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Fünfter Teil.


I.

Fürst Valerian Michailowitsch Golitzin kam nachts in die kleine, dreißig Werst von Kiew entfernte Stadt Wassilkow, übernachtete in einem schlechten jüdischen Gasthof und mietete sich am nächsten Morgen beim Kosaken Omelko Barabasch ein.

»Dies ist meine Hütte, gnädiger Herr,« sagte der Hausherr freundlich und würdevoll, den Gast in die gute Stube einladend. »Hier sind meine Hühner, hier ist mein Kalb, hier ist meine Bienenzucht, und vor der Haustüre wächst das Korn: man kann gleich an der Schwelle mähen; auf allem ruht göttlicher Segen! Was meine Frau betrifft, so versteht sie eine Rübensuppe zu kochen, die selbst der Herr Stadthauptmann nicht verschmähen würde: sie war bei Herrschaften in Dienst und kennt alle herrschaftlichen Gewohnheiten.«

Golitzin sah das weiße Häuschen mit einem Storchennest auf dem Strohdache, den schönen schattigen Kirschgarten, mit einzelnen durch den Wind verpflanzten Feldblumen, die weißen Bienenstöcke und mußte zugeben, daß hier wirklich göttlicher Segen ruhte.

Im Innern war es noch schöner: die Wände waren weiß getüncht, der tönerne Fußboden sauber gekehrt, in einer Ecke stand ein schön bemalter Ofen, auf dem ein Kater schnurrte und Tauben girrten; das Bild der Mutter Gottes von Meschigorod war mit trockenen Blumen geschmückt: mit gelben und roten Feldblumen und Immergrün.

Als ihm die braune Katrussja einen Krug kaltes Wasser vom Brunnen brachte und die alte Großmutter Dundutschicha, Omelkos Mutter, die Bank mit ihrem Kopftuche abwischte, und den Gast aufforderte, Platz zu nehmen, fühlte er sich schon ganz wie zu Hause. Die Alte musterte ihn aufmerksam mit ihren schwachen Augen und fragte:

»Du bist wohl nicht von hier?«

Das ganze Städtchen erfuhr natürlich sofort von Golitzins Ankunft. Am gleichen Abend erschien bei ihm der Leutnant des Poltawschen Infanterieregiments Michail Pawlowitsch Bestuschew-Rjumin, ein junger, kaum zweiundzwanzigjähriger Offizier, um ihn zum Direktor der Wassikowschen Sektion des Südbundes der Geheimen Gesellschaft, dem Oberstleutnant Ssergej Iwanowitsch Murawjow-Apostol einzuladen. Bei Murawjow waren, wie er sagte, gerade zwei Mitglieder eines neuen Geheimbundes – der »Slaven« –, den die Mitglieder der Geheimen Gesellschaft noch gar nicht kannten, anwesend, um über eine Verschmelzung ihres Bundes mit dem Südbunde der Geheimen Gesellschaft zu verhandeln. Murawjow wollte, daß Golitzin als Vertreter des Nordbundes diesen Verhandlungen beiwohne.

Murawjow wohnte auf dem Domplatze in einem baufälligen hölzernen Häuschen mit weißen Säulen. Der Hausherr und seine beiden Gäste, die Artillerieleutnants Iwan Iwanowitsch Gorbatschewskij und Pjotr Iwanowitsch Borissow, saßen im Garten vor dem Hause und tranken Tee. Im Garten gab es einen kleinen schilfüberwucherten Fischteich, Bienenstöcke und Gemüsebeete; die Luft war gegen Abend angenehm frisch, und es roch nach Fenchel, Minze, reifen Melonen und Honig.

»Wir haben folgenden Plan,« sagte Bestuschew. »Im nächsten Jahre, 1826, während der allerhöchsten Truppenschau im 3. Armeekorps, werden einige Mitglieder der Gesellschaft, als Soldaten verkleidet, bei der Ablösung der Wache in das Schlafzimmer des Kaisers eindringen und ihn töten. Zur gleichen Zeit wird der Nordbund der Gesellschaft in Petersburg einen Aufstand hervorrufen, die kaiserliche Familie ins Ausland abschieben und in zwei Manifesten – an die Armee und an das Volk – eine provisorische Regierung proklamieren. Pestel, der Direktor der Tultschinschen Sektion wird die 2. Armee aufwiegeln, Kiew besetzen und das erste Lager aufschlagen. Ich befehlige das 3. Korps, marschiere gegen Moskau, wobei ich unterwegs alle anderen Regimenter überrede, sich mir anzuschließen, und schlage in Moskau das zweite Lager auf. Ssergej Iwanowitsch geht nach Petersburg; die Gesellschaft betraut ihn mit dem Kommando der Gardetruppen, und hier wird das dritte Lager aufgeschlagen. Wir haben dann drei befestigte Lager: Petersburg, Moskau und Kiew – und ganz Rußland ist in unseren Händen.«

Wenn der kleine, unansehnliche, rothaarige und sommersprossige Bestuschew sprach, war er ganz verändert: er schien größer, sein Gesicht schien klüger und schöner, die Augen brannten und der rote Haarschopf auf dem Scheitel loderte wie eine Feuerzunge. Er glaubte an seinen Traum, wie an eine Wirklichkeit und beseelte auch die anderen mit diesem Glauben.

»Die reitende Artillerie ist vollkommen bereit, ebenso die Husarendivision und die Regimenter von Pensa und Tschernigow; sie können sofort einen Feldzug beginnen. Auch sind die Kommandeure der Regimenter mit allem einverstanden ... Der Volksheld Riego zog durch Spanien mit einer Schar von dreihundert Mann und erkämpfte seinem Vaterlande die Freiheit; wieviel mehr werden wir mit ganzen Regimentern ausrichten können! ... Wenn wir heute anfangen, haben wir gleich 60 000 Mann unter Waffen ...«

»Höre doch auf, Mischa! Wie kannst du von 60 000 sprechen? Ich wäre froh, wenn wir auf eintausend rechnen könnten,« unterbrach ihn Murawjow. »Iwan Iwanowitsch, Ihr Tee ist kalt geworden, darf ich Ihnen heißen eingießen? ...«

Durch diese einfachen Worte waren alle wie ernüchtert.

»Meine Herren, bei Ihnen mag ja alles fertig sein, wir sind aber noch lange nicht so weit,« sagte Gorbatschewskij mit ungläubigem Lächeln auf dem breitknochigen, trotzigen und klugen Gesichte, »Wir wollen vorsichtig aber sicher vorgehen. Es ist ja außerordentlich schwierig, die Soldaten über die Vorteile eines Umsturzes aufzuklären.«

»Klären Sie sie denn überhaupt auf?«

»Wie denn sonst? Wir sind der Ansicht, daß man vor ihnen nichts verheimlichen darf.«

»Wir sind anderer Meinung,« entgegnete Bestuschew. »Wir wollen die Soldaten als Werkzeug gebrauchen, sie sollen aber nichts wissen. Kann man denn mit ihnen von Politik sprechen? Sie wissen ja selbst, was für Menschen die russischen Soldaten sind.«

»Wir wissen, daß es ebensolche Menschen sind, wie die anderen: alle stammen von Adams Rippe ab,« sagte Gorbatschewskij ernst. »Wir sind ja auch nicht von Adel und bilden uns gar nicht ein, große Herren zu sein. Wir sind nicht nur theoretisch Demokraten, wir wollen es auch praktisch sein. Wenn man schon eine Gleichheit anstrebt, so soll es eine absolute Gleichheit sein. Mit dem Volke kann man alles erreichen, ohne Volk – nichts. Das ist unsere erste Regel,« schloß er herausfordernd.

Gorbatschewskij, der Sohn eines armen Dorfgeistlichen und der Enkel eines Saporoger Kosaken, glaubte das Recht zu haben, so zu sprechen.

Als er seine Rede schloß, trat ein peinliches Schweigen ein, und alle sahen den Abgrund, der die beiden Geheimen Gesellschaften voneinander trennte: bei der einen waren lauter vornehme und reiche Herren, meistens Gardeoffiziere, Generäle und Regimentskommandeure; bei der anderen – arme, aus kleinen Verhältnissen stammende Leutnants und Fähnriche von der Linie. Bei der einen Gesellschaft war Adel, bei der anderen gemeines Volk.

Pjotr Iwanowitsch Borissow saß die ganze Zeit bescheiden in einer Ecke, rauchte seine Pfeife und sagte kein Wort. Er war so farblos, gleichsam verschossen, daß man gespannt hinsehen mußte, um sein hageres, mit vorzeitigen Runzeln bedecktes Gesicht, seine großen, etwas hervorstehenden, weniger traurigen als stillen Augen, das blonde dünne Haar, die schmalen Schultern und die eingefallene Brust zu bemerken. Er hüstelte oft und trocken wie ein Schwindsüchtiger, wobei er jedesmal verlegen wurde und den Mund mit der Hand verdeckte.

Als alle schwiegen, hob er plötzlich die Augen, lächelte, als ob er etwas sagen wollte; er errötete aber sofort, hüstelte und sagte nichts.

»Mir scheint, meine Herren, daß Sie einander nicht verstehen,« sagte Murawjow.

Murawjows Gesicht kam Golitzin, wie es oft der Fall ist, wenn man zu viel von einem Menschen erwartet, nicht sehr bedeutend vor. Er war wohl dreißig Jahre alt, schien aber jünger. Er hatte feine, unregelmäßige, beinahe weibliche Gesichtszüge: die Augen standen zu weit auseinander; die Nase war lang und spitz; der Mund lächerlich klein wie bei einem Kinde; kindlich waren auch die zu vollen und zu frischen Wangen; die weichen, dichten, dunkelblonden Haare waren, wie es beim Militär Mode war, vom Scheitel in die Schläfen gekämmt und sträubten sich wie nach einem Bade. Das ganze Gesicht war glatt, gesund, weiß, rundlich wie ein Ei und zeigte keine einzige Furche, die auf seelische Kämpfe schließen ließe. Erst als Golitzin genauer hinsah, merkte er etwas Krankhaftes im Widerspruch zwischen den lächelnden Lippen und dem ernsten Blicke der nie lächelnden Augen; auch die etwas hervorstehende Oberlippe gab seinem Gesicht einen Ausdruck, wie man ihn bei kleinen Kindern sieht, bevor sie weinen.

Ein seltsamer Vergleich kam Golitzin in den Sinn: wenn man bei starkem Frost im Schnee einen Zweig mit jungen Frühlingsblättern sehen könnte, so würde er wohl den gleichen Eindruck von Wehrlosigkeit und Todesahnung machen, wie dieses Gesicht.

Sooft er später an ihn dachte, fielen ihm Murawjows französische Verse ein:

Je passerai sur cette terre
Toujours rêveur et solitaire
Sans que personne m'aie connu;
Ce n'est qu'au bout de ma carrière,
Que par un grand coup de lumière
On verra ce qu'on a perdu.

– Ich werde auf dieser Erde hinziehen, immer einsam und sinnend, und niemand wird mich erkennen. Erst am Ende meines Lebens wird helles Licht aufstrahlen, und dann werden die Leute sehen, wen sie in mir verloren haben. –

»Mir scheint, meine Herren, daß Sie einander nicht verstehen,« begann Murawjow französisch, fuhr aber gleich russisch fort: Gorbatschewskij hatte ihm gleich am Anfang erklärt, daß er die französische Sprache wenig beherrsche, und ihn ersucht, russisch zu sprechen. »Auch wir wissen sehr gut, daß man ohne Volk nichts ausrichten kann. Sie glauben, daß man gleich mit politischer Aufklärung beginnen solle; wir sind aber der Ansicht, daß die Soldaten heute noch nichts von Politik verstehen werden. Es gibt auch eine andere Art, vorzugehen.«

»Und das wäre?«

»Der Glaube.«

»Der Glaube an Gott?«

»Ja, an Gott.«

Gorbatschewskij schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich weiß nicht, meine Herren, wie Sie darüber denken, doch wir Slaven sind der Ansicht, daß der Glaube und die Freiheit unvereinbare Dinge sind.«

»Das ist es eben,« fiel ihm Murawjow sichtbar erfreut ins Wort. »Sie haben es sehr gut gesagt: der Glaube ist mit der Freiheit unvereinbar. So muß wirklich die Frage lauten: ob der Glaube tatsächlich mit der Freiheit unvereinbar ist?«

»Ich frage gar nicht, sondern betrachte es als selbstverständlich. Und ich glaube, daß auch alle ...«

»Ja, alle, alle,« fiel ihm wieder Murawjow ins Wort. »Alle denken so und alle sprechen so. Das ist eben jene Lüge, die das ganze Christentum durchseucht hat. Lüge bleibt aber immer Lüge, und wird nie zur Wahrheit ...«

»Erlauben Sie doch: warum ist es eine Lüge, wenn es in der Heiligen Schrift ganz klar ausgesprochen wird, daß die Könige von Gott eingesetzt sind? ...«

»Sie irren: in der Schrift steht etwas ganz anderes.«

»Wie heißt es denn?«

»Das will ich Ihnen gleich sagen. Mischa, hol einmal ...«

Er sprach nicht zu Ende, denn Bestuschew hatte bereits aus dem Zimmer eine Schatulle geholt. Murawjow schloß sie auf, suchte unter verschiedenen Schriftstücken ein eng beschriebenes Blatt hervor und reichte es Gorbatschewskij.

»Hier, lesen Sie es.«

»Ich verstehe nicht lateinisch. Es handelt sich ja auch gar nicht darum ...«

»Nein, nein, ich will es Ihnen übersetzen, hören Sie nur zu. Das 1. Buch Samuelis, Kapitel 8: ›Da versammelten sich alle Ältesten in Israel und kamen zu Samuel und sprachen zu ihm: Setze nun einen König über uns, der uns richte. – Das gefiel Samuel übel. Und Samuel betete vor dem Herrn. Der Herr sprach aber zu Samuel: Gehorche der Stimme des Volkes in allem, das sie zu dir gesagt haben; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, daß ich nicht soll König über sie sein. Verkündige ihnen das Recht des Königs. – Und Samuel sagte alle Worte des Herrn dem Volk, das von ihm einen König forderte. Und sprach: Das wird des Königs Recht sein: Eure Söhne wird er nehmen und eure Töchter wird er nehmen, dazu von eurer Saat und Weinbergen wird er den Zehnten nehmen, und ihr müsset seine Knechte sein. Wenn ihr dann schreien werdet zu der Zeit über eueren König, den ihr euch erwählet habt, so wird euch der Herr zu derselben Zeit nicht erhören.‹ – Ich glaube, daß man es gar nicht deutlicher aussprechen kann. Es ist ja gerade auf uns Russen gemünzt. Glauben Sie, daß das Volk es nicht verstände?«

»Ja, so steht es im Alten Testament; im Neuen Testament steht aber etwas ganz anderes,« entgegnete Gorbatschewskij. »Dort heißt es ja: Gehorchet euren Königen wie eurem Gott, oder so ähnlich. Ich weiß es nicht mehr genau ...«

»Wie wäre es möglich? Sagen Sie mir nur, wie könnte zwischen den beiden Offenbarungen der göttlichen Wahrheit ein Widerspruch bestehen? Wenn uns auch etwas als Widerspruch erscheint, so heißt das, daß wir die betreffende Stelle eben nicht verstehen können ...«

»Wie sollten wir es auch verstehen! Das wollen ja eben die Popen, daß man nichts verstehen kann: sie fischen in trübem Wasser,« sagte Gorbatschewskij mit dem überlegenen spöttischen Lächeln eines freigeistigen Popensohnes.

»Nein, man kann es gut verstehen!« rief Murawjow noch freudiger aus, ohne auf den Spott seines Gegners zu achten. »Selbstredend muß man sich nicht an den Buchstaben, sondern an den Geist halten. Sie belieben zu scherzen, doch das Volk versteht in diesen Dingen keinen Spaß. Die Worte: ›Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden‹ müssen doch einen Sinn haben! Sie hören doch: nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden! Wenn Er aber der einzige und wahre König im Himmel wie auf Erden ist, wie kann Er dann gegen den Aufstand der Völker sein und gegen die Absetzung der Könige, die doch Seine Gewalt geraubt haben?«

»Die Absetzung der Könige im Namen Christi!« sagte Gorbatschewskij kopfschüttelnd. »Wissen Sie was, Murawjow: ich glaube zwar nicht an Gott, doch ich denke, daß Menschen, die so sehr von religiösen Gefühlen durchdrungen sind, einen so heiligen Gegenstand nie als politisches Werkzeug gebrauchen werden ...«

»Nein, dann haben Sie mich gar nicht verstanden!« Murawjow schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen, und diese Gebärde war so rührend und kindlich, daß alle unwillkürlich lächelten, und der trennende Abgrund für einen Augenblick verschwand. »Wer gebraucht denn die Religion als politisches Werkzeug? Habe ich Ihnen nicht eben gesagt, daß wir uns mehr mit Religion befassen müssen? Die Anwendung auf die Politik wird schon von selbst kommen! Gerade bei uns in Rußland muß man sich im Falle eines Aufstandes auf die Religion als auf die sicherste Stütze verlassen können; nur das wollte ich sagen. In Rußland sind Freiheit und Religion zerstört, und beide können nur zugleich wiederhergestellt werden ...«

»Nein, meine Herren,« erklärte Gorbatschewskij sehr entschieden. »Von uns Slawen wird niemand einer solchen Handlungsweise zustimmen. Was mich betrifft, so verwerfe ich als erster diese Methode, und werde auch um nichts in der Welt dieses Blatt anrühren.« Er zeigte auf den Zettel mit dem Bibelzitat. »Vielleicht ist so etwas für die Deutschen gut, für uns taugt es aber nicht. Wer das russische Volk kennt, muß mir zustimmen, daß eine solche Handlungsweise dem Charakter dieses Volkes widerspricht. Ich bin zwar selbst Popensohn, doch ich liebe die Popen nicht. Auch das Volk liebt sie nicht. Schauen Sie sich doch nur unsere Soldaten an. Ich glaube, daß es unter ihnen mehr Ungläubige als Fanatiker gibt. Wer hat auch Lust, mit ihnen über Theologie zu disputieren? Wer hat den Mut, heute, da jede Religion endgültig vernichtet ist, als neuer Mohammed aufzutreten?«

»Das letztere bedarf noch eines Beweises,« wandte Golitzin ein.

»Was bedarf eines Beweises?«

»Daß die Religion endgültig vernichtet ist.«

»Aber, meine Herren! Muß man denn noch etwas beweisen, worüber sich doch alle aufgeklärten Menschen einig sind? Muß man denn erst beweisen, daß die Kette verderblicher Verirrungen, die das Menschengeschlecht schwächen, am Altar, der wiederum eine Stütze des Zarenthrones ist, beginnt? Daß der Glaube an das Jenseits den Zustand der Sklaverei begünstigt, indem er in den Menschen den Glauben an die Möglichkeit eines glücklichen Daseins auf Erden gar nicht aufkommen läßt? Daß die Vernunft das einzige Licht ist, dem wir folgen können, und daß es darum unsere erste Pflicht ist, den Menschen Respekt vor der Vernunft einzuflößen, damit der Mensch auf Erden vernünftig und tugendhaft sei, und die Ammenmärchen der Religion für immer aufgebe? ...«

Er sprach wie ein Buch; es waren aber lauter fremde Worte und fremde Gedanken, die er von Voltaire, Holbach, Helvetius und anderen freigeistigen Philosophen aufgeschnappt hatte.

»Eines kann ich nicht verstehen,« sagte Fürst Valerian, ihn über die Brille hinweg mit seinem feinen spöttischen Lächeln anblickend. »Sie wollen den Leuten den Glauben nehmen; was wollen Sie aber an seine Stelle setzen?«

Gorbatschewskij versuchte nun, zu beweisen, daß die Wissenschaft – die Religion und die Philosophie – Gott ersetzen könne. Murawjow und Golitzin lächelten einander zu. Gorbatschewskij bemerkte dieses Lächeln und verstummte beleidigt.

Um sein Lächeln zu verbergen, wandte sich Murawjow etwas ab und begann, Tee einzugießen. Als er Gorbatschewskij das Teeglas reichte, begegneten sich für einen Augenblick ihre Hände: die eine war groß, rot, mit spröder Haut und roten Härchen, kurzen Fingern und flachen Nägeln; die andere weiß, fein, lang, von mädchenhafter Anmut.

»Nein, sie werden einander nie verstehen!« sagte sich Golitzin.

Wieder trat eine peinliche Pause ein, und alle sahen wieder den trennenden Abgrund; Borissow wollte etwas sagen, sagte aber nichts.

Nun sprach Bestuschew. Golitzin hatte schon früher bemerkt, daß er unwillkürlich Murawjows Worte, Gebärden und selbst den Tonfall seiner Stimme nachahmte, wie es oft bei Leuten, die lange zusammenleben, der Fall ist. Man glaubte, den Einen im Anderen zu sehen und zu hören. Der Eine war der Ton, und der Andere das Echo; und das Echo entstellte den Ton.

»Der Philosoph Plato behauptet,« sagte Bestuschew, »daß es leichter sei, eine in der Luft hängende Stadt zu erbauen, als einen Staat ohne Religion zu schaffen. Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben. Christus verdanken wir die Begründung der rechtlichen und freiheitlichen Begriffe. Wer hat der Hand der Despoten die Waffe entrissen? Wer hat uns die erste Verfassung verliehen? Dies bitte ich einerseits zu beachten; andererseits aber ...«

Gorbatschewskij stand auf, zog seinen Rock an (es war so schwül, daß alle in Hemdärmeln saßen) und band sich den Säbel um.

»Ich glaube, meine Herren, wir werden wohl schwerlich eine Einigung erzielen,« sagte er, den Kopf etwas neigend, was ihm einige Ähnlichkeit mit einem eigensinnigen jungen Stier verlieh. »Wir sind einfache Menschen und verstehen solche Kunststücke nicht. Sie sprechen immer von Gott, wir sind aber der Meinung, daß die Revolutionen und Volksaufstände weniger von Gott, als vom Magen diktiert werden. Magenfragen sind viel wesentlicher ...«

»Sind es denn wirklich nur Magenfragen?« rief Murawjow aus.

»Ich weiß, ich weiß: Der Mensch lebet nicht vom Brot allein ... Und Sie, Herr Oberstleutnant, haben Sie schon einmal Hunger gelitten?«

»Ja, im Feldzuge kam es vor.«

»Das ist ja gar nichts! Wenn aber einer sein letztes Hemd versetzt und nichts zu beißen hat ... Ach, was soll ich noch davon sprechen! Der Satte wird den Hungrigen nie verstehen. Pjotr Iwanowitsch, kommen Sie mit?«

»Warum gehen Sie schon, meine Herren? Wir haben ja die Sache noch gar nicht besprochen ...« begann Bestuschew aufgeregt.

»Wir wollen es mit unseren Kameraden im Lager besprechen; wir beide können nicht für die ganze Vereinigung entscheiden,« sagte Gorbatschewskij trocken.

Murawjow ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Iwan Iwanowitsch, Sie sind mir doch nicht böse? Wenn ich etwas Ungeschicktes gesagt habe, so verzeihen Sie es mir um Gottes willen!«

In seinem Lächeln war wieder etwas so Liebes und Rührendes, daß Gorbatschewskij gleichfalls lächeln mußte und seine Hand fest drückte.

»Nein, Murawjow, was denken Sie sich nur? Wie könnte ich Ihnen böse sein? ... Pjotr Iwanowitsch! Sie, Pjotr Iwanowitsch, lassen Sie doch Ihre Pfeife in Ruhe und kommen Sie endlich mit!«

Borissow klopfte seine Pfeife aus, stopfte den Rest des Tabaks in den Beutel und verband diesen sorgfältig mit mehreren Schnüren. Plötzlich hob er den Kopf und begann zu sprechen; niemand hatte noch seine Stimme gehört. Er sprach leise, undeutlich und stotternd und gebrauchte jeden Augenblick, selbst wenn es gar keinen Sinn hatte, die Redensart: »Ich weiß wirklich nicht.«

»Sprechen Sie, bitte, nicht von Gott; ich weiß wirklich nicht ... Es ist gut, wenn man an Gott glaubt, man kann aber auch ohne Gott tugendhaft sein, und das ist noch besser. Ich bin übrigens durchaus kein Atheist. Es ist aber besser, wenn man ohne Gott auskommen kann. Sehen Sie sich nur die Juden an. Das ist ein kluges Volk: den Namen Gottes dürfen sie gar nicht aussprechen, sie reden nur von Dingen, die sie genau kennen. Ich weiß wirklich nicht ... Von Gott soll man aber besser schweigen. Schuster bleib bei deinem Leisten ...«

»Das hat er gut gesagt!« rief Gorbatschewskij lachend und klopfte Borissow auf die Schulter. »Komm doch, Philosoph, etwas Besseres bringst du ja doch nicht fertig!«

Die Gäste gingen. Bestuschew begleitete sie.

Als sie fort waren, begann Murawjow Golitzin über die Sachlage in Petersburg auszufragen. Das Gespräch kam auf den »Orthodoxen Katechismus«. Murawjow brachte das Manuskript und zeigte es dem Fürsten Valerian.

Der Katechismus begann mit folgenden Sätzen:

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Frage: Wozu hat Gott den Menschen erschaffen?

Antwort: Damit er an Ihn glaube und frei und glücklich sei.

Frage: Was heißt frei und glücklich?

Antwort: Ohne Freiheit gibt es kein Glück. Der heilige Apostel Paulus sagt: Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte.

Frage: Warum sind das russische Volk und das russische Heer so unglücklich?

Antwort: Weil die Zaren dem Volke die Freiheit geraubt haben.

Frage: Was befiehlt unser heiliges Gesetz dem russischen Volke und dem russischen Heere?

Antwort: Seinen Sklavensinn zu bereuen, sich gegen die Tyrannei und Unterdrückung zu empören und den Eid zu leisten, daß es fortan nur einen König im Himmel wie auf Erden – Jesum Christum – geben solle.«

Golitzin hatte den Katechismus noch in Petersburg kennen gelernt, doch nach dem letzten Gespräch bekam alles für ihn einen neuen Sinn.

»Sagen Sie mir doch im Ernst, Golitzin, was glauben Sie: werden es die Leute verstehen?« fragte Murawjow, als Golitzin das Manuskript zu Ende gelesen hatte.

»Ich weiß es wirklich nicht. Jetzt werden sie es vielleicht noch nicht verstehen, vielleicht aber später einmal. Jedenfalls ist es gut, daß es niedergeschrieben ist. Schreiben tut bleiben!«

Wie zur Bestätigung dessen, was er eben gelesen, erzählte er Murawjow vom Weißen Zaren, von Kaiser Peter III., in dem »der ganze Herr Zebaoth samt Händen und Füßen« enthalten sei.

»Sehen Sie, das ist es eben!« rief Murawjow freudig erregt aus. »Das Volk macht sich doch seine Gedanken! Wir sind ja wirklich nicht so dumm, wie es Gorbatschewskij glaubt. Es ist herrlich, Golitzin, daß Sie hergekommen sind! Endlich habe ich einen Menschen, dem ich mein Herz ausschütten kann; ich war ja immer allein ...«

Als Golitzin ihm zum Abschied die Hand reichte, behielt sie Murawjow lange in der seinigen. Sie standen beide eine Weile einander stumm gegenüber.

»Wir halten also zusammen? Ja?« sagte endlich Murawjow, etwas errötend.

»Ja,« erwiderte Fürst Valerian gleichfalls errötend.

Murawjow ließ Golitzins Hand los, sah ihm noch eine Minute schweigend in die Augen, errötete noch mehr, lächelte und umarmte ihn.

Golitzin überkam dasselbe Gefühl, wie im Traume, als ihm Sophie erschienen war; er wollte weinen. Er wußte, daß sie auch jetzt mit ihm war.


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