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III.

Das 2. Bataillon des Tschernigowschen Infanterieregiments, das Murawjow kommandierte, galt als das beste im ganzen III. Armeekorps. General Roth schlug Murawjow zweimal für den Posten eines Regimentskommandeurs vor, der Kaiser wollte ihn aber nicht bestätigen, denn sein Name stand auf der Liste der Verschwörer.

»Ich hatte mich ganz meinem Bataillon gewidmet und lebte mit den Soldaten wie mit meinen Kindern,« erzählte später Murawjow von seiner Tätigkeit in Wassilkow. Alle Körperstrafen – Prügel, Knuten und Spießruten – waren abgeschafft; die Disziplin wurde aber dadurch nicht gelockert, denn an Stelle der Angst trat Liebe. »Der Kommandeur ist unser Vater: er klärt uns auf,« sagten von ihm die Soldaten.

Im Tschernigowschen Regiment dienten viele Soldaten vom Ssemjonowschen Garderegiment, die nach der Meuterei von 1819 degradiert und in die Armeeregimenter gesteckt worden waren. Metternich hatte diese zufällige Meuterei, die durch die Grausamkeit des Kommandeurs hervorgerufen war, dem Kaiser als eine Folge der die ganze Welt umfassenden Verschwörung der Karbonari und als den Beginn der russischen Revolution dargestellt.

Der Kaiser wollte den Ssemjonowern jene Meuterei nicht verzeihen; er vergaß auch nicht, daß sie die Hauptbeteiligten am Zarenmord vom 11. März waren. Offiziere wie Soldaten wurden für die geringfügigsten Vergehen hart bestraft.

»Lieber den Tod, als solch ein Leben!« murrten die Soldaten. Auf diese Unzufriedenen setzten die Verschwörer ihre größte Hoffnung.

Auch Murawjow hatte früher im Ssemjonowschen Regiment gedient.

»Erinnert ihr euch noch, Kinder, an das alte Regiment? Kennt ihr mich noch?« fragte er die Soldaten.

»Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren,« erwiderten jene. »Wir wollen unter dem Kommando von Euer Hochwohlgeboren gerne unser Blut vergießen!«

Als Golitzin die Soldaten betrachtete, überzeugte er sich, daß ein Aufstand nicht nur möglich, sondern auch unausbleiblich war.

»Bei den Ssemjonowern herrscht ein solcher Geist, daß der Gemeine Apojtschenko den Schwur leistete, das ganze Ssaratowsche Regiment ohne Offiziere herzubringen und bei der ersten Truppenrevue den Kaiser zu erschießen. Auch in den andern Regimentern werden sich die Soldaten uns anschließen, und es genügt eine einzige Kompagnie, um ein ganzes Regiment fortzureißen,« behauptete Bestuschew.

»Der russische Soldat ist wie ein schwer mißhandeltes Tier,« erklärte er Golitzin. »Wir haben uns nun entschlossen, auf die Soldaten einzuwirken und ihre Unzufriedenheit mit dem Dienst und mit den Vorgesetzten zu schüren; vor allen Dingen wollen wir aber den Soldaten Mut machen und ihnen die Hoffnung einflößen, daß ihr Los sich noch ändern kann.«

Er zeigte an Beispielen, wie man es machen sollte. Solange er ihnen von der Abkürzung des Militärdienstes von 25 auf 15 Jahre sprach oder ihnen erklärte, daß die Prügelstrafe der menschlichen Natur widerspräche, konnten ihn die Soldaten noch gut verstehen. Sie hörten ihm auch noch aufmerksam, doch ohne besonderes Verständnis zu, wenn er ihnen predigte:

»Bald ziehen wir, Kinder, nach Moskau, wo sich die ganze Armee versammeln wird, um vom Kaiser Erleichterungen für das Heer zu fordern; denn euer Dienst ist heute viel zu schwer: ihr werdet tyrannisiert, geprügelt und malträtiert. Den Drill haben die Vorgesetzten eigens dazu erfunden, um euch zu peinigen; die Vorgesetzten sind zum größten Teil Deutsche. Für euch, wie auch überhaupt für alle Menschen niederer Stände, wirken aber mehrere hochstehende Persönlichkeiten, die euer Los erleichtern wollen. Es gibt Menschen, die gerne ihr Leben opfern wollen, um sich selbst, um so mehr aber euch, aus den Fesseln der Sklaverei zu befreien. Wenn ihr den nötigen Mut findet, so wird sich bald euer Schicksal wenden. Ihr dürft nicht verzagen, sondern müßt Mut fassen und bereit sein, wenn nötig, euer Leben für eure Rechte zu lassen.«

Als er ihnen aber zu beweisen suchte, daß »nicht jede Obrigkeit von Gott« sei, verstanden sie ihn schon gar nicht.

»Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren,« riefen sie ganz unerwartet: »Es gibt nur einen Gott im Himmel und einen Zaren auf Erden. Gegen Gott und gegen den Zaren darf man sich nicht auflehnen!«

Und alles, was er ihnen sagte, prallte von ihnen zurück wie Erbsen von der Wand. Wenn er sie aber fragte:

»Kinder, werdet ihr mir folgen, wohin ich euch auch führe?«

»Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren!« riefen sie wie aus einem Munde: sie dachten sich, daß die Kommandeure mit ihnen nach Österreich ziehen wollten, wo sich alle ehemaligen Ssemjonower versammeln sollten, um den Zaren um Begnadigung zu bitten, und sie waren überzeugt, daß der Zar sie begnadigen und in die Garde zurückversetzen werde.

Um zu beweisen, »daß die Natur alle Menschen gleich beschaffen habe«, schnupfte Bestuschew Tabak mit dem Feuerwerker Sjunin und küßte den Wachtmeister Schwatschka, der sich dabei jedesmal verlegen den Mund mit dem Ärmel abwischte.

Den Gemeinen Zybulenko unterrichtete er im Lesen und Schreiben und mühte sich entsetzlich ab, bis jener mit seinen krummen Fingern nach der Vorlage abschreiben konnte: »Brutus. Cassius. Mirabo. Lafayette. Konstitution.«

Fürst Valerian wohnte zuweilen diesen Unterrichtsstunden bei.

»Was ist die Freiheit?« fragte Bestuschew.

»Die Freiheit ist eine Gabe Gottes,« antwortete Zybulenko.

»Sind alle Menschen frei?«

»Zu Befehl, ja, Euer Hochwohlgeboren.«

»Nein, eine kleine Anzahl von Menschen hat die Mehrzahl geknechtet. – Ist Rußland frei?«

»Zu Befehl, nein, Euer Hochwohlgeboren.«

»Warum nicht?«

Zybulenko schwieg, errötete, schwitzte und glotzte mit den Augen.

»Idiot! Du bist wirklich ein Idiot, mein Lieber!« fuhr ihn Bestuschew an. »Was soll ich nun mit dir machen?«

»Verzeihung, Euer Hochwohlgeboren!« Zybulenko machte Front und zwinkerte mit den Augen, als ob er sagen wollte: Haben Sie doch Erbarmen!

»Geh. Heute werde ich von dir wohl keine gescheite Antwort bekommen können. Komm morgen wieder.«

Um ihn zu trösten, schenkte er ihm fünf Kopeken für das Dampfbad.

»Sag's auch den anderen, sie möchten immer zu mir kommen, wenn sie etwas auf dem Herzen haben.«

»Es ist ja die reinste Komödie!« spottete Gorbatschewskij. »Wissen Sie, Bestuschew, nach dem französischen Feldzug pflegte ein Gardegeneral sein Regiment mit den Worten: › Bon jour, ihr Leute!‹ zu begrüßen. Sie erinnern mich lebhaft an ihn. Die Leute werden Ihr Bon jour nie verstehen.«

»Nein, sie werden alles verstehen!« Bestuschew verlor den Mut nicht.

Damit sie es besser begriffen, tat auch der Regimentskommandeur Gebe!, ein Schüler des gefürchteten »Prüglers« General Roth, das Seinige.

Gustav Iwanowitsch Gebel war polnischer Abstammung und haßte die Russen, als ob er es an ihnen rächen wollte, daß er seinem eigenen Volke untreu geworden war.

Auf dem Hauptplatze von Wassilkow, wo die Landstraße von Berditschew nach Kiew vorbeiführte, konnten die reisenden polnischen Herren sehen, wie ihr Stammesgenosse die russischen Soldaten prügelte. Am Prügeln beteiligten sich der Kommandeur, wie die Feldwebel und die Gefreiten; man prügelte so, daß die Stöcke entzwei gingen.

Gebel legte sich platt auf die Erde, um festzustellen, ob die Soldaten die Fußspitzen richtig streckten; er betastete ihre Gesichter, um festzustellen, ob der Schnurrbart aus Ermangelung eines natürlichen auch regelrecht mit Kohle gezeichnet sei; er ließ sie die Gürtel so eng zuschnallen, daß sie ohnmächtig wurden; wenn sie aber ohnmächtig wurden, prügelte er sie erst recht; er prügelte sie auch, wenn sie in der Front husteten und sich räusperten. Er ließ sie einander ins Gesicht spucken. Alte Veteranen, die viele Tausende von Meilen bei Feldzügen zurückgelegt hatten, und deren Körper von Wunden bedeckt waren, drillte er zugleich mit jungen Rekruten.

Wir sind unseres Landes Wehr,
Doch die Rücken schmerzen sehr.
Wer am grausamsten sich zeigt,
Schneller auch im Range steigt ...

klagten sie in einem Liede; sie erzählten sich auch ein Märchen, von einem Soldaten, der seine Seele dem Teufel verschrieben hatte, damit dieser seine Zeit abdiene; der Teufel hielt es aber auf die Dauer nicht aus und verzichtete auf die Seele.

In den letzten Tagen schien Murawjow sehr aufgeregt. Als Golitzin dies merkte, fragte er Bestuschew nach dem Grunde. Bestuschew erzählte ihm folgendes:

Der Flügelmann des 1. Bataillons, Antifejew, ein Mann, der in vielen Schlachten seinen Mut bewiesen hatte, unternahm einen Desertionsversuch nach dem anderen. Als er nach einem neuen Versuch wieder einmal grausam gezüchtigt wurde, redete ihm sein Kompagniechef ins Gewissen, rühmte seine alten Verdienste und bat ihn, sich doch nicht immer wieder neuen Strafen auszusetzen. Der Alte sagte aber, daß er auch bei der nächsten Gelegenheit versuchen werde, zu desertieren, denn er wolle durchaus nach Sibirien verschickt werden. Es kam vor, daß Soldaten harmlose Passanten und selbst Kinder töteten, um aus dem Heere ausgestoßen und nach Sibirien verschickt zu werden. Antifejew erreichte auch wirklich seinen Zweck: als er wieder einmal weglief, sich betrank und einem Bauern zwei Silberrubel raubte, wurde er zur Knutenstrafe und Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt.

Murawjow verwendete sich für ihn beim Generalmajor Fürst Ssergej Wolkonskij, der ein Mitglied der Geheimen Gesellschaft war und gute Verbindungen hatte, und bat den Regimentskommandeur, den Vollzug der Strafe aufzuschieben. Der Kommandeur erstattete aber eine Anzeige beim Korpskommando und bekam den Befehl, die Strafe sofort zu vollziehen und Murawjow einen strengen Verweis zu erteilen.

Die Exekution sollte auf dem Truppenübungsplatz beim Boguslawer Tor in Gegenwart des ganzen Regiments stattfinden. Am Vorabend des angesetzten Tages schickte Bestuschew durch einen Unteroffizier dem Büttel 25 Rubel, damit er die Knutenstrafe möglichst schonend vollziehe.

Am nächsten Morgen saß Fürst Valerian Golitzin bei Murawjow, der ihm seine gute Bibliothek zur Verfügung gestellt hatte. Golitzin saß am Fenster und las eine französische Abhandlung Murawjows über Raum und Zeit.

Golitzin war ganz in die metaphysischen Fragen vertieft, als vor dem Hause ein Wagen hielt, dem Murawjow, Bestuschew und noch mehrere Offiziere des Tschernigowschen Regiments entstiegen. Murawjow war leichenblaß und so schwach, daß man ihn aus dem Wagen heben mußte. Golitzin glaubte anfangs, daß er vom Pferde gefallen sei oder sich sonst irgendwie verletzt habe. Bestuschew erzählte ihm später, wie sich alles bei der Exekution zugetragen hatte.

Solange Antifejew unter der Knute noch sein Bewußtsein bewahrte, gab er keinen Ton von sich; erst als er das Bewußtsein verlor, begann er zu stöhnen. Murawjow, der bis dahin vollkommen ruhig schien, wurde plötzlich blaß und fiel in Ohnmacht. Alles kam in Unordnung. Die Offiziere und Soldaten, die in der Nähe standen, hörten nicht auf Gebels Befehle und Drohungen, vergaßen die Disziplin und stürzten zu Murawjow, um dem geliebten Kameraden und Vorgesetzten zu helfen. Die Soldaten murrten, und es schien, daß jeden Augenblick eine Meuterei ausbrechen könne. Murawjow kam aber zu sich, man setzte ihn in einen Wagen und brachte ihn nach Hause. Die Ordnung wurde wieder hergestellt, und Antifejew bekam seine ganze Strafe.

Murawjow war krank. Er bekam einen Herzkrampf; er war auch sonst herzleidend. Bestuschew wollte einen Arzt holen lassen, doch der Kranke wollte es nicht haben.

»Es ist nichts, es ist schon vorbei,« wiederholte er mit einem verschämten, gleichsam schuldigen Lächeln.

Gegen Abend fühlte er sich etwas besser und ließ Bestuschew und Golitzin zu sich kommen. Er lag auf dem Sofa und hatte wohl noch Fieber: sein Gesicht war blaß und seine Augen brannten. Golitzin kam wieder der seltsame Vergleich in den Sinn, wie bei seiner ersten Begegnung mit Murawjow: der Vergleich mit den Frühlingsblättern im grimmigen Frost.

»Was haben Sie heute gelesen, Golitzin?« fragte Murawjow und brachte so das Gespräch auf das abstrakte Thema von Raum und Zeit im Sinne der Kantschen »Kritik der reinen Vernunft«; über ähnliche metaphysische Probleme konnte er stundenlang sprechen, wobei er alles andere in der Welt vergaß. Als Bestuschew das Zimmer verließ, sah er Golitzin in die Augen und sagte:

»Wie dumm, mein Gott, wie dumm! Diese Schande! Wir sind wirklich nette Verschwörer: wie junge Mädchen werden wir bei jeder Kleinigkeit ohnmächtig!«

»Das kann einem jeden passieren,« entgegnete Fürst Valerian. »Ich glaube, daß ich es auch nicht aushalten könnte.«

»Wir beide haben schon manche Schlacht miterlebt und da ging es ja doch viel schlimmer zu.«

»Nein, Murawjow, eine Schlacht ist doch besser ...«

»Es mag sein. Wissen Sie was, Golitzin? Es war nicht der Anblick der Strafe und auch nicht das Stöhnen Antifejews, was auf mich solchen Eindruck machte; es war etwas ganz anderes. Als er zu stöhnen anfing, blickte ich flüchtig auf Gebel; haben Sie schon einmal im Traume den Teufel gesehen?«

»Ja, es kam vor.«

»Ich meine nicht den Anblick des Teufels,« fuhr Murawjow fort, »sondern das schwere beklemmende Gefühl, das man dabei empfindet und das uns sagt, daß er gegenwärtig ist. Dasselbe habe ich auch gestern empfunden: als Antifejew zu stöhnen anfing, blickte ich Gebel an und fühlte plötzlich ... Wir sprechen ja immer vom Töten und wissen davon ebensowenig wie von Raum und Zeit, d. h. gar nichts. Es ist aber auch eine Kantsche ›Kategorie‹: ›Du sollst nicht töten‹ – ist eine Kategorie, und ›Du sollst töten‹ ist auch eine Kategorie. Und es ist möglich, von der einen in die andere zu gelangen. Diese Wandlung habe ich nun durchgemacht. Ich begriff plötzlich, daß man töten darf. Ich glaubte immer, daß man es nicht dürfe; jetzt bin ich aber vom Gegenteil überzeugt. Ich meine es gar nicht so, daß ich es später einmal tun werde; nein, ich bin bereit, sofort auf der Stelle ...«

Er richtete sich auf, sein Gesicht verzerrte sich und er erinnerte plötzlich an den besessenen Juden Baruch.

»Ich will Ihnen noch folgendes sagen, Golitzin,« flüsterte er schwer keuchend. »Ich werde ihn sicher einmal töten, wie einen tollen Hund!«

»Sserjoscha, Lieber, laß es, laß es, um Gottes willen!« rief Bestuschew ins Zimmer stürzend.

Murawjow bekam einen neuen Anfall, der aber schnell verging. Die Nacht verbrachte er gut und war am anderen Morgen wieder ganz wohl. Auf Bestuschews Drängen blieb er noch zwei Tage zu Hause und lag meistens auf dem Sofa.

Einige Soldaten, die Bestuschew »aufgeklärt« hatte, besuchten ihn. Gorbatschewskij lachte sie wie gewöhnlich aus.

»Nun, warst du im Dampfbade?« fragte er Zybulenko.

»Zu Befehl, nein, Euer Hochwohlgeboren.«

»Was hast du denn mit den fünf Kopeken gemacht, die Herr Leutnant dir neulich geschenkt hat? Hast sie wohl wieder vertrunken?«

Zybulenko schwieg, errötete, schwitzte, glotzte mit den Augen und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

»Er hat der heiligen Gottesmutter eine Kerze für das Wohl des Herrn Leutnants gestiftet, Euer Wohlgeboren, und den Rest P. Danilo für eine Messe gegeben,« antwortete für ihn Grigorij Krajnikow, ein aufgeweckter, junger Soldat mit klugem und lustigem Gesicht.

»Ist es wahr, Zybulenko?« fragte Murawjow.

»Zu Befehl, ja, Euer Hochwohlgeboren.«

»Ich danke dir, lieber Freund. Komm einmal näher her.«

Zybulenko kam näher, und Murawjow reichte ihm die Hand. Der Soldat wurde noch verlegener, plötzlich erstrahlte sein Gesicht, als ob ihm ein Licht aufgegangen wäre; er ergriff mit seiner plumpen schwieligen Bauernhand die feine, blasse Hand Murawjows, wandte sich ab, verzog seltsam das Gesicht und wischte sich eine Träne aus den Augen.

Alle verstanden es. Man sah allen an, daß sie ihm wirklich mit Leib und Seele ergeben waren.

»Dieser Händedruck bleibt in alle Ewigkeit; wenn nicht jetzt, so werden beide Hände sich später einmal vereinigen und alles, was nötig ist, vollbringen,« sagte sich Fürst Valerian.

Während Murawjows Krankheit begann er auch Bestuschew zu verstehen.

»Wer nicht hazardiert, niemals profitiert, pflegt eine Polin zu sagen, mit der ich manchmal Karten spiele,« sagte Bestuschew. »Auch wir, Verschwörer, müssen diese Regel befolgen.«

Er selbst beobachtete diese Regel immer: alles was er hatte, ob viel oder wenig, setzte er immer aufs Spiel.

Als seine alte Mutter im Sterben lag und ihn zu sich berief, hatte er große Seelenqualen, denn er liebte seine Mutter zärtlich; da ihn aber die Geschäfte der Gesellschaft zurückhielten, reiste er schließlich doch nicht hin, und die Mutter starb, ohne ihn vor dem Tode gesehen zu haben.

»Um die Freiheit zu erringen, braucht man weder Sekten, noch Statuten, noch Zwang; man braucht nur Begeisterung: die Begeisterung macht den Pygmäen zu einem Riesen, sie zerstört das Alte und schafft das Neue!« rief er einmal aus, und Golitzin begriff, daß sich sein ganzes Wesen in diesen Worten spiegelte.

Er war klein, hager, rothaarig und erinnerte an das Wappentier Franz I.: den flammenden Salamander mit der Inschrift »Ich brenne und verbrenne nicht.«

Golitzin begriff auch, woher dieses Feuer herrührte.

»Murawjow und Bestuschew sind unzertrennliche Zwillinge, eine Seele in zwei Körpern,« sagten die Kameraden.

Bestuschew, der früher ein hohler Geck gewesen war, wurde, sobald er sich Murawjow angeschlossen hatte, plötzlich klug und blühte auf wie ein verliebtes junges Mädchen.

Um jene Zeit kam der Bruder Ssergej Murawjows, Matwej Iwanowitsch, nach Wassilkow. Matwej war auch ein Mitglied der Geheimen Gesellschaft; er verlor aber seinen Glauben, und dies quälte ihn so sehr, daß er sich sogar mit Selbstmordgedanken Herumtrug.

Die beiden Brüder glichen einander, wie die rechte Hand der linken gleicht: beide Hände sind gleich und entgegengesetzt und können sich in der gleichen Ebene nie decken. Bestuschew fürchtete und haßte Matwej Iwanowitsch; er hielt ihn für eine Karikatur auf den Bruder, für seinen teuflischen Doppelgänger, für eine verzerrte Spiegelung in einem Vexierspiegel: was bei dem einen in die Höhe ging, ging bei dem anderen in die Breite; der eine war leicht, schlank und schnell; der andere – schwer, breit und behäbig.

Golitzin hatte einmal von Katrussja das Märchen von »Wij« gehört; so hieß ein unterirdisches Ungeheuer mit eisernem Gesicht und langen, bis an die Erde reichenden Augenlidern. »Matwej Iwanowitsch ist – Wij, Sserjoschas Dämon, der Dämon der Schwere; das ist es, was Bestuschew so fürchtet,« dachte zuweilen Golitzin.

»Ich kann die beiden nicht zusammen ansehen: Matwej ist die Spinne und er die Fliege; er saugt sein Blut aus,« sagte Bestuschew.

Er begriff wohl, daß Matwej in vielen Dingen recht hatte; dies vergrößerte aber noch seinen Haß.

Sergej schien zuweilen wirklich von der schweren Last seines Bruders erdrückt, während Matwej lebendiger und lustiger wurde und sich wie eine Spinne regte; in solchen Augenblicken hätte ihn Bestuschew auf der Stelle totschlagen können.

Matwej Iwanowitsch verbrachte in Wassilkow etwa acht Tage; Ssergej fühlte sich die ganze Zeit krank.

Endlich hielt es Bestuschew nicht mehr aus und fragte Matwej in Golitzins Gegenwart ziemlich schroff:

»Gedenken Sie noch lange hier zu bleiben?«

»Ich weiß nicht. Je nachdem es mir hier behagt,« erwiderte er. Er hob seine schweren Augenlider und blickte Bestuschew unverwandt und gehässig an. Vielleicht hielt er Bestuschew für Sserjoschas Dämon, den Dämon der Leichtigkeit.

»Warum?« fügte er herausfordernd hinzu.

»Ich finde Ihre Anwesenheit schädlich.«

»Für wen? Vielleicht für Sie?«

»Nein, nicht für mich, sondern für Ihren Bruder.«

»Sind Sie vielleicht seine Wärterin?« Matwej Iwanowitsch erbleichte etwas und zuckte die Achseln. »Welches Recht haben Sie, mein Herr, sich zwischen mich und meinen Bruder zu stellen?«

»Ich will keinen Streit, Matwej Iwanowitsch,« entgegnete Bestuschew. »Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Ratschlag erteile, möglichst bald abzureisen.«

»Gestatten Sie, daß ich Ihren Ratschlag ablehne. Ich werde abreisen, wann es mir paßt.«

»Sie werden also nicht abreisen?«

»Scheren Sie sich zum Teufel!« schrie Matwej auf. Er zitterte nicht vor Rufregung, sondern regte, wie es Bestuschew schien, alle seine Glieder wie eine häßliche Riesenspinne.

»Ruhig Blut, Murawjow,« sagte Bestuschew, gleichfalls erbleichend. »Reisen Sie also ab, wann es Ihnen paßt. Ich bleibe aber doch bei meiner Ansicht. Wissen Sie, wie es in der Schrift heißt: Was du tust, das tue bald?«

Matwej Iwanowitsch wußte, daß diese Worte sich auf Judas den Verräter bezogen. Er sprang auf und ergriff Bestuschew bei der Hand. Golitzin dachte, daß sie sich gleich in die Haare fahren würden, und er sprang auf, um es zu verhindern. In diesem Augenblick kam aber Ssergej. Als beide Gegner sein krankes, unglückliches Gesicht sahen, kamen sie gleich zur Besinnung. Bestuschew bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief aus dem Zimmer.

Am nächsten Tage erklärte Matwej, daß er abreisen wolle. In der Nacht vor seiner Abreise hatte er die letzte Unterredung mit seinem Bruder, die Fürst Valerian zufällig belauschte.

Golitzin las wieder in Murawjows Bibliothek. Die beiden Brüder gingen im Garten immer auf dem gleichen Wege von der Haustür bis zum Fischweiher auf und ab und sprachen miteinander.

Die Nacht war still. Der Mond schien so hell, daß die weißen Lehmhütten das Auge blendeten. In dieser Stille schien eine Vorahnung, eine Erwartung zu schweben. Die Sterne flimmerten, und die Wipfel der Pappeln wiegten sich kaum hörbar. Je höher der Mond stieg, um so blendender wurde sein Licht, um so lautloser wurde die Stille. In allen Dingen lag aber eine Erwartung, eine Sehnsucht, eine fast unerträgliche Spannung.

Golitzin saß am offenen Fenster und hörte Bruchstücke der Unterredung.

»Ja, Sserjoscha, unser Vorhaben geht über unsere Kraft, über unsere Zeit und über jede Wahrscheinlichkeit hinaus,« sagte Matwej Iwanowitsch, »wenn mich auch vierzigtausend Pestels davon überzeugen wollten, daß das, was sie anstreben, in Erfüllung gehen wird, würde ich es doch nicht glauben; denn ich weiß, daß in der Welt nur das geschieht, was Gott will, und nicht was die Menschen wollen ...«

Weiter hörte Golitzin nicht, denn die Sprechenden entfernten sich vom Fenster; nach einer Weile hörte er wieder:

»Wir werden nichts erreichen, denn es ist ja überhaupt nichts zu erreichen, haben wir, die wir nur ein winziger Teil der großen Gesamtheit sind, überhaupt das Recht, unsere Ideen gewaltsam auch jenen aufzudrängen, die vielleicht mit dem gegenwärtigen Zustande einverstanden sind und sich nichts Besseres wünschen?«

Sie setzten sich beide vor die Haustüre, und jetzt konnte Golitzin sie nicht nur hören, sondern auch sehen. Ssergej hörte schweigend zu, den Kopf erschöpft in die Hände gestützt, während Matwej Iwanowitsch immer lebhafter wurde und sich wie eine Spinne regte.

»Was können wir uns auch versprechen?« sagte er fortfahrend. »Es sind ja nur metaphysische Betrachtungen zwanzigjähriger Fähnriche, die ihre freiheitliche Gesinnung zeigen wollen. Und diese Leute wollen das Land regieren und über das Schicksal des Volkes entscheiden! Wenn ich nicht wüßte, daß das einsame Leben die Begeisterung begünstigt, würde ich euch alle für verrückt erklären. Es gibt keinen Zweck, der die Mittel heiligt: wer einen unzweifelhaften Frevel wagt, um ein zweifelhaftes Wohl zu erreichen, der ist ein Verbrecher. Es kann dabei nichts Gutes herauskommen. Selbst im Falle eines Erfolges würden wir Rußland in ein Unglück stürzen, das wir uns heute noch gar nicht vorstellen können ...«

Irgendwo in der Ferne tönte ein Lied und es kam immer näher:

Sag' mir, du Mutter, sag' mir, mein Täubchen,
Wie soll ich leben, was soll ich treiben?

Golitzin erkannte Katrussjas Stimme. Omelkos Garten lag ganz in der Nähe. Katrussja besuchte Ssergej Iwanowitsch oft in seinem Garten; er war immer freundlich zu ihr, und sie kokettierte mit ihm, doch unschuldig und harmlos; vielleicht gefiel er ihr. Im dunklen Gesträuch regte sich etwas, man sah ein weißes Hemd, und am Zaune erschien ein schlankes Mädchen mit einem Kranze aus Mohnblumen und Immergrün auf den dunklen haaren. Im Mondlichte konnte man gut die Stickerei ihres Hemdes und jedes Blättchen des Kranzes unterscheiden. Der Zaun knarrte. Ssergej Iwanowitsch blickte auf, erkannte Katrussja und lächelte ihr zu. Huch sie nickte ihm zu und gab ihm ein Rätsel aus:

»Schwalbe oder Spatz?«

»Spatz! Spatz!« rief er lachend.

»Du bist mein Schatz!« erwiderte sie lachend, sprang in den Garten und verschwand aus dem Mondlichte in den Schatten, wie eine Nixe im schwarzen Wasser verschwindet.

»Sserjoscha, hörst du mir zu?« fragte Matwej Iwanowitsch.

»Gewiß, mein Freund. Alles, was du sagst, ist wahr, ist beinahe wahr. Ich denke mir ja oft dasselbe ...«

Er wollte noch etwas sagen, doch der Bruder ließ ihn nicht zu Worte kommen. Er sprach trübsinnig und eintönig und wiederholte immer dasselbe: »wir werden zugrunde gehen! Es wird dabei nichts herauskommen! Wir werden nichts erreichen!

Wir haben einen schweren Fehler begangen,« schloß er, »als wir ins Wasser gingen, ohne uns zuerst nach der Furt zu erkundigen: wir dachten, daß das Volk auf unserer Seite sei; das Volk ist aber gar nicht auf unserer Seite, – ich weiß es, Sserjoscha, widersprich mir nicht, ich weiß, daß es so ist! Man erzählt sich ja, daß bei der letzten Reise des Kaisers das Volk aus allen Ecken und Enden zusammenströmte, vor ihm niederkniete, sich vor die Hufe seiner Pferde warf, so daß er jeden Augenblick halten mußte, um diese zukünftigen Republikaner nicht zu überfahren! Wenn wir den Kaiser auch nur anrühren, wird uns das Volk in Stücke reißen, denn das Volk liebt ihn, glaubt an ihn wie an den Gesalbten Gottes, wie an Gott selbst!«

Er schwieg, umarmte den Bruder mit einer Hand, neigte sich zu ihm, blickte ihm ins Gesicht und sagte zärtlich, beinahe einschmeichelnd:

»Weißt du noch, Sserjoscha, wie wir nachts aus dem Schlachtfelde von Borodino zusammen unter einem Mantel lagen, weinten, beteten und schworen, für das Vaterland zu sterben? Weißt du noch, wie wir beide zugleich in Annette verliebt waren und du zu mir sagtest: ›Ich liebe sie, dich aber noch mehr; denn du bist mein Freund von der Wiege auf.‹ Bin ich denn nicht mehr dein Freund? Ist denn alles Gewesene für immer dahin? Sserjoscha, Brüderchen, höre mich doch um Christi willen an, ich bitte dich darum im Namen unserer verstorbenen Mutter. Stürze dich nicht ins Verderben und reiße auch die anderen nicht mit! Habe doch Mitleid mit mir. Ich kann nicht mehr. Es ist so häßlich, so schrecklich, ich fürchte nicht das menschliche Gericht, ich fürchte das Gericht Gottes, verlasse sie doch, gib sie auf, solange es noch nicht zu spät ist ...«

Ssergej schwieg noch immer, den Kopf in die Hände gestützt. Endlich begann er zu sprechen, und seine Stimme klang zuerst dumpf, wie von einer schweren Last erstickt, wurde aber immer fester und lauter:

»Was soll ich dir sagen? Du magst ja recht haben, wenn man das Ganze auch von vorne wieder beginnen müßte, würde ich es beginnen. Es ist ja eine schreckliche, eine teuflische Lüge, wenn man einen Menschen zu Gott macht, verderblich ist, nicht daß das Volk ungebildet, arm, hungrig und unterjocht ist, sondern daß es seine Seele dem Teufel verschrieben hat und den Menschen zu Gott gemacht hat. Es ist der Untergang Rußlands, es ist ewige Verdammnis!«

»Was kann aber der Zar dafür? Du sagst ja selbst, daß es das Volk getan hat ...« unterbrach ihn Matwej Iwanowitsch. Ssergej ließ ihn aber nicht mehr zu Worte kommen.

»Nein! Das Volk wußte nicht, was es tat, der Zar wußte es aber. Er sprach von einem ›Reich Gottes im Himmel wie auf Erden‹; was hat er aber erreicht? Was hat er, der Benedeite, der Erlöser Rußlands, der Befreier Europas, was hat er mit Rußland, was hat er mit Europa gemacht? Er hatte doch selbst in unseren Herzen das Licht der Freiheit angezündet, um es später so grausam zu ersticken! Er hat alles in den Kot gezerrt, alles geschändet, alles entweiht, er hat das Erhabenste zum Lächerlichsten, das Heiligste zu einer Blasphemie gemacht. Es ist das Reich des Tieres statt des Reiches Gottes! Dies kann man nie verzeihen. Möge es jemand verzeihen, der es kann; ich habe aber nicht die Kraft ... Dafür verdient er ja wenigstens den Tod! ... Ja, schweige, ich weiß es selbst: ›Du sollst nicht töten.‹ – Und doch würde ich ihn töten, hier gleich auf der Stelle, in Stücke reißen, erdrosseln, zertreten wie einen häßlichen Wurm!«

Golitzin konnte sein Gesicht nicht sehen, konnte aber aus seiner Stimme schließen, daß es ebenso schrecklich war, wie beim Gespräch über Gebel. Der Gedanke, daß dieses liebe, kindliche Gesicht sich so entstellen konnte, war ihm schrecklich.

»Sserjoscha, Sserjoscha! Was hast du? Du glaubst doch an Christus und redest solche Dinge!« rief Matwej Iwanowitsch aus.

Ssergej bedeckte das Gesicht mit den Händen und ließ sich erschöpft auf die Bank nieder. Er schien wieder von der schweren Last seines Bruders erdrückt.

Beide schwiegen eine Weile und setzten dann das Gespräch im Flüsterton fort. Matwej Iwanowitsch weinte, und Ssergej tröstete ihn so zärtlich, daß man kaum glauben konnte, er sei derselbe Mensch, der eben erst vom Töten sprach.

Es war Mitternacht; der Mond stand im Zenit; sein Licht war noch greller, die Stille noch lautloser, die Spannung noch unerträglicher.

Wieder erklang das Lied:

Sag' mir, du Mutter, sag' mir, mein Täubchen,
wie soll ich leben, was soll ich treiben? ...

Das wehmütige Lied brach plötzlich ab, und es erklang ein neues lustiges Lied, ausgelassen wie das Lachen einer Nixe.

Der Himmel und die Erde schienen nur darauf gewartet zu haben. Plötzlich sang, klang und lachte alles, und das helle Mondlicht wurde zu einem silbernen, klingenden Lachen.

»Es wird nichts daraus werden! Wir werden nichts erreichen!« weinte der Weinende.

»Es wird werden! Es wird werden! Wir werden alles erreichen!« lachte alles über dem Weinenden.

Auch Fürst Valerian sagte sich so froh, wie noch nie:

»Es wird werden! Es wird werden! Wir werden alles erreichen!«


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