »so müssen wir vor allen Dingen denjenigen vernichten ...«

»Papa! Papa! Der Eisgang hat begonnen!« rief Rylejews Töchterchen Nastenjka, in freudiger Erregung ins Zimmer stürzend; sie hatte die dunkle Gesichtsfarbe und die lebhaften Augen ihres Vaters. »An der Newa ist es jetzt so schön, Papa! Die Brücken sind abgenommen, viele Leute stehen herum, man schießt aus Kanonen, – der Eisgang hat begonnen, der Eisgang!«

Jakubowitsch kam nicht weiter, und so erfuhr niemand, wen man vernichten sollte. Alle widmeten sich jetzt ganz dem Kind. Batenkow stellte sich mit gekrümmtem Rücken auf, fing sie ein, umarmte sie und begann sie zu kitzeln.

»Die Elster, die Diebin, die kochte ein Breichen, sprang auf den Kuchen, traktierte die Gäste: der kriegte ein Stückchen, auch dieser ein Stückchen ...«

»Ich fürchte mich gar nicht, aber gar nicht!« rief das Mädchen, sich gegen das Kitzeln wehrend. »Onkel Batenkow, sing mal das Liedchen von der Eule.«

Batenkow kauerte vor ihr nieder, zog den Kopf ein, machte runde Augen und sang zuerst mit hoher, dann mit immer tieferer Stimme:

Sitzt die Eule auf dem Herd,
Schwingt den Flügel wie ein Schwert,
Mit den Augen klapp-klapp-klapp,
Mit den Beinen tapp-tapp-tapp ...

Er schlug sich mit den Handflächen auf die Schenkel und tänzelte plump, schwer und langsam; er hatte wirklich einige Ähnlichkeit mit einem großen Vogel.

Nastenjka tanzte und sprang herum, klatschte mit den Händen und lachte aus vollem Halse.

Als er mit dem Lied fertig war, packte er sie mit beiden Händen, hob sie hoch in die Luft – das bedeutete, daß die Eule fortflog – und ließ sie behutsam auf den Boden nieder. Das Kind schmiegte sich zärtlich an ihn heran.

»Dieser Onkel ist der schwarze Mann!« sagte Nastenjka plötzlich, auf Jakubowitsch zeigend. Dieser rückte mit wütender Gebärde die schwarze Binde auf seiner Stirne zurecht, rollte unnatürlich die Augen und machte ein vom Schicksal gezeichnetes Gesicht. Er sah wirklich wie der schwarze Mann aus, und alle mußten lachen.

Jakubowitsch wurde noch finsterer; er zuckte die Achseln und verließ, ohne sich zu verabschieden, das Zimmer.

Rylejew zog sich mit Golitzin in sein Arbeitszimmer zurück.

»Nun? wie gefällt es Ihnen bei uns?«

»Sehr gut.«

»Wir sind aber noch alle Kinder? wenn die Kinder zu viel Lärm machen, bekommen sie die Rute? Nicht wahr?«

»Das habe ich nicht gesagt,« erwiderte Golitzin lächelnd. Er war erstaunt, wie leicht Rylejew seine Gedanken erraten hatte.

»Aber Sie denken es sich, nicht wahr? Gestehen Sie es nur! Was soll man aber tun? Wenn der Russe dreißig Jahre alt wird, so kann man mit ihm nichts mehr anfangen. Die Revolution kann bei uns nur von Kindern gemacht werden. Was aber die Rute betrifft ... Wo haben Sie Ihre Erziehung genossen?«

»In der Pension des Abbé Nicolas.«

»Ach so, dann wissen Sie auch nichts von der Rute. Wir armen Sünder wurden im Kadettenkorps erbarmungslos geprügelt. Ich habe wohl das Meiste abbekommen, denn ich war wirklich wild und ausgelassen. Habe mich aber schließlich daran gewöhnt. Während der Züchtigung gab ich keinen Ton von mir, biß mir nur die Hände blutig. Und wenn die Exekution vorbei war, wurde ich erst recht grob. Sie konnten mich totschlagen, – Angst hatte ich nie. Das war die echte Rebellion. So sollte man auch mit der russischen Regierung umgehen. Die ganze Revolution besteht in dem einen Worte: Wage!«

»Sie haben in allen Ecken Lämpchen,« sagte Golitzin, der im Arbeitszimmer, wie im Eß- und Gastzimmer Heiligenbilder mit davor brennenden Lämpchen bemerkt hatte.

»Ja, meiner Frau gefällt es so. Warum fragen Sie?«

Golitzin erwiderte nichts, doch Rylejew erriet wieder, was er sich dachte.

»Mich stören die Lämpchen nicht. Ich glaube nicht an Gott. Ich weiß es übrigens selbst nicht, habe zu wenig darüber nachgedacht. Was jenseits liegt, berührt uns nicht. Ich glaube aber, daß es dort doch etwas geben muß ... Glauben Sie?«

»Ja.«

»So, darum haben Sie vorhin vom Teufel gesprochen ... Warum?«

»Was warum?«

»Warum soll man glauben?«

»Ich weiß es nicht. Mir scheint, daß man ohne Glauben nichts anfangen kann ...«

»Auch keine Revolution?«

»Gewiß, auch keine Revolution.«

»Ich bin zwar ungläubig, doch schwöre ich Ihnen bei Gott, daß wir in spätestens zwei Jahren eine Revolution machen!«

In seinen Augen flammte es unheimlich auf, und der widerspenstige Haarschopf stand noch ebenso unbeholfen und kindlich aufrecht, wie bei dem ausgelassenen Jungen im Kadettenkorps.

»Der Hase! Der Hase! Der Hase!« schrie plötzlich im Eßzimmer die kleine Nastenjka auf.

Der Dorfschulze Trofim hatte den versprochenen Hasen gebracht. Das Tier befreite sich aus Nastenjkas Armen und lief durch alle Zimmer. Das Kind rannte ihm nach, konnte ihn aber nicht einfangen. Der Hase verkroch sich unter den Tisch im Eßzimmer. Es entstand ein fürchterliches Durcheinander. Küchel kroch wie eine langbeinige Mücke auf dem Boden herum, geriet unter das Tischtuch, stieß sich an den Tischbeinen, fiel hin und warf dabei beinahe den Tisch um; der Hase sprang aber über seinen Kopf weg, rannte ins Gastzimmer und versteckte sich unter Glafiras Röcken. Diese zog ihre Füße hoch und begann wahnsinnig zu schreien. Im Getümmel wurde der Schal vom Vogelbauer heruntergerissen, und die Kanarienvögel begannen so laut zu schmettern, als ob sie alle überschreien wollten. Durchs offene Fenster hörte man das sonntägliche Glockengeläute und das frohe lenzliche Klirren des gesprengten Eises, – ein Lied von der ewigen Freiheit.

»Die lieben Kinder!« sagte sich Fürst Valerian. »Wer weiß? Vielleicht soll es so sein? Ewige Freiheit – ewiges Kindesalter?«

Das Sonnenlicht bildete auf dem Fußboden schiefe leuchtende Rechtecke, die vom schwarzen Schatten der starken, an ein Gefängnis erinnernden Gitterstäbe durchquert waren. Golitzin dachte, daß die Freiheit der Sonne gleiche und die Sklaverei – dem schwarzen Schatten der Gitterstäbe, den selbst Nastenjkas Beinchen mit Leichtigkeit überschreiten konnten.


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