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Alexander I

Alexander I. um 1801
Gemälde von Wladimir Lukitsch Borowikowski.
Bildquelle: de.wikipedia.org

Erster Teil.


I.

Der Zwischenfall mit der Brille kostete den Fürsten Valerian Michailowitsch Golitzin seine ganze Karriere.

»Komm einmal her, du Karbonaro! Jetzt sollst du mir Antwort stehen. Erzähle, was du angestellt hast. Wie war es nur mit der Brille, he? Die ganze Stadt spricht davon, ich weiß aber noch gar nichts ...« Mit diesen Worten reichte der Minister für Volksaufklärung und Oberprokurator des heiligen Synods, Fürst Alexander Nikolajewitsch Golitzin seinem Neffen Valerian die rasierte Wange zum Kusse. Er war ein kleiner, rundlicher, kahlköpfiger Greis, der sich aus seinen kurzen Beinen flink wie eine rollende Kugel fortbewegte; sein ganzes Gesicht war von weichen weibischen Runzeln, wie sie alten Schauspielern und Höflingen eigen sind, durchfurcht.

Als Fürst Valerian nach zweijähriger Abwesenheit – er war soeben aus dem Auslande heimgekehrt – in das geräumige finstere Empfangszimmer, dessen Fenster auf das Michailowsche Schloß hinausgingen, eintrat, umfing ihn sofort die stickige Luft der Vergangenheit, die ewige Langeweile von Träumen, die sich oft wiederholen.

Auf der gleichen Stelle wie vor Jahren senkte sich unter ihm eine locker gewordene Sprungfeder im alten Ledersessel. Auf dem mit grünem Tuch bedeckten Kanzleitische lagen noch immer die von der geistlichen Zensur verbotenen Bücher herum. Er las den Titel eines der Bücher: »Von der Schädlichkeit der Pilze«; die Pilze gehören zu den Fastenspeisen, kombinierte er, folglich darf niemand an ihrer Nützlichkeit zweifeln. Die Wände des Empfangszimmers waren noch immer mit Stichen nach allen Christusbildern, die es nur in der Welt gab, geschmückt: das Antlitz des Herrn war hier ein Tapetenmuster. In der Tiefe des anstoßenden Betzimmers brannte wie immer eine blutrote, herzförmige Ampel, und es roch nach altem Weihrauch, wie in einer Leichenkammer.

»Haben Sie doch Erbarmen, Onkelchen! Sie sind heute der zwanzigste, der mich danach fragt.« Fürst Valerian warf dem alten Fürsten durch die berühmte Brille einen leicht spöttischen Blick zu. Sein trockenes, gelbes, kluges Gesicht verlieh ihm einige Ähnlichkeit mit dem Dichter Gribojedow.

»Erzähle doch vernünftig! Was ist eigentlich los?«

»Ach, das Ganze ist ja wirklich nicht der Rede wert. Gestern erschien ich beim Empfang im Schlosse mit der Brille auf der Nase. Ich hatte die hiesigen Sitten ganz vergessen und wußte nicht mehr, daß in Gegenwart von allerhöchsten Personen der Gebrauch von Augengläsern verboten ist.«

»Ich gratuliere, Neffe! Ein Kammerjunker mit einer Brille! Nun hast du dir deine eigene Karriere verdorben und auch deinem alten Onkel einen Streich gespielt. Und dazu noch in einem solchen Augenblick ...«

»Soll etwa wegen der Brille das Ministerium stürzen?«

»Spotte nicht, Freund! solche Witze können dir schlecht bekommen.«

»Ich spaße ja gar nicht! Morgen muß ich mich dem Araktschejew vorstellen. Wenn man mich in die Festung einsperrt, oder in Begleitung eines Feldjägers nach Sibirien schickt, so sind Sie, Onkelchen, meine letzte Hoffnung.«

»Hoffe nicht auf mich, mein Lieber! Ich sage mich von dir los: du hörst nicht auf meine Ratschläge und steckst selbst deinen Kopf in die Schlinge. Du glaubst wohl, daß die Obrigkeit nichts vom Brei weiß, den ihr einbrockt? Alles weiß sie, mein Lieber, alles! warte nur, man wird euch schon einfangen, ihr Herren Karbonari! ... Und erst der Brief! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Darf man denn solche Briefe der Post anvertrauen? Wenn du es schon durchaus schreiben mußtest, so konntest du ja den Brief durch irgendeine Gelegenheit schicken ...«

In einem von der Geheimpolizei aufgefangenen und dem Kaiser vorgelegten Briefe nannte Fürst Valerian den allgewaltigen Araktschejew »ein Scheusal«. Auch der alte Fürst Alexander Nikolajewitsch haßte Araktschejew; selbst in Gegenwart des Kaisers begrüßte er ihn nie bei Hofe. Fürst Valerian wußte, daß sein Onkel ihm für diesen Brief Vieles verzeihen würde.

»Ich war immer der Ansicht, Durchlaucht,« sagte er mit einem noch feineren Lächeln aus den leicht erblaßten Lippen, »daß das Lesen fremder Briefe nicht viel besser ist, als das Horchen an der Türe ...«

Der Alte zischte und fuchtelte mit den Armen.

»Mein Herr, wenn Sie mit mir verkehren wollen, so muß ich Sie bitten, vorsichtiger in der Wahl Ihrer Ausdrücke zu sein,« sagte er französisch.

»Ich bitte um Verzeihung, Durchlaucht, es geht aber wirklich über meine Kraft! Mein ganzes Blut verwandelt sich in Galle. Ich kann noch begreifen, daß ein gesunder Mensch in einem Irrenhause mit Verrückten leben kann; wie soll aber ein anständiger Mensch die Gesellschaft von Schurken und Lakaien ertragen?!«

»Sie haben sich sehr verändert, mein Lieber, bedeutend verändert,« versetzte der Onkel kopfschüttelnd, »und ich will es offen sagen: nicht zu Ihren Gunsten. Die im Auslande angeknüpften Bekanntschaften hatten eine schlechte Wirkung auf Sie ...«

– Die Schurken haben es also schon nach Petersburg gemeldet! – ging es dem jungen Fürsten durch den Kopf. Mit »den im Auslande angeknüpften Bekanntschaften« war offenbar der freigeistige Philosoph Tschaadajew, mit dem er sich in Paris befreundet hatte, gemeint.

»Ich sehe, mein Lieber, daß es Ihnen noch immer nicht gelingt, sich von sich selbst zu befreien und sich in jenes Nichts zu verwandeln, das allein dem Willen des Höchsten dienen kann,« sagte der Onkel mit frommem Augenaufschlag. »Sie haben Ihr Vaterhaus wie der verlorene Sohn verlassen und erfreuen sich jetzt an den Trebern der Säue auf den Feldern der Heiden ...«

– Mit den Trebern meint er die Verfassung – sagte sich Fürst Valerian.

Der Alte sprach noch viel vom süßesten Jesu, vom alten Adam, den man abstreifen soll, vom Zustande Marias, der den Zustand Marthas ablösen soll, vom göttlichen Tau und vom Seufzen der himmlischen Taube.

Fürst Valerian hörte gelangweilt zu und dachte sich: »Wenn man dir jetzt noch eine Tüllhaube mit Rüschen auf deine Glatze aufsetzt, so wirst du genau wie die Prophetin Krüdener aussehen!«

»Jede Gewalt kommt von Gott. Ein Christ und ein Empörer gegen die von Gott eingesetzte Gewalt sind zwei sich vollkommen ausschließende Begriffe,« schloß der Onkel. Mit diesen Worten endeten alle seine Predigten.

»Ich hätte es beinahe vergessen, Durchlaucht,« sagte Fürst Valerian, als er endlich zu Worte kommen konnte, »ich soll Ihnen etwas von Maria Antonowna bestellen ...«

Er nahm vom Tisch das Paket, das er mitgebracht hatte, löste die Verschnürung und reichte dem Onkel mit der Gewandtheit eines wirklichen Kammerjunkers ein kleines seidenes Kissen, wie man sie zum Knien während des Gebets braucht. Auf dem Kissen war das flammende Herz Jesu gestickt.

»Mit ihren eigenen Händen hat sie es gestickt. Es soll dem Fürsten, so sagte sie, eine bleibende Erinnerung an eine treue Freundin sein, besonders aber jetzt, wo er schuldlos Verfolgungen erleidet.«

»Die Gute, Liebe! Das nenne ich eine echte Tochter Israels!« sagte der Onkel gerührt, »heute abend findet bei ihr übrigens ein Konzert Wjelgorskis statt. Gehst du hin?«

»Gewiß.«

»Sage ihr also, daß ich sie morgen besuchen werde, um ihr die Hände zu küssen.«

So oft es zwischen dem Kaiser und seiner Geliebten, Maria Antonowna Naryschkina einen Streit gab, trat der alte Fürst Alexander Nikolajewitsch Golitzin als Friedensstifter auf; die Lästermäuler am Hofe nannten ihn daher »einen alten Kuppler«. Archimandrit Photius strafte ihn mit den Worten: »Der seit dreißig Jahren mit dem Zaren befreundete Fürst, ein Diener des Fleisches, des Teufels und der sündigen Welt, war in Dingen, von denen es nicht zu sprechen ziemt, stets ein Geselle des Zaren.«

»Ich habe noch einen Auftrag, Onkelchen: ich soll mich nach den Vorgängen im Ministerium und nach den Plänen der Feinde erkundigen.«

»Das werde ich ihr alles selbst erzählen ... Vielleicht ist euch übrigens mehr bekannt als mir? Berichte einmal, was du alles weißt!«

»Es gehen so verschiedene Gerüchte umher. Man sagt, daß die Tage Ihres Ministeriums gezählt sind; Pater Photius soll sich gegen Sie mit Araktschejew verschworen haben.«

»Ja, mit Araktschejew und Magnitzkij.«

»Unmöglich! Magnitzkij ist ja ein so musterhafter Christ ... Ich habe Sie ja gewarnt, Onkelchen: nehmen Sie sich vor Magnitzkij in acht, er ist ein Gauner, wie es noch keinen zweiten in der Welt gegeben hat, eine Kreuzung zwischen Huhn und Hyäne.«

»Wie? Wie? Huhn und Hyäne? Nicht übel! Zuweilen bist du wirklich geistreich, mein Lieber ...«

»Können sich Durchlaucht noch darauf besinnen, wie sie einen Besessenen heilen wollten?« fragte Fürst Valerian.

»Ja, wer konnte es auch ahnen? Selbstredend waren es Gauner. Über Magnitzkij will ich gar nichts sagen. Aber Photius, Photius, – das ist wirklich eine Überraschung! ...«

Er lief schnell in sein Arbeitszimmer und kam mit zwei Schriftstücken zurück.

»Hier, lies.«

»Ew. Durchlaucht, hochverehrter Fürst! Du und ich sind wie der Leib und die Seele. Wir sind ein Herz. Christus ist zwischen uns und wird es ewig bleiben.« So schloß einer der Briefe des Archimandriten an den Fürsten.

Die Antwort Golitzins lautete im Konzept:

»Hochwürdiger Vater Photius! Ich lechze nach einer Begegnung mit Ihnen, wie man an einem heißen Tage nach kaltem Wasser lechzt. Ich vergieße Tränen und erflehe vom Allmächtigen Taubenflügel, um schneller zu Ihnen kommen zu können. Wahrlich, Christus ist zwischen uns.«

»Onkelchen, Onkelchen, Ihre Herzensgüte wird Sie noch zugrunde richten!« sagte Fürst Valerian, mit Mühe ein schadenfrohes Lächeln unterdrückend.

»Gott ist gnädig, mein Freund. Wie oft mich auch die Menschen betrogen haben, zum Narren haben sie mich nie gemacht. So ist es auch jetzt. Sie wollen mir den Ministerposten nehmen. Es ist aber nur mein sehnlichster Wunsch, von den Geschäften zurückzutreten, um mich ganz der Rettung meiner Seele widmen zu können ...«

Er hob seine Augen gen Himmel.

»Der Kaiser, der hat wirklich ein gutes Herz,« seufzte er gerührt, » er nützt es aber auch gehörig aus.«

Mit »er« war Araktschejew gemeint: der alte Fürst haßte ihn so sehr, daß er es vermied, seinen Namen auszusprechen.

»Er kommt zum Kaiser mit trauriger Miene, den Kopf zur Seite geneigt und wimmert: Eure Majestät, Vater und Herrscher, ich bin alt und gebrechlich, ich bitte untertänigst um Abschied ...«

Fürst Valerian blickte den Onkel an und erstarrte vor Erstaunen: die weichen weibischen Runzeln waren hart geworden, die Augen waren erloschen, die Wangen eingefallen, das ganze Gesicht war lang geworden, – er sah den leibhaftigen Araktschejew vor sich. Die Vision verschwand und vor ihm saß wieder der fromme Prediger. Nur noch in der Tiefe seiner Augen leuchtete ein Funke von jugendlicher Ausgelassenheit.

Dem Fürsten Valerian fiel eine Geschichte ein, die er einmal vom Onkel selbst gehört hatte. Fürst Golitzin ging einmal in seiner Jugend, als er noch Kammerpage war, eine Wette ein, daß er den Kaiser Paul am Zopfe zupfen werde. Als er einmal während einer Mahlzeit hinter dem Sessel des Kaisers zu stehen kam, zupfte er ihn tatsächlich am Zopfe. Der Kaiser wendete sich um. »Majestät, der Zopf hing schief, ich habe ihn gerade gerichtet.« – »Danke, mein Freund.«

»Ja, so stehen die Sachen, mein Lieber,« fuhr der Onkel fort. »Unter uns gesagt, wächst mir dieses Ministerium für Volksaufklärung längst zum Halse heraus! Ich habe es satt. Es ist kein Ministerium, sondern ein Teufelsnest, das niemand reinigen kann, es sei denn, daß ein Engel vom Himmel herabgesandt wird. Die Lehranstalten sind nichts anderes als Schulen der Unzucht. Die neue Philosophie hat höllische Irrlehren ausgespieen, und nun steht sie mit gezücktem Dolche mitten in Europa. Sie schreien: Wissenschaft! Wissenschaft! Wir Christen wissen aber, daß die Weisheit weder in einer verderbten Seele, noch in einem sündigen Körper wohnen kann. Was können auch die Bücher nützen? Alles ist schon längst geschrieben. Der Buchstabe tötet, doch der Geist macht lebendig ... weißt du, mein Freund, ich würde gern alle Bücher verbrennen!« schloß er mit der gleichen Kühnheit, mit der er wohl einst Kaiser Paul am Zopfe gezupft hatte.

– Du Gauner, – dachte sich Fürst Valerian, – hast so viel Böses angerichtet und bist dabei unschuldig wie ein neugeborenes Kind. –

»Was siehst du mich so an? Paßt dir etwa nicht, was ich da sage? ... Macht nichts, mein Freund, Geduld bringt Huld. Du wirst noch zu uns zurückkehren ...«

Er blickte auf die Uhr.

»Ich muß in den Synod. Zwei Bischöfe warten auf mich. Gott beschütze dich. Ich will dich noch zum Abschied bekreuzigen. So, – jetzt hast du nichts zu befürchten, er wird dir nichts tun können. Kehre aber doch zu uns zurück, du verlorenes Söhnchen!«

»Nein, Onkelchen, wie könnte ich es? Den Buckligen kann höchstens das Grab gerade richten.«

»Nein, nicht das Grab, sondern Fräulein Turtschaninowa.«

»Was für ein Fräulein?«

»Hast du es noch nicht gehört? Es wundert mich. Sie heilt mit ihrem Blick Blinde und Taubstumme. Ich sah mit meinen eigenen Augen den Sohn des Generals Toll, der ein Überbein hatte. Nachdem sie ihn einen Monat lang behandelt hatte, waren beide Beine gleich. Diese Kraft kann man mit der einer Pumpe vergleichen, die aus der Natur den tierischen Magnetismus saugt ... Jetzt ist meine Zeit knapp. Ein anderes Mal will ich dir mehr davon erzählen. Willst du, wir besuchen sie gelegentlich zusammen?«

»Mit dem größten Vergnügen, vielleicht kann sie mich wirklich gerade richten.«

»Warum denn nicht? Bei Gott ist alles möglich. Glaubst du vielleicht nicht?«

»Ich glaube, Onkelchen. Wissen Sie, ich denke mir oft: wenn Christus selbst käme und auf dem Admiralitäts- oder Schloßplatz Wunder wirken wollte, so würde die Sache nicht einmal vor Pilatus kommen: der erste beste Quartalaufseher würde ihn zur Polizei schleppen. Und die Bischöfe würden für ihn keinen Finger rühren ...«

Beinahe hätte er noch hinzugefügt: »Auch Sie nicht, Durchlaucht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er schnell das Empfangszimmer.

Der alte Fürst zuckte nur die Achsel.

»Ein toller Kopf, doch ein gutes Herz. Schade, daß er ein schlechtes Ende nehmen wird!«


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