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II.

Für Golitzin brach eine Reihe glücklicher Tage an. Er faulenzte ganze Tage, las keine Bücher, schrieb nichts und lebte gedankenlos in den Tag hinein. Die Schönheit des kleinrussischen Spätsommers erquickte ihn. Er war zwar noch nie in dieser Gegend gewesen, doch alles erschien ihm so vertraut, als ob er nach langen Wanderungen in seine Heimat zurückgekehrt wäre, oder als ob er dies alles schon in einem Traume seiner Kindheit gesehen hätte.

Wassilkow, ein kleines, stilles Nest, lag malerisch zwischen mehreren Hügeln. Es bestand aus kleinen grauen Holzhäusern und weißen Lehmhütten. Manche Gassen gingen erst steil hinauf und brachen plötzlich vor einem Abgrund ab: es war als ob sie in den Himmel führten. Unten im Tale schlängelte sich das seichte schlammige Flüßchen Stugna. In der Ferne blauten Berge, hinter ihnen lag der Dnjepr, doch so weit entfernt, daß man ihn nicht sehen konnte. Die weißen Hütten lagen meistens im dunklen Grün der Kirschgärten; Hütte reihte sich an Hütte, Gärtchen an Gärtchen, und dazwischen zogen sich die von Kürbispflanzen umrankten Zäune hin.

In den Häuschen wohnten kleine Grundbesitzer und Landwirte. Alle diese Leute aßen, tranken, schliefen, spielten Präferance mit kleinen Einsätzen, disputierten über die Frage, welcher Schnupftabak – ob der spanische, der Veilchen-, Bergamotte-, Roulierter oder Halbroulierter Tabak – der beste sei, ob Bonaparte tatsächlich gestorben sei, oder sich nur tot stelle, um Rußland wieder zu überfallen; sie besuchten die Kirche, destillierten Branntwein auf Weichselkernen und mästeten zum heiligen Osterfeste Schweine. Die jungen Mädchen lasen die neuesten Romane von Janlis und Radcliff, doch der altmodische »Knabe am Bach« von Kotzebue hatte noch immer den größten Erfolg.

»Ich liebe in den Büchern das Gruselige und das Empfindsame,« gestand eine der jungen Damen dem Fürsten Valerian.

Der Regimentskommandeur Gustav Iwanowitsch Gerbel veranstaltete ab und zu Tanzabende. Die älteren Damen spielten Boston, während die jüngeren mit den Offizieren zu den Tönen eines Clavecins tanzten. Bestuschew trat auf solchen Bällen als lustiger und galanter Kavalier auf. Eine sehr korpulente Dame fiel einmal erschöpft in einen Sessel und sagte, sich befächelnd:

»Ach, ich bin todmüde! Ich kann gar nicht mehr tanzen.«

»Ich glaube es Ihnen nicht: Sylphen ermüden nie!« entgegnete Bestuschew.

In solchen Augenblicken konnte man in ihm unmöglich den Verschwörer erkennen.

Die Tage vergingen eintönig in Übungen, Wachtdienst und Paraden. Die Herren Offiziere langweilten sich, tranken einen ungemein starken Château-Margaux aus Njeschin, schossen auf die Juden mit Salz und zerrten sie an den Schläfenlocken herum; oder sie saßen stundenlang am Fenster und sangen zur Gitarre:

Wer kann so glühend lieben,
Wie ich dich hab' geliebt?

Nachts spielten sie im jüdischen Wirtshaus Bank in Gesellschaft irgendeines zugereisten polnischen Hochstaplers, und es kam vor, daß der Pole gegen Mitternacht zum Fenster hinausflog mit den Worten:

»Meine Herren, ich protestiere!«

Jeden Morgen kam zu Golitzin barfuß mit unhörbaren Schritten Katrussja, schlank und frisch wie eine Pappel; sie brachte ihm kaltes Wasser, das ebenso rein war, wie ihr Lächeln, und schmückte die Heiligenbilder mit frischen Blumen.

Großmutter Dundutschicha überfütterte ihn mit den schmackhaften kleinrussischen Nationalspeisen, so daß er jede Nacht Leibschmerzen hatte. Jeden Abend nahm er sich vor, von nun an weniger zu essen, verdarb sich aber gleich am nächsten Tage wieder den Magen. In einem Monat hatte er so sehr zugenommen, daß der englische Reiseanzug, der ihm in Petersburg viel zu weit war, zu enge wurde. Er wurde so faul, daß er stundenlang am Fenster sitzen konnte und zuschauen, wie der alte Imker im Gemüsegarten herumging und die Wassermelonen mit großen Lattichblättern zudeckte, um sie vor der Sonnenglut zu schützen; wie der rothaarige Popensohn eine Ziege heimführte, die ihm durchaus nicht folgen wollte; wie Großmutter Dundutschicha mit dem Spinnrocken in der Hand ein Kalb heimtrieb und im Gehen ihre Wolle spann. Überall herrschte eine tiefe Stille; man hörte nur das Klopfen eines Webstuhles, das Summen eines Spinnrädchens und das Rauschen in den Pappeln.

Oder er stand auf dem Markte und beobachtete, wie zwei Juden miteinander stritten, wobei sie so erregt mit den Händen fuchtelten, als ob sie handgemein werden wollten; ihre schwarzen Schatten auf der blendend weißen Mauer bewegten sich aber noch viel schneller. Auf dem gleichen Platze hielten vor dem einzigen steinernen Gebäude des Städtchens Fuhrknechte, Ochsentreiber und Salzführer; ein träger Ochse lag auf dem Stroh, kaute langsam, und von seiner glänzenden schwarzen Schnauze tropfte wasserklarer Speichel. Ein betrunkener Fuhrknecht saß auf einem Eimer neben seinem Wagen, stützte den Kopf in die Hand und sang melancholisch:

Für den Fuhrknecht ist der Schnaps
     Schönste Gottesgabe.
Hat er Durst, so ist dahin
     Seine ganze Habe.

Das ganze Städtchen lag in der Sonnenglut stundenlang schlafend und unbeweglich da. Die Hunde schliefen und bellten nicht; die Hühner vergruben sich in den weichen Staub und schliefen ebenfalls. Sechs vor einem Pfluge angespannte Ochsen standen mitten in der Straße; der Bauer schlief, die Ochsen schliefen, und alles schlief. Ein Soldat weckte im Vorbeigehen den Bauern. Er gähnte, kratzte sich den Kopf und fluchte. Dann schlug er auf die Ochsen los, die Ochsen setzten sich träge in Bewegung, schliefen aber nach wenigen Schritten wieder ein.

Zuweilen zog eine Gewitterwolke herauf, und in der Stille des Mittags hörte man ein Rollen. War es wirklich Donner? Nein, nur das Poltern eines Wagens. Die Gewitterwolke zog aber vorbei, und die Stille wurde noch drückender.

»Wir fangen bald an. Wir haben den festen Entschluß gefaßt, mit der Revolution schon im Jahre 1826 zu beginnen,« sagte Bestuschew.

Golitzin hörte ihm zu und wußte nicht, ob das Rollen vom Donner oder von einem Wagen herrühre.

Murawjow sagte aber einmal:

»Die Untätigkeit der meisten Mitglieder, besonders aber des ganzen Nordbundes bedroht uns mit vielen Gefahren, so daß ich vielleicht schon bei der nächsten Truppenrevue beginnen werde.«

Golitzin glaubte, daß Murawjow tatsächlich sein Vorhaben ausführen werde. »Ja, hier werden sie wirklich anfangen,« sagte er sich, was ihm in Petersburg nie in den Sinn gekommen wäre. Je drückender die Stille ist, um so drohender ziehen Gewitterwolken herauf; jetzt wußte er ganz bestimmt, daß das ferne Dröhnen wirklicher Donner war.

Bestuschew erzählte ihm von den Slawen:

»Wissen Sie noch, wie es bei Radischtschew heißt: ›Ich blickte um mich, und mein Herz blutete beim Anblick der leidenden Menschheit!‹ So fing es auch bei ihnen an. Die beiden Brüder Borissow lebten mit ihrem Vater auf dem Lande und sahen täglich, wie die Gutsbesitzer die Bauern peinigten. Später beim Militär sahen sie auch nichts als Grausamkeiten, Spießruten und Knuten; als man einmal in ihrer Gegenwart einen Soldaten totgeschlagen hatte, leisteten sie den Eid, ihr Leben darauf zu setzen, daß solche Greuel sich nicht mehr wiederholten. Auch die Lektüre gewisser Bücher tat das ihrige. Die Lebensbeschreibungen berühmter Männer von Plutarch, alle die Griechen und Römer flößten ihnen schon in ihrer frühesten Kindheit die Liebe zur Freiheit und Demokratie ein. Im Kadettenkorps wollten sie eine geheime Sekte schaffen, deren Ziel in einsamem, beschaulichem Leben, in der Erforschung der Natur und der Selbstvervollkommnung in allen Tugenden bestand. Ihnen schwebten wohl die alten Pythagoreer vor. Ihr Wappen stellte zwei über einem flammenden Altar verschlungene Hände dar, und ihre Devise lautete: › Gloire, amour, amitié‹. Die Sekte hieß die ›Loge zur Ersten Eintracht‹. Sie erfanden sich Hieroglyphen, Symbole und Gebräuche. Einmal veranstalteten sie während der Sommerferien im Dorfe Reschetilowka im Poltawschen Gouvernement eine pythagoreïsche Prozession in weißen Gewändern, mit Musik und Gesang, zu Ehren der aufgehenden Sonne. Als sie schon Offiziere waren, gründeten sie in Odessa die Freimaurerloge ›Freunde der Natur‹ und fügten zu ihren früheren Zielen noch die Reinigung der Religion von Vorurteilen und die Begründung der bekannten Platonischen Republik hinzu. Aus diesen beiden Verbindungen entstand später der Geheimbund der Slawen ...«

»Welches Ziel streben sie an?« fragte Fürst Valerian.

»Die Vereinigung aller slawischen Völker zu einer Republik.«

»Nur!«

»Lachen Sie nicht, Golitzin. Wenn Sie wüßten, was es für Menschen sind! Es sind echte Griechen und Römer. Aus ihnen sollte man die ›Todgeweihte Kohorte‹ bilden. Es sind Menschen, die dem Vaterlande jedes Opfer bringen wollen ...«

Als Golitzin erfuhr, daß diese armen Leutnants und Fähnriche ein Zehntel ihres Gehalts für Gründung von Dorfschulen und Loskauf von Leibeigenen spendeten, und daß beide Borissows förmlich Hunger litten und sich dabei noch immer das vereinbarte Zehntel von ihrem Gehalt abziehen ließen, hörte er auf zu lachen.

Er wollte gerne Borissow näher kennen lernen. Doch so oft er mit ihm ein Gespräch anknüpfte, wurde dieser verlegen, errötete und begann zu stottern. Das Sprechen fiel ihm so schwer, daß Golitzin nicht den Mut fand, das Gespräch fortzuführen.

»Ein Sonderling! Ist er immer so?« fragte er Bestuschew.

»Ja, er ist immer verschlossen, und man kann aus ihm nie klug werden. Sein Bruder, Andrej Iwanowitsch, ist noch viel schlimmer. Ich glaube, er leidet an Melancholie. Er sitzt den ganzen Tag zu Hause und verkehrt mit niemand. Er geht nur ab und zu ins Freie, um Blumen zu pflücken und Schmetterlinge zu jagen.«

Gorbatschewskij schob die Verhandlungen mit dem Südbunde auf den Herbst hinaus und wollte nach Nowgrad-Wolynsk reisen, wo die 8. Artilleriebrigade, bei der er und Borissow dienten, stand. Borissow sollte mit ihm reisen, schob die Abreise aber immer hinaus. Bestuschew erriet, daß ihm das Reisegeld fehlte.

Einmal sah Golitzin an einem Kreuzweg einen alten blinden Leiermann. Er spielte auf der Leier und sang vom Helden Bogdan Chmelnizkij, von der einstigen Kosakenrepublik und der alten Kosakenfreiheit.

Golitzin konnte die Worte kaum verstehen, doch die Andacht der Zuhörer, das begeisterte Gesicht des Alten mit den über den blinden Augen hoch erhobenen Brauen, seine zitternde Stimme, das leise Klirren der Saiten und die traurige Melodie sagten ihm mehr als Worte.

»Jetzt ist das Kosakenreich mit Unkraut bewachsen, und Gott hat die freie Steppe verflucht: die Steppengräser verwelken, die Quellen versiegen, die alte Freiheit ist verschwunden, und niemand kann sie wiederbringen!« schloß der Sänger. Ein Zuhörer schluchzte; ein anderer wischte sich mit dem Ärmel Tränen aus den Augen; ein alter Kosake mit langem grauen Schnurrbart ließ den Kopf hängen und seufzte so schwer, als ob er die Kunde vom Tode eines geliebten Sohnes hörte.

Doch die Stimme des Sängers klang noch feierlicher:

Die Kosakenköpfe in den Schlachten sind
Umgefallen, wie das Steppengras im Wind;
Doch das Lied kann nicht vergehen, kann nicht fallen:
Lange wird es von den Rittertaten hallen.

Das Lied brach ab. Die letzten Worte konnte Golitzin gut verstehen, und es war ihm, als ob er etwas Liebes und Vertrautes hörte. Glich nicht die alte Freiheit, für die diese einfachen Menschen ihr Leben opferten, jener neuen Freiheit, für die die Verschwörer sterben wollten?

Er ging auf den Sänger zu und legte in seine Hand, wo schon Kupfermünzen lagen, einige Silbermünzen. Der Leiermann erkannte das Silber und wandte sich zu Golitzin:

»Lieber Herr! Möchte dich Gott so belohnen, wie du mich belohnt hast!«

»Bist du schon lange blind, Alter?« fragte Golitzin.

»Es ist schon lange her, lieber Herr, sehr lange. Ich weiß selbst nicht mehr, wieviele Jahre ich so in der Welt herumirre und die Sonne nicht sehe ...«

Er richtete seine blinden Augen auf die Sonne und sagte mit der gleichen traurigen Stimme, mit der er eben sang, so daß seine Worte als Fortsetzung des Liedes erschienen:

»O Licht, liebes Licht! Ich kann dich nicht sehen, doch ich will noch nicht sterben ...«

»Nun, Fürst, wie hat es Ihnen gefallen?« hörte plötzlich Golitzin, als er aus der Menge trat. Es war Pjotr Iwanowitsch Borissow.

»Wunderbar!« rief Fürst Valerian aus.

»Ich habe gar nicht erwartet, daß es Ihnen gefallen würde,« bemerkte Borissow.

»Warum denn?«

»Ich weiß wirklich nicht ... Ich meine, daß Sie in Petersburg genug italienische Opern zu hören bekommen, gegen die unsere Sänger gar nicht aufkommen können ...«

»Kann man es denn überhaupt vergleichen? Mir ist dieser Gesang lieber, als jede Oper.«

»Ist das Ihr Ernst? Sie sollten doch einmal unsern Jawtuch Schapowalenko hören! Der singt noch viel besser ...« Borissow wurde plötzlich verlegen, schwieg und nahm schnell Abschied:

»Leben Sie wohl, Fürst ... Wir gehen verschiedene Wege ...«

Mit diesen Worten reichte er ihm die Hand, doch sehr unsicher: er hoffte wohl, daß Golitzin die Hand übersehen werde.

»Darf ich Sie vielleicht begleiten, Pjotr Iwanowitsch?«

»Ich weiß wirklich nicht, ich gehe ja zu den Juden ... Da ist es wirklich nicht schön, es wird Ihnen übel werden ...«

»Sie sind ein Sonderling, Borissow! Bin ich denn ein junges Mädchen?«

»Nein, ich habe es gar nicht so gemeint ...« Borissow wurde noch verlegener. »Mir kann es ja gleich sein, kommen Sie mit.«

Unterwegs sprach er kein Wort und schien seine Rede von vorhin zu bereuen. Golitzin wollte ihn aber diesmal nicht loslassen. Borissow führte ihn ins jüdische Viertel.

Wie in allen kleinrussischen Städtchen wohnten die Juden auch hier in allen Straßen verteilt, nisteten aber mit Vorliebe in ihrem eigenen Viertel, hier gab es elende baufällige Lehmhütten mit spitzen Dächern. Die Straßen waren schon an sich eng; zahllose Vorsprünge und Verkaufsstände machten sie noch enger. Aus den Fenstern hingen schmutzige Lumpen heraus; auf Haufen von Abfällen balgten sich halbnackte Kinder und Hunde; der Schmutz verbreitete unerträglichen Gestank.

Borissow und Golitzin traten in eines von den Häusern. Eine schwangere Jüdin mit schwindsüchtigem Gesicht und einem gestreiften Turban auf dem rasierten Schädel machte sich am glühenden Herde zu schaffen: es war Freitag und sie mußte noch rechtzeitig den Schaleth für den Sabbat in die glühende Asche vergraben; denn am Sabbat darf kein Feuer angemacht werden.

»Nun, wie geht es Baruch?« fragte Pjotr Iwanowitsch.

»Sehr schlecht, durchlauchtigster Herr, sehr schlecht. Er will noch immer nicht sterben und ißt sein Brot umsonst. Wenn ihn Gott doch bald zu sich nehmen wollte!«

»Es ist noch nicht so weit, Riwe! Wir werden ihn mit Gottes Hilfe gesund machen,« sagte Borissow und drückte ihr etwas in die Hand.

»Danke, danke, lieber guter Herr! Gott erweise Euch seine Gnade!« Sie wischte sich mit einem Ende des Turbans die Augen und beugte sich, um Borissow die Hand zu küssen. Borissow zog die Hand weg.

Sie stiegen auf finsteren Stufen in einen finsteren Keller hinab. Auf dem Boden lagen Haufen Lumpen und standen Kübel mit schmutzigem Spülwasser. Der Gestank war so schrecklich, daß man kaum atmen konnte. An der Ostwand stand ein mit verschossenem Brokat verdeckter Schrein, der die Thorarollen enthielt; an einem Haken hing ein Säckchen mit den Gebetriemen; daneben eine geflochtene Kerze aus grünem wachs, die am Sabbatschluß angezündet wird. Huf einem mit Lumpen bedeckten Koffer lag ein Greis mit langem weißen Bart, wie Hiob in der Asche.

Baruch Eppelbaum, der große Chassid und Eiferer des Gesetzes, war einmal reicher Kaufmann gewesen. Als aber seine Lieblingstochter mit einem christlichen Ladengehilfen durchbrannte, vernachlässigte er die Geschäfte, verarmte und kam schließlich krank, beinahe sterbend, nach Wassilkow, wo er bei entfernten Verwandten Unterkunft fand. Baruch hatte einmal Borissow mit einem Darlehen aus der Klemme geholfen; dafür pflegte ihn Borissow jetzt, da der Alte verlassen war, wie eine zärtliche Krankenschwester.

»Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm! Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe vor deinem Dräuen, und ist kein Friede in meinen Gebeinen vor meiner Sünde! Meine Wunden stinken und eitern vor meiner Torheit!« schrie Baruch hebräisch feierlich und klagend zugleich, und man konnte nicht verstehen, ob er betete oder Gotteslästerungen ausstieß.

»Nun, mein Lieber, ziehe dein Hemd aus, ich will dich wieder einreiben,« sagte Borissow, sich dem Alten nähernd.

»Ach, ach, lieber Herr!« stöhnte Baruch auf. »Laß mich doch, wie mich schon alle verlassen haben! Ich brauch deine Salbe nicht! Wie ein Hund werde ich verrecken! Verflucht sei der Tag, darin ich geboren bin! Und die Nacht, welche sprach: Es ist ein Männlein empfangen!« schrie er wieder hebräisch.

»Mach keine langen Umstände! Ich werde dich einreiben, und es wird dir gleich besser werden.«

Borissow half ihm das zerrissene schmutzige Hemd ausziehen. Golitzin sah einen leichenblassen Körper mit roten Flecken und schrecklichem Ausschlag und wandte sich unwillkürlich ab. »Bin ich denn wirklich wie ein junges Mädchen?« fragte er sich.

Borissow machte seine Arbeit wie ein geschickter Arzt. Er krempelte sich die Ärmel auf, holte ein Töpfchen mit Salbe aus der Tasche und begann den Juden einzureiben. Dieser stöhnte und wand sich vor Schmerz, denn die Salbe war scharf und ätzend.

Als Borissow fertig war, lag der Kranke lange unbeweglich mit geschlossenen Augen wie ein Toter da. Nach einigen Minuten blickte er Borissow an und sagte so, als ob er ein eben unterbrochenes Gespräch fortsetze:

»Ihr habt neulich gesagt, Euer Wohlgeboren, daß Jeschua Hanozri den Menschen viel Gutes getan hat. Ich sage aber: Er hat nur Böses getan. Niemand noch hat den Menschen so viel Böses getan, wie Jeschua Hanozri ...«

»Du redest Unsinn, Baruch! Was hat er denn Böses getan?«

»Das will ich Euch gleich sagen, Euer Wohlgeboren, hört mir nur zu. Ich bin zwar ein räudiger Hund, ein gemeiner Jud, doch ich weiß alles besser als Ihr ...« Er lächelte verschmitzt wie ein gewiegter Kasuist und vermischte die russische Sprache mit der kleinrussischen, polnischen und jüdischen; er sprach aber so überzeugt und begeistert, daß Golitzin fast jedes Wort verstand. »Ich schaue zum Fenster hinaus und sehe: da geht Lejb aus Berditschew, da geht Schmul aus Njeschin, und da geht Jeschua Hanozri. Lejb ist ein Jud, Schmul ist ein Jud, alle Juden sind einsam, doch wer ist Jeschua Hanozri? – Hört, hört, ich will Euch alles sagen,« fuhr der Alte fort, sich an beide wendend; er hatte bemerkt, wie aufmerksam ihm Golitzin zuhörte, und dies schmeichelte ihn. »Ihr Christen wißt es nicht, doch wir Juden wissen es ganz genau, wer Jeschua Hanozri ist. Wir kennen seine ganze Familie, seine Eltern, Schwestern und Brüder!« Er zwinkerte schlau mit den Augen und kicherte. »In Warschau kannte ich einen Herrn, der ebenso klug und gut war, wie Euere Gnaden. Dieser Herr gab mir einmal das Evangelium zu lesen. ›Lies es,‹ sagte er, ›vielleicht wird es dir zum Heil gereichen.‹ – Ich begann zu lesen, konnte es aber nicht zu Ende lesen. ›Warum kannst du es nicht zu Ende lesen?‹ fragte er mich. ›Entschuldigt mich,‹ sagte ich, ›Euer Wohlgeboren, es ist gar zu komisch, die Leber wird mir noch zerplatzen!‹ – ›Dummkopf!‹ sagte er mir, ›was ist denn dabei so komisch?‹ – ›O weh,‹ sagte ich, ›entschuldigt mich, (Euer Wohlgeboren, wie ist es denn möglich, daß ein Kindlein ohne Vater zur Welt kommt?‹«

Er lachte nicht mehr. Er ballte die Fäuste und sein Gesicht verzerrte sich wie bei einem Besessenen. Er schrie:

»Im Gesetz heißt es: höre, Israel, Ich bin der Herr dein Gott! – Doch er, der Mensch, hat sich zu Gott gemacht. Es gibt kein größeres Übel in der Welt. Er sei verflucht, verflucht, verflucht, der Betrüger!« donnerte der Alte im gleichen heiligen Zorn, in dem der Hohepriester Kaiphas einst seine Kleider zerriß. »Ich bin ein gemeiner Jud, ein räudiger Hund, doch aus eueren Gott ...« Er schloß mit einer entsetzlichen Gotteslästerung.

»Nun, wie gefällt er Ihnen? Mein Jude ist doch gar nicht so dumm?« fragte Borissow, als sie wieder draußen waren.

»Ein echter Philosoph, ganz wie sein Namensvetter Baruch Spinoza!« erwiderte Golitzin. »Die Hauptsache verstehen sie aber alle nicht.«

»Was ist denn die Hauptsache?«

»Das werde ich Ihnen nicht sagen. Sie haben ja neulich selbst gesagt: Schuster, bleib bei deinem Leisten ...« antwortete Fürst Valerian lächelnd.

»Ich fürchtete schon, daß Sie es mir sagen werden,« erwiderte Borissow. Dann lächelte auch er und fragte:

»Wo gehen Sie eigentlich hin?«

»Nach Hause.« Golitzin wollte sehen, ob sich Borissow darüber freuen würde, daß er ihn in Ruhe ließ.

»Haben Sie etwas zu tun?« fuhr Borissow fort.

»Nein.«

»Besuchen Sie mich doch. Wissen Sie was, Golitzin? Ich wollte schon längst mit Ihnen sprechen, hatte aber immer Angst ...«

»Was fürchteten Sie denn?«

»Mein Vater pflegte zu sagen: Mit großen Herren ist nicht gut Kirschen essen ...«

»Haben Sie mich denn für einen großen Herrn gehalten?«

»Ja, Sie sollen mir aber nicht böse sein. Jetzt denke ich anders von Ihnen.«

»Was denken Sie sich denn von mir?«

»Jetzt sehe ich, daß Sie, wie sich der alte Imker ausdrückt, ein Mensch wie alle Menschen und kein Herr sind.«

»Gott sei Dank!«

»Sie sind mir doch nicht böse?«

»Nein! Sie sind doch wirklich sonderbar!«

Borissow drückte Golitzin plötzlich die Hand und sagte:

»Hat Ihnen Bestuschew von den Slawen erzählt?«

»Ja.«

»Haben Sie es begriffen?«

»Nein, nicht ganz.«

»Es ist doch höchst einfach.«

»Oft ist das Einfachste am unverständlichsten.«

»Ja, das ist es eben: das Einfachste ist immer am unverständlichsten. Sie können es aber doch verstehen. Sie haben den Blinden verstanden, Sie haben den Juden verstanden, folglich werden Sie auch uns verstehen.«

Als er so deutlich und zusammenhängend sprach, war er wie verändert. Buch sein Gesicht erschien Golitzin verändert und er erstaunte: »Welch ein liebes Gesicht! Sonderbar, daß ich es nicht früher bemerkt habe!«

Borissow wohnte außerhalb des Städtchens am Boguslawer Tor, in einer kleinen Hütte. Die zwei winzigen Zimmerchen waren fast ohne Möbel.

Als sie das Haus betraten, sprang ein junger Mann, der am Fenster etwas zeichnete, und das gleiche liebe, traurige Gesicht wie Borissow hatte, erschrocken auf und lief, ohne den Gast zu begrüßen, ins andere Zimmer, wo er sich sofort einsperrte. Es war Borissows Bruder, Andrej Iwanowitsch.

Borissow zeigte seinem Gaste eine Sammlung von Schmetterlingen und anderen Insekten, sowie Zeichnungen, auf denen Tiere, Vögel, Pflanzen und Feldblumen dargestellt waren.

»Das hat alles Andrej Iwanowitsch gemacht. Er ist doch ein wahrer Künstler, nicht wahr?« sagte er stolz.

Die Zeichnungen waren in der Tat sehr gut.

»Es ist hier zu heiß, und es gibt zu viel Fliegen, wir wollen lieber in den Garten gehen,« schlug Borissow vor.

Golitzin begriff, daß er seinen kranken Bruder nicht stören wollte.

Am Hause gab es gar keinen Garten. Sie kletterten über einen Zaun in einen fremden Garten, der dem Küster gehörte, und setzten sich im Schatten der Kirschbäume auf einen Haufen leerer Bienenstöcke, die im hohen Grase lagen. Die Luft über der weißen Landstraße flimmerte und funkelte vor Glut; im Schatten war es kühl; ein dünner Wasserstrahl rieselte in einer moosbewachsenen Holzmulde, und das leise Summen der Bienen klang wie fernes Glockengeläute.

»Erklären Sie mir also, was Sie eigentlich nicht verstanden haben,« begann Borissow.

»Ihre Gesellschaft strebt doch eine Vereinigung aller slawischen Völker zu einer einzigen Republik an?« fragte Golitzin.

»Ja. Wir denken uns einen föderativen Staatenverband, in der Art des altgriechischen, doch viel vollkommener.«

»Mit welchen Mitteln wollen Sie dieses Ziel erreichen?«

»Die Mittel sind wohl die gleichen wie bei Ihnen. Ich weiß wirklich nicht ... Also Revolution, Thronabsetzung usw. Sie wissen es ja ...«

Solange er von den Mitteln sprach, merkte man, daß er fremde Sätze nachsprach, die ihn gar nicht interessierten. Er schwieg eine Weile und fuhr mit traurigem und freundlichem Lächeln fort:

»An die Mittel haben wir ja anfangs überhaupt nicht gedacht. Wir glaubten, daß man einen Umsturz mit der gleichen Leichtigkeit bewerkstelligen könne, mit der die Pariserinnen ihre Moden wechseln. Wir machten uns keine Sorgen und lebten wie im Paradiese. Wir warteten auf Wunder. Wir glaubten, daß wir auch Berge verrücken könnten. Erst später sahen wir, daß es gar nicht so einfach ist. Ja, wir werden uns wohl von vielem lossagen müssen, wenn wir uns mit dem Südbunde vereinigen. Es ist eigentlich schade. Es war zu schön ...«

Er reichte Golitzin ein dünnes Heft in blauem Umschlag, das ganz wie ein Schulheft aussah; er hatte es eben von zu Hause mitgenommen.

»Hier ist unser Statut. Lesen Sie es selbst, vielleicht werden Sie es dann besser verstehen.«

Fürst Valerian las:

»Du bist ein Slawe und du wirst in deinem Lande an den Gestaden der Meere, die es umgeben, vier Häfen gründen. In der Mitte wirst du aber eine Stadt erbauen und die Göttin der Aufklärung auf den Thron erheben. Von diesem Thron wirst du deine Gesetze empfangen, und du wirst dich ihnen fügen müssen, denn sie werden nie von den Wegen, die du dir vorgezeichnet, abweichen.

Wenn du dies erreichen willst, so verbinde dich mit deinen Brüdern, die durch die Unbildung ihrer Vorfahren dir entfremdet sind.«

Zwischen den Zeilen war ein Achteck gezeichnet mit folgender Erklärung:

»Die acht Seiten bedeuten die acht slawischen Völker: Russen, Polen, Tschechen, Serben, Kroaten, Dalmatiner, Transsilvaner und Mähren. Die vier Anker bedeuten vier Häfen: am Baltischen, Weißen, Schwarzen und Mittelländischen Meere. Die Zahl Eins in der Mitte bedeutet die Einheit aller dieser Völker.«

Eine Anmerkung besagte:

»Dieses Zeichen kann auch als Siegel gebraucht werden.«

Weiter kamen einzelne Aussprüche:

»Der Geist der Sklaverei ist immer stolz und aufgeblasen, doch der Geist der Freiheit – einfach.«

»Du bist nur dann Mensch, wenn du auch in deinem Nächsten den Menschen erkennst.«

»Vertraue niemand, außer deinen Freunden und deinen Waffen; die Freunde werden dir helfen, und die Waffen werden dich beschützen.«

»Wenn du dein Schwert ziehst, so wirf die Scheide weit von dir weg.«

Schließlich kam der Eid:

»Mit dem Schwert in der Hand werde ich das Ziel, das ich mir vorgezeichnet, erreichen. Ich will tausendmal den Tod erleiden und tausend Hindernisse überwinden, um meinen letzten Atemzug der Freiheit zu weihen. Ich schwöre, daß ich, von diesem für mich so heiligen Augenblicke an, euch, meine Freunde, bis zum letzten Tropfen Blut beistehen werde. Wenn ich diesen Eid breche, so möge die Spitze dieses Schwertes, auf dem ich schwöre, sich gegen mein Herz richten!«

Golitzin hatte ein seltsames Gefühl: er zweifelte nicht, daß solche Menschen wie Borissow tatsächlich für jedes Wort und für jeden Buchstaben dieses einfältigen Heftchens gerne den Tod empfangen würden; andererseits hielt er die slawische Republik für den gleichen Unsinn, wie die pythagoreïsche Prozession zu Reschetilowka.

»Vielleicht ist das das Richtige? Es sei denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder ...« sagte er sich wieder, wie einst in Petersburg auf der Versammlung bei Rylejew.

Borissow schwieg verlegen und glättete die zerknüllten Ecken des Heftes. Auch Golitzin schwieg, und das Schweigen wurde peinlich.

»Wissen Sie, Borissow, das Ganze ist ja gar keine Politik,« sagte er endlich.

»Was ist es denn?« fragte Borissow. Er warf ihm einen raschen Blick zu und schlug die Augen nieder.

»Vielleicht ist es eine Religion? ...« entgegnete Golitzin.

»Wie ist denn eine Religion ohne Gott möglich?«

»Glauben Sie denn nicht an Gott?«

»Nein, ich ... ich weiß nicht, ich weiß nicht ... Sie wissen noch, was ich neulich bei Murawjow gesagt habe: Ich bin wie die Juden, ich kann Seinen Namen nicht aussprechen, ich kann nichts sagen. Wenn ich auch nur ein Wort sage, ist alles dahin. So ist es auch jetzt: ich habe Ihnen von unseren Zielen erzählt, und alles ist dahin ...«

Sein Gesicht wurde bleich, seine Lippen verzerrten sich wie im Krampfe, und seine Finger, mit denen er noch immer das Heft glättete, bebten.

Fürst Valerian fühlte schmerzvolles Mitleid mit ihm. Es tat ihm so weh, als ob wirklich alles verloren wäre.

»Nein, es ist noch lange nicht verloren,« sagte er. Er hatte solches Mitleid mit ihm, daß er ihn anlügen wollte. Doch ebenso wie ein Ertrinkender sich bei der Berührung mit dem Grund von einer seltsamen Kraft wieder emporgetrieben fühlt, so fühlte plötzlich auch er, daß es weder Mitleid noch Lüge war. »Es ist ja noch nichts verloren,« widerholte er, »alles ist ja noch da.«

»Was ist denn noch da?« fragte Borissow.

»Die Hauptsache bleibt noch immer, wie es in Ihrem Eide heißt: ›Den letzten Atemzug der Freiheit weihen.‹ Wenn Sie Seinen Namen nicht aussprechen können, wenn Sie von Ihm nichts sagen können, so tun Sie nur stumm Ihr Werk; die anderen werden es schon sagen.«

Borissow blickte ihn verschämt lächelnd an, sagte aber nichts.

Auch Golitzin schwieg, wie von ihm angesteckt, als ob auch er glaube, daß man davon nicht sprechen dürfe: wenn man auch nur ein Wort sagt, ist alles dahin.

Die Stille des Mittags war drückend und unheimlich, kein Blättchen regte sich, und in diesem Schweigen lag das gleiche Geheimnis, die gleiche Vorahnung eines Grauens wie in der finstersten Mitternacht.

Golitzin kam es plötzlich vor, daß jemand hinter seinem Rücken stehe, daß dieser Jemand gleich vortreten und seinen Namen demjenigen eröffnen werde, der ihn noch nicht kannte. Ein Hauch des Grauens berührte ihn.

Er stand auf und blickte sich um; im Garten war niemand, im dunklen Dickicht schimmerte ein weißer von der Sonne grell beleuchteter Bienenstock, und das leise Summen der Bienen klang wie fernes Glockenläuten.

Golitzin fiel das ferne Glockenläuten in der leeren Straße von Petersburg ein, als Rylejew zu ihm gesagt hatte:

»Und doch müssen wir anfangen!«

Damals hatte er noch gezweifelt, jetzt wußte er aber bestimmt, daß sie anfangen werden.


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