Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Teil.


I.

Kaiserin Jelisaweta Alexejewna stand vor dem Spiegel und steckte sich einen Kopfputz mit einem Paradiesvogel, ein Geschenk des Gatten, an. Solcher Kopfputz war vor zehn Jahren modern; was aber dem Kaiser gefiel, hielt sie für ewige Mode.

Sie putzte sich wie ein verliebtes junges Mädchen. Sie dachte selbst daran und wurde rot, indem sie sich im Spiegel betrachtete.

»Kann denn eine solche noch gefallen? Eine alte böse Deutsche. Die Nasenspitze ist rot wie bei allen alten weinerlichen Weibern. Es kommt daher, daß ich, wenn ich weine, mich zu oft schneuze. Die zusammengepreßten Lippen geben dem Gesicht den Ausdruck eines Opfertieres ...«

Sie wandte sich geärgert vom Spiegel weg und begab sich ins Arbeitszimmer. In der gemütlichen Ecke am Kamin, wo es weiche Möbel, kleine Tischchen und Paravents gab, war das Teegeschirr vorbereitet: sie erwartete den Kaiser zum Abendtee. Sie sah nach, ob der Tee ordentlich aufgebrüht war, ob Aniskringel und Konfitüren und alles, was er liebte, bereit war. Auf einem anderen Tischchen lagen Karten, ein Hölzchenspiel und ein Damenspiel bereit: zuweilen spielte er Ecarté oder Mouche. Sie vertauschte den rosa Lampenschirm mit einem grünen, denn Grün war seine Lieblingsfarbe.

Sie setzte sich an den Kamin und versank in Gedanken.

Jetzt, als sie nicht mehr vor dem Spiegel stand, war ihr Gesicht wirklich schön. In ihrer Jugend wurde sie oft Psyche genannt. Sie hatte damals kindliche Augen mit einem Ausdruck von Erstaunen, kindliche steil abfallende Schultern und einen kindlichen schlanken Hals, der unter der allzu schweren Last der goldenen Haare einem sich unter der Last der Blüte biegenden Stengel glich. Jene jugendliche Anmut war verwelkt. Jetzt war sie aber von einer anderen, unverwelklichen Anmut: wenn die erste wie Musik war, so glich die jetzige der auf die Musik folgenden Stille.

Sie fragte sich, warum sie der Kaiser in der letzten Zeit so oft aufsuchte. Sie wußte aus Erfahrung, daß er, wenn es ihm gut ging, sie nie brauchte. Sie hatte sich an diesen Zustand so sehr gewöhnt, daß sie sich jedesmal, wenn er sich ihr näherte, fragte: »Warum? Was hat er?« Sie erriet auch jedesmal die Ursache. Dieses Mal konnte sie aber nichts erraten; sie fühlte nur, daß es etwas für ihn und für sie gleich Schreckliches war. Sie dachte an das milde, gleichsam verschämte Lächeln, mit dem er während seiner letzten Krankheit zu sagen pflegte:

»Ich weiß nicht, ob meine Krankheit so schwer ist, oder ich schon so alt bin, aber ich habe nicht mehr die Kraft, gegen die Krankheit anzukämpfen.«

Sie dachte auch an die Worte, die er an den Fürsten Wassiltschikow bei seiner Genesung richtete:

»Ich bin gut davongekommen; eigentlich wäre ich gar nicht abgeneigt, die Last der Krone, die mich so sehr bedrückt, von mir zu werfen.«

Er wäre bereit, diese Last zugleich mit der des Lebens von sich zu werfen.

Je länger sie daran dachte, um so größer wurde ihre Angst. Sie wußte, daß er von selbst nie davon sprechen würde; wenn sie aber selbst das Gespräch darauf brächte, könnte es noch schlimmer werden.

Sie hörte seine Schritte und errötete wieder wie ein verliebtes junges Mädchen. Er trat ein, küßte ihr die Hand, und sie küßte ihn auf die Stirne.

»Es war mir wirklich nicht leicht, durchzubrennen! Es gab heute eine Familientafel im Anitschkow-Palais,« sagte er französisch, wie immer, wenn er mit ihr sprach. »Mamachen verfolgt mich heute den ganzen Tag. Im letzten Augenblick ließ ich ihnen sagen, daß ich nicht kommen werde; sonst hätten sie mich nicht fortgelassen ... Und wie geht es Ihnen?«

»Nicht schlecht. Am Tage hatte ich, wie mir scheint, kein Fieber; auch, huste ich weniger.«

»Gott sei Dank! Sie müssen sich noch sehr in acht nehmen; Sie dürfen nicht ausfahren, das Wetter ist schrecklich: es ist feucht, und vom Meere her weht ein heftiger Wind. Das Wasser ist gestiegen; vielleicht wird es noch eine Überschwemmung geben ...«

Sie tranken Tee, spielten Dame und unterhielten sich über verschiedene kleine Hofintrigen und Ereignisse. Sie gab sich Mühe, heiter zu scheinen.

Die Rede kam auf den letzten Familienzwist: die Kaiserinmutter hatte die halbverrückte alte Hofdame Protassowa, der Kaiserin zum Trotz, in ihren Schutz genommen.

»Wenn Sie nur wüßten, mein Freund, wie mich diese ewigen Zwistigkeiten ermüden! Mamachen, Nixe, Michel und Alexandrine, – alle sind sie gegen mich. Es ist eine richtige Verschwörung ...«

»Lassen Sie es, Lise, denken Sie nicht daran. Was kümmern Sie sich um sie? Sie wissen ja: je schlimmer sie sich Ihnen gegenüber benehmen, um so freundschaftlicher bin ich Ihnen gesinnt ...«

»Das ist es eben, was sie mir nicht verzeihen können! Sie wollen alles tun, um mich in Ihren Augen herabzusetzen. Besonders Mamachen. Was habe ich ihnen getan? Warum dieser Haß? ...«

Sie sprachen von der Verwandtschaft, wie man von Fremden, beinahe von Feinden spricht. Des Menschen Feinde sind sein eigen Hausgesinde; diese Worte der Schrift waren ihnen wohl verständlich.

»Glauben Sie, Lise, denn wirklich, daß mich jemand beeinflussen kann?« sagte er freundlich, ihre Hand ergreifend.

Sie schlug die Augen nieder und schwieg.

»Sie glauben mir nicht?« sagte er noch freundlicher.

»Ich glaube Ihnen; wenn es mir aber so schwer ums Herz ist, so ist es nicht meine Schuld ...«

»Wessen Schuld? Sagen Sie mir doch alles, Lise, um Gottes willen.«

»Ich erfahre zuweilen von anderen, was ich eigentlich aus Ihrem Munde erfahren sollte,« sagte sie, die Augen entschlossen auf ihn richtend.

»Was denn?«

»Ich meine die Verzichtleistung.«

»Wie oft habe ich schon mit Ihnen davon gesprochen, haben Sie es denn vergessen?«

»Sie haben nur gescherzt.«

»Es war doch nicht alles Scherz.«

»Ja, es war nicht alles Scherz: Konstantin hat schon verzichtet – und Nikolai ist Thronfolger.«

»Woher wissen Sie es? Es ist noch nichts beschlossen. Vielleicht, nach meinem Tode ...«

»Nein, noch bei Ihren Lebzeiten. So haben Sie es ihnen gesagt. Mamachen hat mich neulich gefragt, ob Sie mir nichts gezeigt hätten. Folglich ist etwas dabei ...«

Über das Hölzchenspiel gebeugt, bemühte er sich, ein winziges Fäßchen herauszufischen.

»Dies alles ist doch so langweilig, meine Liebe. Sie wissen ja, daß ich mit Ihnen nie von Politik spreche ...«

»Hier handelt es sich nicht um Politik, sondern um unser beider Schicksal, wie konnten Sie etwas beschließen, ohne es mir zu sagen? Den anderen sagen Sie alles, vor mir verheimlichen Sie es ...«

»Jetzt wissen Sie es also, Lise. Sind Sie denn nicht froh? Denken Sie sich nur: wir werden in Freiheit Seite an Seite leben, wie wir es uns in unserer Jugend ausgemalt haben ...«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, dies ist es nicht. Sie wollen es mir nicht sagen, doch ich weiß alles. Es ist auch etwas anderes im Spiele ...«

»Was ist im Spiele? Was wissen Sie?« fragte er leise und blickte sie schweigend und durchdringend an; er warf die Hölzchen des Spieles durcheinander, wandte sich ab und begann die Glut im Kamin zu schüren.

»Die Geheime Gesellschaft,« sagte sie ebenso leise, die Augen auf ihn gerichtet.

Er blickte sie rasch an. Sein Gesicht verzerrte sich wie vor plötzlichem Schmerz; über seine Züge huschte der unglückliche und feige Ausdruck eines Menschen, der den Verstand verliert, sich dessen bewußt ist und fürchtet, daß es auch die anderen merken können.

»Dummer Klatsch!« sagte er ganz ruhig, mit wiedergewonnener Selbstbeherrschung. Er erhob sich, ging einmal durch das Zimmer, nahm ein Buch, das auf einem der Tische lag, las den Titel: »Die Fontäne von Bachtschissaraj« von Puschkin, blätterte darin und legte es wieder weg.

»Ich bitte Sie, Lise, sprechen Sie nie wieder davon, weder mit mir, noch mit jemand anderem, hören Sie?«

»Ich spreche mit niemand davon, aber die anderen sprechen mit mir,« erwiderte sie erbleichend.

Ein altes Leid schmerzte in ihrer Seele wie eine alte Wunde. Sie wußte ja längst, daß ihre Briefe, wie auch die Briefe aller anderen Mitglieder der kaiserlichen Familie von der Geheimpolizei abgefangen und vom Kaiser gelesen wurden; sie konnte sich nie entschließen, mit ihm davon zu sprechen, denn sie schämte sich zu sehr; diese noch von Kaiser Paul eingeführte Sitte erschien ihr gemein. Jetzt fiel sie ihr aber wieder ein, und sie dachte, daß er sie jetzt wohl mit den gleichen Augen anblickte, mit denen er die abgefangenen Briefe lesen mochte. Sie hatte sich ihm zum tausendstenmal anvertraut und sich zum tausendstenmal betrogen gesehen; und es tat ihr noch immer ebenso weh, wie beim erstenmal. Während der dreißig Jahre hat sie sich nicht daran gewöhnen können, und sie wird sich auch nie daran gewöhnen.

»Wer war es? Wer hat es Ihnen gesagt?« wiederholte er immer eindringlicher und immer argwöhnischer. »Ich muß es wissen, Lise. Seien Sie doch vernünftig. Ich bitte Sie, wenn Sie mich lieben ...«

Wieder huschte über seine Züge der gleiche Ausdruck von gemeiner Feigheit; »ja, es ist gemein!« sagte sie sich empört. War es denn keine Gemeinheit, sie so auszufragen und mit den Blicken eines Geheimpolizisten auszuforschen?

Sie wandte sich ab und machte sich am Teetisch zu schaffen. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie eine Tasse fallen ließ. Sie begann zu weinen.

»Was haben Sie, Lise? Warum weinen Sie? Sie haben mich mißverstanden. Ich wollte ja schon längst mit Ihnen darüber sprechen. Sie sind aber krank, und ich wollte nicht ...«

»Ist es denn so besser?« rief sie betrübt aus. »Es kann ja gar nicht schlimmer werden, als es schon ist! Darum bin ich auch krank. Sie schweigen, und ich ... Sehen Sie denn nicht selbst, daß es über meine Kraft geht! ...«

Er ging auf sie zu und kniete vor ihr nieder.

»Lassen Sie es, Lise, ich bitte Sie, um Gottes willen ...« stammelte er, ihre Hände küssend. »Glauben Sie, daß ich es Ihnen verschwiegen hätte, wenn es wirklich etwas gäbe? Es gibt aber wirklich nichts, was uns beunruhigen könnte; ich weiß wenigstens nichts davon. Vielleicht wissen Sie mehr als ich? Ich habe mich schon manchmal gefragt, ob nicht auch höherstehende Personen an der Sache beteiligt sind ...« fügte er listig hinzu.

Sie hörte plötzlich zu weinen auf; sie dachte nicht mehr an sich, sondern nur an ihn, an die ihm drohende Gefahr.

»Ich weiß es von Karamsin und auch von meinem Sekretär Longinow. Ich glaube aber, daß es auch die andern wissen ...«

Sie erzählte ihm alles, was sie wußte. Als sie zu Ende war, blickte er sie lächelnd an und sagte:

»Wie können Sie sich nur wegen solcher Dummheiten aufregen! ...«

Er suchte sie zu trösten und zu beruhigen. Er sagte ihr, daß ihm schon alles längst bekannt sei, daß er alle Fäden der Verschwörung in der Hand habe, daß es ihm ein leichtes gewesen wäre, die Verschwörer zu vernichten; wenn er noch zögere, so doch nur aus dem Grunde, daß ihm diese Unglücklichen, »deren Verirrungen die Verirrungen unseres Zeitalters sind« leid täten, daß er erwarte, sie würden noch selbst ihr Beginnen bereuen, und daß im übrigen alle Maßregeln ergriffen seien und keinerlei Gefahr drohe.

Er sagte dies so aufrichtig, daß sie ihm beinahe glaubte; sie glaubte nur mit ihrer Vernunft, mit dem Herzen wußte sie aber, daß er log. Sie sah in seinen Augen jene Klarheit, die sie immer fürchtete; die Augen waren heiter und durchsichtig und doch undurchdringlich, wie bei einer Frau, wenn sie lügt. Doch sie hatte nicht die Kraft, gegen die Lüge zu kämpfen; sie war zu allem bereit, um nur nicht wieder jenen Ausdruck von gemeiner Feigheit, der vorhin über sein Gesicht huschte, sehen zu müssen. Sie war erschöpft und mußte sich bezwingen.

Sie dachte, daß er vielleicht auch recht hatte, wenn er nicht bei ihr Hilfe suchte: wie könnte sie auch jemandem helfen, wenn sie selbst so schwach war, daß sie sich nur mit Mühe aufrecht hielt?

Sie erwiderte nichts und sah ihn nur so an, daß er wieder an die milden Augen des totgehetzten Pferdes denken mußte, das auf der Peterhofer Landstraße, die Schnauze in den Staub gewühlt, mit blutigem Schaum auf dem Gebiß, verendete.

»Wissen Sie, Lise, was mich am meisten quält? Allen, die ich liebe, bringe ich Unglück ...« Als er dies sagte, fühlte sie, daß er die Wahrheit sprach.

»Sie bringen Unglück?«

»Ja. Sophies Tod, Ihre Krankheit, – alles kommt von mir. Dies kann ich mir nie verzeihen. Es gibt keine größere Qual im Leben, als zu wissen, daß man lieben konnte und doch nicht geliebt hat. So schrecklich ist der Gedanke, Lise, daß man es nicht ungeschehen machen, daß man es durch nichts abbüßen kann!  ... Und doch werde ich im letzten Augenblick zu Ihnen kommen, und Sie werden mich dann doch ...?«

Sie ließ ihn nicht ausreden. Sie umschlang seinen Kopf mit beiden Armen und drückte ihn an ihre Brust, ganz ohne Worte und ohne Tränen, denn sie fühlte, daß dieser Augenblick sie für alles Geschehene und Kommende entschädigte.

An der Türe wurde leise geklopft; sie hörten es aber nicht. Die Türe ging etwas auf.

»Majestät ...«

Sie sprangen beide auf, wie überraschte Liebhaber.

»Wer ist da?« rief sie. »Ich habe ja befohlen ... Gott, was ist denn los? Herein!«

»Euere Majestät, es ist Ihre kaiserliche Majestät, die Kaiserin Maria Fjdorowna,« meldete die Hofdame Walujewa.

Die Kaiserin warf ihrem Mann einen verzweifelten Blick zu; er verzog das Gesicht. Die Walujewa betrachtete sie neugierig und aufmerksam wie ein Jagdhund auf dem Anstand.

»Warum stehen Sie so da? Kennen Sie Ihre Pflichten nicht?« schrie die Kaiserin sie an. »Melden Sie Ihrer Majestät, daß ich bitten lasse.«

»Fürchten Sie nicht, Lise, ich werde sie bald abfertigen; ich werde ihr sagen, daß Sie krank sind, und fertig.«

Die Kaiserin zog sich in ihr Ankleidezimmer zurück.

»Da sind Sie also, Alexandre! Wir suchen Sie überall und fragen uns, wo Sie sich versteckt haben,« sagte die Kaiserin Maria Fjdorowna, das Zimmer betretend.

Trotz ihrer fünfundsechzig Jahre war sie noch frisch, glatt, rosig und knusperig, wie eine gut durchgebackene Semmel aus einer deutschen Bäckerei. Sie war wohlbeleibt und so fest geschnürt, daß das Kleid auf ihrem runden Rücken zu platzen drohte. Das ganze Gesicht bestand aus freundlich lächelnden Grübchen, die sich aber zuweilen auch mit süßem Gift füllten. Sie war immer in der Eile und pressiert, »als ob sie zu einer Feuersbrunst eilte«, wie ihr seliger Gemahl, Kaiser Paul zu sagen pflegte.

»Ich komme ja nicht allein, Alexandre: wir kommen zu Ihnen alle en famille. Nixe, Michel, Alexandrine, Helene und Marie kommen auch gleich her. Sie müssen es mir, mein Lieber, verzeihen: ich habe es ihnen erlaubt; von selbst wagen sie nicht herzukommen, und auch ich wage nicht, hier unangemeldet zu erscheinen. Wir haben uns so sehr nach Ihnen gesehnt! ...« schnatterte sie in ihrem schlechten Französisch mit starkem deutschen Akzent. »Wo steckt sie denn? Wo ist Lise? ...«

Die lächelnden Grübchen füllten sich plötzlich mit süßem Gift.

»Ich glaube, ich komme ungelegen? Wenn ich störe, so sagen Sie es mir, mein Freund, ganz ungeniert ...«

»Aber ich bitte Sie, Mama! Lise freut sich immer, wenn Sie sie besuchen. Sie ist nur für einen Augenblick ins Ankleidezimmer gegangen. Da kommt sie schon.«

Die Kaiserin trat ein. Die Kaiserinmutter begrüßte sie mit einem langen schmatzenden verwandtschaftlichen Kuß.

»Nun, wie geht es? Was macht Ihre Gesundheit? Es geht Ihnen doch gut? Wir kommen zu Ihnen alle en famille, um mit Ihnen den Abend zu verbringen ... Aber, meine Liebe, wie können Sie nur so nahe am Feuer stehen! Wie oft habe ich es Ihnen gesagt: hier ist der Kamin und hier das Fenster; sie stehen gerade im Zuge, und daher erkälten Sie sich fortwährend.«

»Es macht nichts, Mamachen, ich bin es gewohnt.«

»Nein, nein, gehen Sie vom Kamin weg! So. Wo ist der Schal? Sie müssen sich in acht nehmen. Wie lautet noch das russische Sprichwort: wer sich schont, den schont auch Gott ... Was ist nun das, meine Liebe, Sie haben, wie mir scheint, wieder abgenommen? Sie ärgern sich zu oft, sind immer verstimmt, denken zu viel und essen zu wenig. Wie oft habe ich es Ihnen gesagt: Sie müssen weichgekochte Eier essen, viele, viele Eier ... drei Eier zum Frühstück, drei Eier zu Mittag und drei Eier zum Nachtmahl. Und dann werden Sie so gesund sein, wie ich ...«

Vor diesem Geschnatter wurde es der Kaiserin finster vor den Augen; in der linken Schläfe stellte sich wieder der gewohnte dumpfe Schmerz ein, und im Kopfe ging eine Kaffeemühle. Sie durfte es aber nicht zeigen; sie mußte ruhig dasitzen und geduldig warten, bis alles zu Ende war.

Im Nebenzimmer erschollen Schritte und Stimmen.

»Das sind sie. Hierher, hierher, Kinder!« rief Mamachen.

Die Großfürsten Nikolai Pawlowitsch und Michail Pawlowitsch und die Großfürstinnen Alexandra Fjdorowna, Jelena Pawlowna und Maria Pawlowna betraten zugleich das Zimmer. Sie küßten alle den Bruder und die Schwägerin und nahmen Platz. Die Kaiserinmutter sprach ganz allein unaufhörlich und unermüdlich. Der Kaiser mußte jede Hoffnung, sie abzufertigen, ausgeben.

Allen war es ungemütlich, und man langweilte sich tödlich. Die Großfürstinnen saßen traurig und stumm, die Großfürsten in würdiger Haltung mit langen Gesichtern. Nikolai Pawlowitsch, oder Nixe, wie man ihn im Familienkreise nannte, war hager und schlank wie eine Tanne; sein Gesicht mit den ungewöhnlich regelmäßigen Zügen hatte einen so bösen Ausdruck, als ob er ewig beleidigt wäre. »Apollo, der Zahnschmerzen hat« hatte von ihm jemand gesagt. Michail Pawlowitsch oder Michel war gutmütig und plump wie ein Bär, der nur eines kann: zu den Tönen einer Trommel tanzen.

»Nixe, Michel, wo seid ihr denn?« blickte sich Mamachen nach ihnen um. »Ihr seid wirklich unerträglich! Sie verkriechen sich immer in eine Ecke, sprechen kein Wort und blicken finster drein. Sie haben vor Ihnen Angst, Lise. Bei mir in Pawlowsk sind sie aber so ausgelassen, daß man sie gar nicht bändigen kann ... Auf, Kavaliere, unterhaltet doch eure Damen! Alexandrine, Hélène, ihr Armen, wie ungalant sind eure Männer!«

Die beiden Großfürsten standen wie auf Kommando auf. In Gegenwart des älteren Bruders benahmen sie sich wie zwei Kadetten, die auf Urlaub zu Hause sind.

»Was soll ich mit ihnen anfangen? Es ist ein wahres Unglück. Ich kann mit ihnen nicht mehr fertig werden,« fuhr Mamachen fort. »Die Manege und die Wachtparade sind ihre einzigen Interessen. Ihr werdet ja, Kinder, doch nicht in der Kaserne wohnen; ihr müßt euch auch an die Gesellschaft gewöhnen ... Sie sollten doch, Alexandre, sie etwas erziehen! Sie haben, Gott sei Dank, eine andere Erziehung genossen: Sie waren ja einmal der bestrickendste Kavalier, und auch heute können Sie es noch mit jedem aufnehmen. Nicht wahr, Lise, man kann sich doch in ihn noch immer verlieben? Warum schauen Sie mich so an? Habe ich etwas Dummes gesagt? Sie müssen es mir verzeihen, meine Liebe, ich spreche immer so, wie ich denke. Eine Frau, die nach dreißigjähriger Ehe noch immer in ihren Mann verliebt ist, ist heutzutage eine Seltenheit. Die anderen mögen lachen, ich bin aber darüber glücklich, wenn ich das Glück meiner Kinder sehe, bin ich selbst glücklich. Sie, mein lieber Alexandre, sind ja mein Alles, mein Alles! ...« sagte sie, die Augen verdrehend.

Die Kaiserin hörte nichts mehr; der dumpfe Schmerz in der linken Schläfe war unerträglich, und im Kopfe ging unaufhörlich die Kaffeemühle. Sie war so blaß geworden, daß der Kaiser fürchtete, sie werde das Bewußtsein verlieren.

»Mamachen, Lise ist müde. Die Arzte wollen, daß sie früh zu Bett geht,« sagte er und stand entschlossen auf; er hatte eingesehen, daß sie ohne ihn nicht gehen würden.

»Mein Gott, Lise, haben wir Sie wirklich ermüdet?«

»Nein, Mamachen, durchaus nicht. Warum gehen Sie schon? Bleiben Sie doch noch etwas da ...«

»Nein, es geht nicht: der Gatte will es nicht haben, und dem Gatten muß man gehorchen. Ich habe gedacht, daß wir den Abend zusammen verbringen, plaudern und ein petit-jeu spielen. Nixe würde uns eine Charade vorstellen, wie neulich in Pawlowsk. Wir haben damals so gelacht! Er stellt sich hier nur so, als ob er nicht bis drei zählen könnte; wenn er will, kann er sehr unterhaltend sein. Wie war es noch, Nixe? Mein Erstes ist – › Cor‹ ...«

»Ja, Mamachen, Cor – ein Jägerhorn.«

»Ja, ja, und dabei tutete er mit den Lippen wie aus einem Horn ... Mein Zweites ist – › pue‹ ...«

» Pue – es stinkt,« half ihr Nixe nach.

»Ja, ja, dabei hielt er sich die Nase zu und verzog das Gesicht, wie vor schlechtem Geruch ... Und mein Drittes ist – › lance‹ – die Lanze: er nahm ein Billardqueue und fuchtelte damit über dem Kopfe der alten Nelidowa herum, so daß sie vor Angst aufschrie. Das Ganze ist – › Cor-pu-lence‹ – Korpulenz: er band sich vorne und hinten Kissen an und wackelte mit großer Mühe durchs Zimmer. Es ist doch nett, nicht wahr?«

Der Kaiserin war es, als ob sie gleich ohnmächtig werden müßte.

»Gehen wir, Kinder. Sie haben uns doch satt, Lise, nicht wahr? Wie heißt es noch russisch: Ein ungebetener Gast ist schlimmer als ... als was, Nixe?«

»Schlimmer als ein Tatare, Mamachen.«

»Ja, schlimmer als ein Tatare.«

Die lächelnden Grübchen füllten sich wieder mit süßem Gift.

»Leben Sie wohl, meine Liebe,« sagte sie, sich an ihren Lippen festsaugend. »Erholen Sie sich bald, seien Sie vernünftig. Sie müssen so gesund werden wie ich! Vergessen Sie die Eier nicht: drei Eier zum Frühstück, drei zu Mittag und drei zum Nachtmahl ...«

Endlich gingen sie. Der Kaiser ging mit, um sie nicht Zu verletzen.

Als alle fort waren, fiel die Kaiserin aufs Sofa und lag lange regungslos mit geschlossenen Augen wie in einer Ohnmacht. Dann läutete sie dem Kammermädchen und ließ sich den Kopfputz mit dem Paradiesvogel abnehmen und aromatischen Essig bringen. Sie befeuchtete sich damit die Schläfen und atmete seinen Geruch ein. Ihr ganzer Körper war wie zerschlagen, im Kopfe ging die Kaffeemühle.

Sie ging zu Bett. Als sie die Kerze ausblies, fiel ihr das Gespräch mit dem Kaiser ein, und ein Grauen überkam sie: wie konnte sie ihm glauben, oder sich so stellen, als ob sie ihm glaubte?

Plötzlich sah sie es so klar wie noch nie, daß er verloren sei und daß sie ihn nicht retten könne.


 << zurück weiter >>