Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Die alte Feindschaft zwischen den beiden Günstlingen des Kaisers – Araktschejew und Golitzin – hatte sich in der letzten Zeit so sehr zugespitzt, daß der Kaiser selbst darunter zu leiden begann. Jetzt mußte er wählen und den einen dem andern opfern. Er konnte aber keinen der beiden entbehren: Araktschejew brauchte er für die irdischen Dinge, Alexander Nikolajewitsch Golitzin – für die himmlischen.

Golitzin hatte den Kaiser zum Christentum bekehrt: sie pflegten zusammen zu beten und die heilige Schrift zu lesen; sie hatten zusammen die Bibelgesellschaft und die Heilige Allianz begründet und das Reich Gottes im Himmel wie auf Erden herbeigesehnt. Aber auch ohne Araktschejew konnte er nichts unternehmen, konnte sich überhaupt nicht rühren.

Das Schlimmste aber war, daß Araktschejew, wie es der Kaiser ahnte, sich gegen Golitzin mit dem Metropoliten Seraphim und dem Archimandriten Photius verschworen hatte. Die ganze Geistlichkeit haßte Golitzin; bisher hatte sie den Haß verheimlicht, sich ins Unvermeidliche gefügt und geschwiegen. Erst als Photius auftrat, kam unter die Geistlichkeit Bewegung und Aufruhr.

»Golitzin hat sich zum Patriarchen ernannt, hat das ganze Priestertum zugrunde gerichtet, hat alles selbst in die Hand genommen!« schrie Photius. Die andern unterstützten diese Anklagen. »Aus dem heiligen Synod hat er eine Kanzlei seines Ministeriums, oder offen gesagt, – einen Abort gemacht.«

Zwischen dem Ministerium und dem Synod war in der letzten Zeit ein wahrer Rattenschwanz von Streitigkeiten entstanden. Der Kaiser hoffte aber wie immer, auch hier Unversöhnliches zu versöhnen und es beiden Teilen recht zu machen.

Dies wollte er eben mit Araktschejew besprechen. Sie waren aber beide viel zu verschlossen, um gleich mit den Worten herauszukommen. Sie sprachen von allen möglichen Dingen, gingen vorsichtig um den Brei herum, verstellten sich und spielten gleichsam Blindekuh; sie beobachteten und betasteten einander wie zwei Kämpfer vor dem Streite.

Der Kaiser lobte Photius. Araktschejew stimmte ihm zu.

»Ein heiliger Mann ist er, Majestät und Väterchen, ein wahrhaft heiliger Mann. Wir haben nur zwei solche Männer in Rußland: der eine ist Vater Photius, der andere – Vater Seraphim, der Glaubenseiferer von Sarow.«

Wie alle Schwerhörigen, war auch der Kaiser schüchtern und empfindlich: er liebte es nicht, wenn man mit ihm zu laut sprach, denn es kränkte ihn, wenn man ihn als Tauben behandelte; sprach man aber leise, so fürchtete er, etwas zu überhören. Araktschejew allein verstand es, ohne die Stimme zu erheben, so deutlich zu sprechen, daß der Kaiser jedes Wort hörte.

»Was sollen wir nur mit Golitzin anfangen, Alexej Andrejitsch?« begann der Kaiser mit erheuchelter Gleichgültigkeit, als er sich überzeugt hatte, daß Araktschejew dieses Thema um nichts in der Welt von selbst berühren würde. Er warf ihm einen schnellen Blick zu; Araktschejews Gesicht war wie versteinert, und der Kaiser ahnte, daß Unheil im Anzuge sei.

»Ich weiß wirklich nicht, was wir mit ihm tun sollen ...« fuhr er ängstlich und einschmeichelnd fort. »Alle Geschäfte stehen still. Du solltest doch mit dem Metropoliten sprechen und ihn zu einer Versöhnung mit Golitzin zu bewegen suchen. Das könntest du wirklich tun. Tu es mir zu Gefallen, mein Freund ...«

»Zu Befehl, Majestät. Wie Sie es mir befehlen, so werde ich es auch ausführen,« erwiderte Araktschejew in trockenem militärischem Tone, beinahe grob, wobei sein Gesicht noch härter wurde.

»Du sollst es dir nur nicht irgendwie falsch deuten, Alexej Andrejitsch, um Gottes willen! Ich habe es nur so gesagt ... Wenn du ... Wenn dir ...« Das eisige Schweigen Araktschejews ließ ihn stocken und brachte ihn ganz aus der Fassung. Er erschrak und bereute, dieses Gespräch angefangen zu haben.

Beide schwiegen eine geraume Weile, ohne einander anzublicken.

»Majestät,« sagte schließlich Araktschejew mit jener dumpfen, feierlichen Grabesstimme, die der Kaiser über alles fürchtete. »Ich halte es für meine Pflicht, als treuer Untertan Ew. Majestät nur die reine Wahrheit zu sprechen. Sie waren so gnädig, mich selbst daran zu gewöhnen. Da ich auch den göttlichen Zorn fürchte, will ich ...«

»Nicht doch, Alexej Andrejitsch ... Ich habe ja gar nichts gesagt ...« versuchte ihn der Kaiser zu besänftigen.

»... Da ich auch den göttlichen Zorn fürchte,« fuhr Araktschejew schonungslos fort, »muß ich Ihnen die reine Wahrheit sagen. Ich kümmere mich nie um fremde Handlungen; da ich aber aus Erfahrung weiß, daß es mehr schlechte Menschen gibt als gute, und daß in der Welt mehr Böses als Gutes geschieht, habe ich mir ein für allemal vorgenommen, mit niemand zu verkehren und mich einzig und allein meiner Amtstätigkeit zu widmen. Es wäre aber ruchlos, wenn ich Ew. Majestät Dinge verschweigen würde, von denen ich Kenntnis habe. Fürst Alexander Nikolajewitsch Golitzin ...«

Seine Stimme wurde plötzlich hoch, weinerlich und durchdringend. Der Kaiser versuchte nicht mehr, ihn zu unterbrechen. Er lauschte ihm mit gesenktem Kopf und gleichsam schuldbeladen, wie jener alte General, dem Araktschejew neulich eine Rüge erteilt hatte.

»Fürst Golitzin ist ein Feind des Zaren und des Vaterlandes, ein ruchloser Hochverräter. Das Erscheinen gottloser Bücher durchbohrt die Herzen wohlgesinnter Untertanen mit tiefem Schmerz. Die Lektüre der im ganzen Reiche verbreiteten Bibeln weckt im gemeinen Volk freigeistige Ideen, wie leicht kann es zu einer Revolution kommen! Die Verseuchung der Geister ist eine allgemeine. Freigeistigkeit, Unzucht, Revolution ...«

Der Kaiser erwartete zitternd, daß Araktschejew die Rede auf die Geheime Gesellschaft bringen würde. Araktschejew ließ aber den Kaiser, wie immer, im unklaren, ob er von dieser Verschwörung etwas wußte oder nicht. So ließ er diese Angst beständig über dem Haupte des Kaisers schweben.

»Im übrigen geschehe alles nach dem Willen Ew. Majestät; ich habe die Sachen nur so geschildert, wie ich sie mit meinem bescheidenen Verstand auffasse. In meinem einundfünfzigsten Lebensjahre brauche ich nicht erst Gehorsam und Schweigen zu lernen; denn ich bin beides von meiner Jugend auf gewöhnt. Der Befehl Ew. Majestät soll ausgeführt werden!« Er erhob sich und stand stramm wie ein Soldat in der Front.

»Alexej Andrejitsch! ... Alexej Andrejitsch! ...« rief der Kaiser bekümmert. »Du weißt doch, wie sehr ich dir ...« Er wollte sagen: ergeben bin. »... Wie sehr ich dich liebe ... So viele Jahre leben wir zusammen! ... Und jetzt willst du auf einmal ...«

Er sah voraus, was geschehen sollte; obwohl er aus Erfahrung wissen konnte, daß nichts geschehen werde, überkam ihn doch bei jedem neuen Auftritt dieser Art die Angst, daß Araktschejew ihn verlassen könne; und dann wäre er verloren.

»Väterchen Majestät, ich weiß, daß meine Ergebenheit ebenso grenzenlos ist, wie die Gnaden, mit denen Sie mich überschütten. Weder mein Verstand, noch meine Worte reichen aus, um meine Dankbarkeit auszudrücken. Da ich mich aber alt und gebrechlich fühle, muß ich um meinen Abschied bitten. Das Alter bedrängt mich hart, alle Knochen tun mir weh. Ich werde von Stunde zu Stunde schwächer, ich vergehe wie ein Wachslicht. Es ist Zeit, daß ich mich zur Ruhe begebe. Habe schon lange genug gedient. Ich bitte mich ganz von meinen Amtspflichten zu entbinden, die mir infolge meines aufrichtigen Charakters zur Last fallen und meine Gesundheit bedrohen ... Sollen andere mein Amt weiterführen, ich kann nicht mehr ... ich kann nicht mehr ... Meine Zunge kann nicht lügen ... Die aufrichtige Seele des in Gott ruhenden Kaisers Paul I., meines Wohltäters, sieht auf mich vom Himmel herab und billigt die Gefühle, die mich beseelen ...«

Er hob die Augen zum Himmel und schluchzte, erst leise, dann immer lauter. Der Kaiser beobachtete ihn mit wachsendem Grauen: Tränen konnte er schon gar nicht vertragen.

»Alexej Andrejitsch! Alexej Andrejitsch!« flehte er ihn an. »was ist nun das? was habe ich dir getan ... Mein Gott, mein Gott! ...«

Er rang die Hände, streckte ihm seine Arme entgegen, griff sich an den Kopf.

»Geben Sie mir den Abschied, Väterchen!« Araktschejew schwamm plötzlich in Tränen. Er hustete, rang um Atem, zitterte wie im Krampfe und sank in einen Sessel. Unter Husten und Weinen jammerte er mit einer schrecklichen, hohen, winselnden Altweiberstimme: »Den Abschied, den Abschied! ... Schicken Sie mich nach Zurukan! ... Als Platzmajor! ... Jagen Sie mich alten Narren fort! ... Araktschejew ist ein Unmensch! ... Araktschejew ist ein Drache! ... Araktschejew ist ein Scheusal! ...«

Der Kaiser sprang bleich und zitternd auf; während Araktschejew sich in sein Taschentuch aushustete, sah er ängstlich hin, ob kein Blut käme: Araktschejew machte dem Kaiser schon längst mit seinem angeblichen Bluthusten Angst. Alexander winkte plötzlich wie verzweifelt mit der Hand, ließ sich gleichfalls in einen Sessel sinken, stützte beide Ellenbogen auf den Tisch, drückte seinen Kopf mit den Händen zusammen, schloß die Augen und verstopfte die Ohren, um nichts zu sehen und zu hören.

Araktschejew schneuzte sich sehr laut, beruhigte sich allmählich und blickte den Kaiser verstohlen mit einem langen, ruhigen, durchdringenden Blicke an. Als er sich vergewissert hatte, daß dieser genügend vorbereitet war, stand er leise auf und schlich unhörbar mit gekrümmtem Oberkörper zum Kaiser; auf der grauen Mauer huschte ein schwarzer Schatten, der Schatten einer riesengroßen Fledermaus. Er sank in die Knie und kroch so zu den Füßen Alexanders.

»Verzeihe mir, Väterchen! ... Ich habe dir Kummer bereitet, verzeihe es mir, altem Narren, um Christ! willen!«

Er nahm leise seine Hand und küßte sie. Der Kaiser fuhr zusammen, wandte sich um, blickte ihn ängstlich lächelnd, als glaube er noch nicht an das große Glück, an, brach plötzlich in Tränen aus und fiel ihm um den hals. Sein Gesicht erstrahlte; er glich in diesem Augenblick Sophie, dem kranken Mädchen, das sich gestern mit dem gleichen Gesichtsausdruck an ihn schmiegte.

»Alexej Andrejitsch, mein lieber Freund! Du mußt mir erst verzeihen ... Wollen wir nicht mehr davon reden. Habe ich denn? ... Mein Gott, mein Gott, kann ich denn ohne dich leben? ... Wenn du mich verläßt ...«

»Ich verlasse dich nicht, Väterchen, nie verlasse ich dich! ... Wohin sollte ich mich wenden? Ich habe ja nur dich und meinen Gott, sonst niemand auf der ganzen Welt ...«

»Den Golitzin aber ...« stammelte der Kaiser, ganz trunken vor Freude, »wegen Golitzin kannst du unbesorgt sein; ich wollte ihn ja schon selbst ... Golitzin wird morgen abgesetzt!«

»Nein, Kaiser, laß den Golitzin sein, tu ihm nichts. Ich will wirklich mit dem Metropoliten sprechen, etwas wird sich schon machen lassen.«

»Also gut, gut. Wie du es ... wie wir es beide beschließen ... Wenn wir nur zusammenhalten, so muß ja alles gut werden!« Er blickte ihn unter Tränen glücklich lächelnd, beinahe verliebt an. »Schone dich aber, mein Teurer, denke an deine Gesundheit! Du hustest ja schon wieder, hast dich wohl erkältet. Trinkst du noch fleißig Stutenmilch?«

»Ja, Väterchen, ja. Doch ist es nicht die Stutenmilch, sondern einzig und allem dein Wohlwollen, das mir mehr nützt, als jeder heilkräftige Balsam! Ich erstrebe nichts anderes, ich will nur vor deinen Füßen wie ein Hund verrecken ...«

Er legte seinen Kopf dem Kaiser in den Schoß, schmiegte seine tränenfeuchte Wange an dessen Hand und blickte zu ihm auf, wie ein alter treuer Hund.

»Wir beide sind allein in der Welt, Väterchen; arme Waisenkinder sind wir! Niemand liebt uns, niemand hat Mitleid mit uns. Wenn wir einmal abdanken, wollen wir uns beide nach Grusino zurückziehen,« stammelte er wie im Fieber, »wir werden durch Wiesen und Wälder spazieren, Blumen pflücken, Lieder singen, Hand in Hand, wie zwei Brüder, wir beide, du und ich, – sind ganz allein; und doch gibt es noch einen dritten zwischen uns ...«

Er wies auf das kleine Bild des Kaisers Paul I., das er auf der Brust trug. Jedes Jahr trug er am 11. März, statt des Bildes des regierenden Kaisers, das des verstorbenen. Er führte das Bildnis andächtig an die Lippen, bekreuzigte sich und küßte es wie ein Heiligenbild.

»Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich dein nicht gedenke alle Tage meines Lebens!« flüsterte er gleichsam betend. »Kannst du dich noch daran erinnern, wie er unsere Hände vereinigt hat?«

Alexander nickte schweigend. Es war am Tage der Thronbesteigung Kaisers Paul I., im Winterpalais, vor dem Sterbezimmer der Kaiserin Katharina. Paul vereinigte die Hände Alexanders und Araktschejews und sagte zu ihnen: »Ihr sollt ewig Freunde bleiben.«

»Kannst du dich auch noch auf das Hemd besinnen?«

Der Kaiser nickte wieder, ein zärtliches Lächeln umspielte seine Lippen. Als Araktschejew am gleichen denkwürdigen Tage über Hals und Kopf in einem offenen Feldjägerwagen bei strömendem Regen aus Gatschina nach Petersburg kam und so durchnäßt war, daß er sofort die Wäsche wechseln mußte, gab ihm Alexander eines von seinen Hemden; in seinem Testament äußerte er den Wunsch, in diesem Hemd begraben zu werden.

»Heute Nacht habe ich ihn wieder im Traume gesehen ...« fuhr er im gleichen andächtigen Flüsterton fort.

»Wieder?«

»Ja, wieder, Väterchen. Wie jedes Jahr in der Nacht auf den 11. März. Im vorigen Jahr erschien er mir so trübe und finster, den Hut tief in die Augen gedrückt; das Gesicht war nicht zu sehen, – genau so wie er im Sarge lag. Dieses Mal konnte ich aber das Gesicht sehen. Er sah so gelb und leidend aus. Auf der linken Schläfe ein schwarzes Fleckchen ...«

»Laß es! Sprich nicht davon! ...« stöhnte Alexander auf, das Gesicht mit den Händen bedeckend, beinahe die Besinnung verlierend.

»Nein, Väterchen, ich spreche nicht mehr davon, verzeihe mir altem Narren ...«

»Nein, erzähle weiter, erzähle alles. Wie war es dieses Mal?«

»Dieses Mal drehte er den Hals hin und her und sprach: ›Warum ist die Halsbinde so eng? Können sie denn gar keine passende Halsbinde machen?‹ Er schien zu zürnen. Dann sprach er von dir ›Paß auf, Alexej Andrejitsch,‹ sagte er, ›daß es ihm nicht ebenso geht. Bewache ihn, liebe ihn wie ein Vater ...‹«

Alexander lauschte bebend und erstarrend, als vernähme er wirklich in diesem Geflüster eine Kunde aus dem Jenseits.

»Wie ein Vater ...« wiederholte Alexander, unter Tränen das Bild Pauls I. auf der Brust Araktschejews küssend; es war ihm, als küsse er seinen leibhaftigen Vater. In der Berührung der rauhen rasierten Wangen und im Geruch des alten grünen Militärtuches erkannte er den Duft seiner frühen Jugend, die ihm so vertraute Kasernenluft von Gatschina, den Geruch seines Vaters. Seine letzte Zuflucht, wo er sich geborgen und beruhigt fühlte, wo er weder die Vergangenheit, noch die Zukunft fürchtete, – war hier, an der Brust Araktschejews, an der Brust seines Vaters; denn er unterschied die beiden nicht mehr voneinander.

Beide weinten, und ihre Tränen flossen zusammen. Araktschejew streichelte dem Kaiser, wie einem kleinen Jungen, die Haare. Alexander war es, als ob ihn sein Vater liebkose und ihm alles verzeihe.

Araktschejew hüstelte. Alexander kam wieder zur Besinnung und wurde unruhig:

»Willst du nicht etwas Heißes trinken, mein Freund? vielleicht Punsch, oder Himbeerwasser?«

»Nein, lieber etwas Tee ...« stöhnte Araktschejew wie ein Kranker.

Alexander trank leidenschaftlich gerne Tee, besonders aber in Araktschejews Gesellschaft. Er stand auf und tat sehr geschäftig. Er klingelte dem Kammerdiener. Er wußte, daß ihn die Kaiserin Jelisaweta Alexejewna erwartete: während seiner Krankheit hatte sie sich daran gewöhnt, den Tee in seiner Gesellschaft zu nehmen; diese wenigen Stunden, die sie mit dem Kaiser noch zubringen durfte, waren für sie das Kostbarste im Leben. Diesmal ließ er ihr durch den Diener sagen, daß er heute nicht komme; ganz ohne zu zögern, opferte er sie dem Freunde.

Er brühte den Tee eigenhändig auf; es war ein besonderer, von Araktschejew bevorzugter grüner Tee, den er einem neuen Paket entnahm. Er spülte selbst die Tassen, wischte sie mit dem Handtuch ab und goß den Tee weder zu hell, noch zu dunkel, sondern genau so, wie es Araktschejew liebte, ein. Dann hackte er noch den Zucker in ganz kleine Stücke »zum Zubeißen«. Er kannte alle Gewohnheiten und Launen seines Gastes und bewirtete ihn mit der größten Zuvorkommenheit.

»Willst du von den Aniskringeln, die du so sehr liebst? Nimmst du Sahne zum Tee?«

»Ungekochte Sahne trink ich nie, Väterchen.«

»Nein, es ist gekochte. Jefimytsch weiß es schon und bringt dir immer gekochte. Siehst du: da ist auch Haut dabei. Du liebst ja die Haut!«

»Ja, ich liebe die Haut,« seufzte Araktschejew wie leidend. Er spitzte die Lippen, blies in den Tee und trank ihn bescheiden aus der Untertasse. Der Kaiser sah ihn gerührt an, wie eine Mutter auf ihr krankes Kind sieht.

Sie besprachen verschiedene Kleinigkeiten des Militärdienstes; dieses Thema war unerschöpflich, stets willkommen und beruhigend.

Sie untersuchten das neue Modell einer Bürste, mit der die Soldaten ihre Schnurrbärte behandeln sollten, und einen neuen Putzstein für die Uniformknöpfe. Mit dem letzteren machten sie gleich einen Versuch: die Knöpfe auf Araktschejews Uniform leuchteten nach dem Putzen wie Gold. Auch die Schnurrbartbürste erwies sich als vorzüglich.

Darauf besprachen sie den neuen Armeebefehl: »In der ganzen Armee sollen beim Marschieren die Schritte genau einen Arschin betragen; beim langsamen Tempo kommen auf eine Minute 75 Schritte, beim beschleunigten – 120; Abweichungen von dieser Schrittlänge und Cadence werden nicht gestattet.«

Sie sprachen auch von der letzten Truppenparade auf dem Marsfelde. Im Sappeurbataillon der Leibgarde verhielten sich die Leute nicht ganz ruhig; man sah viele nicht durchgedrückte Knie, der Schritt war nicht elastisch genug; auch hörte man husten.

»Dafür war aber das Ismailowsche Regiment schön, Väterchen!« bemerkte Araktschejew. »Herrliche Kerle sind es! Man kann sie mit beweglichen Mauern vergleichen. Es ist kein Marschieren, sondern ein Schwimmen. Ich konnte mich gar nicht satt sehen! Ich glaube, daß sie auch auf den Köpfen ebenso schön marschieren würden, wenn man es ihnen befähle.«

»Ja, sie sind wirklich nicht übel,« sagte der Kaiser bescheiden. Er errötete vor Freude über dieses Lob, das seinem Lieblingsregiment zuteil wurde. »Es ist immerhin schade, daß man beim Kommando Stillgestanden einzelne Leute noch atmen sieht.«

Sie gedachten eines Soldaten aus der Zeit Kaiser Pauls, der abgerichtet war, mit einem Glase Wasser auf dem Helm zu marschieren, wobei kein Tropfen verschüttet wurde; heute kann man es einem Soldaten nicht beibringen; die Leute sind jetzt eben anders.

Schließlich vertieften sie sich in unendliche Betrachtungen über die neue Jägeruniform: der Ärmelaufschlag sollte nicht mehr gezackt, sondern gerade sein und statt drei Knöpfen – fünf tragen.

Das Gesicht des Kaisers nahm den gleichen Ausdruck an, wie in seiner Kindheit beim Soldatenspiel. Das ganze Gespräch kam ihm so vertraut und lieb vor und erinnerte ihn an die Zeiten von Gatschina. Es war ihm, als ob noch ein dritter – sein Vater – am Gespräch teilnähme. Es war so still, so gemütlich, freud- und leidlos wie in der Ewigkeit. In der ganzen Welt gab es nichts, als Pelotons, Kompagnien, Staffeln, Bataillone, regelmäßige, einheitliche Menschengruppen, die sich wie die Schotterhaufen zu den beiden Seiten einer Landstraße in die Unendlichkeit hinzogen. Wie in der Gegenwart, so auch in der Vergangenheit und in der Zukunft.

Die Uhr schlug zehn. Der Kaiser wurde wieder unruhig: Alexej Andrejitsch mußte zu Bett; wenn er sich spät hinlegte, konnte er wieder die ganze Nacht nicht einschlafen. Er brach das Gespräch mitten in einem Satz ab und verabschiedete Araktschejew; er solle ja nicht vergessen, vor dem Zubettgehen noch Stutenmilch zu trinken. Sie umarmten sich und bekreuzigten einander.

Als Araktschejew fort war, begab sich auch der Kaiser zur Ruhe. Alles spielte sich dabei nach einem längst eingeführten Ritual ab. Zunächst las er je ein Kapitel aus dem Alten Testament, aus den Evangelien und aus der Apostelgeschichte. Seit vielen Jahren lasen er und Golitzin allabendlich die gleichen Kapitel, die sie für das ganze Jahr festgesetzt hatten. Es kam zuweilen vor, daß er auf einer Reise oder auf einem Feldzuge die Reihenfolge vergaß; dann schickte er oft aus einer Entfernung von Tausenden von Meilen einen Kurier zu Golitzin um Auskunft.

Er begab sich ins Schlafzimmer, das sich neben dem Arbeitszimmer befand, und verrichtete kniend das Abendgebet. Er betete kurz, denn das Bein tat wieder weh. In vergangenen Jahren kniete er aber oft so lange, daß die Knie wund wurden. Er wusch sich und öffnete für zehn Minuten das Fenster: an diese »Luftbäder« hatte ihn noch seine Großmutter nach dem Rate des Philosophen Grimm gewöhnt.

Er legte sich auf sein schmales und hartes Feldbett, das er noch seit Austerlitz hatte; es bestand aus einer gelben, mit Heu gefüllten Saffianmatratze, einem flachen Saffiankissen und einer Schlummerrolle.

Gewöhnlich schlief er sofort ein: er legte sich auf die linke Seite, bekreuzigte sich zum letztenmal, schob die linke Hand unter die Wange, schloß die Augen und versank sofort in tiefen Schlaf. Die Kammerdiener und Kammerlakaie, die dicht an seinem Bette die Kleider in Ordnung brachten, konnten dabei lärmen und schimpfen wie auf der Straße: sie wußten, daß man den Kaiser selbst mit Kanonenschüssen nicht wecken konnte.

Nach der Krankheit begann er aber an Schlaflosigkeit zu leiden. So war es auch jetzt: er war bereits etwas eingeschlummert, als er plötzlich Stimmen, Schritte und Stimmen von Männern hörte, die durch die hallenden Gänge und Stiegen liefen und immer näher kamen ... genau so wie in jener schrecklichen Nacht. Er fuhr zusammen und erwachte unter heftigem Herzklopfen. Um sich zu beruhigen, versuchte er an die regelmäßigen, gleitenden Mauern der Bataillone, an die drei und fünf Knöpfe auf den Ärmelaufschlägen zu denken. Als er aber wieder einzuschlafen begann, flüsterte ihm Araktschejew ins Ohr: »So gelb, gelb und leidend. Und auf der linken Schläfe ein schwarzes Fleckchen ...« Er fuhr wieder zusammen und starrte mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Der Schlaf hatte sich wieder verflüchtigt. Er sah ein, daß er in dieser Nacht nicht mehr einschlafen würde.

Er stand auf, zog sich seinen Schlafrock an, ging ins Arbeitszimmer, sperrte die Schreibtischlade auf, holte das vergilbte Schriftstück heraus, das er vorher obenauf hingelegt hatte, und begann zu lesen. Es war ein Brief in französischer Sprache vom Fürsten Jaschwil, einem der Zarenmörder vom 11. März.

»Majestät, noch am Tage der Thronbesteigung Ihres unglücklichen Vaters habe ich beschlossen, mein Leben zu opfern, wenn ich damit dem Wohle Rußlands dienen könnte; denn dieses Land war seit den Tagen Peters I. ein Spielzeug in den Händen der Günstlinge und ist heute das Opfer eines Wahnsinnigen. Unser Vaterland wird autokratisch regiert, und das Schicksal von Millionen ist von der Größe des Geistes und des Herzens eines Einzigen abhängig ... Gott der Allmächtige weiß, daß wir unsere Hände nicht aus Gewinnsucht mit Blut besudelt haben: unser Opfer darf daher nicht vergeblich sein. Sie sollen, Majestät, Ihren Beruf richtig auffassen und auch auf dem Throne ein aufrechter Mensch und Bürger bleiben. Sie müssen wissen, daß die Verzweiflung immer Mittel finden kann; führen Sie das Vaterland nicht dem Verderben entgegen. Ein Mann, der sein Leben opfert, hat das Recht, es Ihnen zu sagen. Ich bin jetzt größer als Sie, denn ich habe keine Wünsche mehr; aber für Ihre Ehre, die mir nur aus dem Grunde so teuer ist, weil sie die Ehre Rußlands ist, bin ich jeden Augenblick bereit, auf dem Schafott zu sterben. Dies ist aber nicht nötig: die ganze Schuld ruht auf uns, Sie sind aber unbefleckt. Der kaiserliche Purpur hat auch schon größere Verbrechen gedeckt. Ich ziehe mich jetzt auf meine Güter zurück und werde dort versuchen, aus der blutigen Lehre Nutzen zu ziehen und meinen Leibeigenen ein milder und wohltätiger Herr zu sein. Der König der Könige wird mich in meiner Sterbestunde strafen oder freisprechen; ich bete zu ihm, auf daß mein Opfer nicht umsonst gewesen sein soll. Leben Sie wohl, Majestät. Dem Kaiser bin ich ein Retter des Vaterlandes, dem Sohne – ein Vatermörder. Leben Sie wohl. Der Ewige segne Rußland und seinen Kaiser, der sein irdischer Gott ist; seine Ehre soll ewig strahlen.«

Ihm fiel ein Passus aus einem andern Brief ein: »... Jetzt wollen wir sehen, was Alexander ist: ein Thronräuber oder ein zu jedem Opfer bereiter Sohn des Vaterlandes? ...« Der Schreiber dieses Briefes, der livländische Edelmann von Bock, wurde dafür in die Schlüsselburg gesperrt, wo er nach Jahren den Verstand verlor.

Er wußte noch, wie er selbst nahe daran war, den Verstand zu verlieren. Während der Krönungsfeierlichkeiten zu Moskau saß er tagelang hinter verschlossenen Türen unbeweglich, den Blick auf einen Punkt geheftet, ohne etwas zu denken und nur den drohenden Schrecken des Wahnsinns empfindend; jenen feigen, tierischen, häßlichen Schrecken, vor dem die Eingeweide erkalten und sich umdrehen. Dieser Zustand verging später, und er glaubte, daß er davon für immer erlöst sei. Nun kam es aber wieder. In einer solchen Nacht könnte er wirklich den Verstand verlieren.

Graf Pahlen, der Anführer der Verschwörer, der seit dreiundzwanzig Jahren wie ein Einsiedler auf seinem Gute Eckau in Kurland lebte, pflegte, so oft die Rede auf den 11. März kam, mit vollkommener Seelenruhe zu sagen: »Ich weiß nicht, wie es mit meinen anderen Handlungen steht, aber diese Tat werde ich vor Gott sicher verantworten können!« So pflegte er zu sagen; und doch betrank er sich alljährlich in dieser Nacht bis zur Bewußtlosigkeit.

Sollte er am Ende diesem Beispiele folgen, um diese Nacht irgendwie durchbringen zu können?

Er ging wieder ins Schlafzimmer, holte ein Fläschchen mit Opium, tropfte davon etwas in einen Becher Wasser, trank ihn aus und legte sich wieder ins Bett.

Wieder erklangen in den Gängen und Stiegen Stimmen, Stimmen und Schritte; sie kamen immer näher; gleich werden sie ins Schlafzimmer eindringen, wie in jener schrecklichen Nacht! Das kleine schwarze Fleckchen auf der linken Schläfe des gelben Gesichts wurde immer größer, größer und tiefer, es verwandelte sich in einen gähnenden schwarzen Abgrund, und der Abgrund verschlang ihn.

* * *

In der gleichen Stunde schlich durch die dunklen Säle des Schlosses eine Frau in grauen Kleidern, das Gesicht in einen grauen Schleier gehüllt; sie glich einer Klagefrau oder der Figur eines Grabdenkmales. Ihre Bewegungen drückten das gleiche aus, was sie immer selbst von sich zu sagen pflegte: »Mein ganzes Leben lang taste ich mich an einer Mauer entlang.« So schlich sie auch jetzt mit gebeugtem Leibe, wie eine Diebin, die ertappt zu werden fürchtet, oder wie das Gespenst einer unbußfertigen Seele.

Bei der Türe, die zu den kaiserlichen Gemächern führte, präsentierten die beiden Wachposten das Gewehr; der junge Offizier, der in einem Sessel eingenickt war, sprang rasch auf, entblößte den Degen und machte Honneur. Als sie an ihnen mit geneigtem Kopf und verhülltem Gesicht vorbeigekommen war, blickte er ihr mit andächtigem Mitleid nach: er hatte die Kaiserin Jelisaweta Alexejewna erkannt.

Solange der Kaiser krank war, mußte sie immer in seiner Nähe bleiben; nach seiner Genesung wurde sie wieder entbehrlich. So war es immer: im Leid – mit ihm, ohne Leid – allein. Sie wagte es nicht, ihm abends Gutenacht zu sagen und besuchte ihn heimlich, wenn er schon schlief, um den Schlafenden zu küssen. So war er ihr weniger fremd.

Sie trat ins Schlafzimmer, beugte sich über sein Lager, bekreuzigte ihn und küßte ihn auf die Stirne.

Gott Amor wollte einst im Spiele
Die schöne Psyche haschen ...

hieß es im Hochzeitskarmen, das der Dichter Derschawin einst dem fünfzehnjährigen Knaben und dem vierzehnjährigen Mädchen gewidmet hatte. Nun küßte die greise Psyche ihren kahlköpfigen Amor.

Und dann schlich sie wieder durch die finsteren Säle zurück, an den Mauern entlang, wie eine Diebin, die ertappt zu werden fürchtet, oder wie das Gespenst einer unbußfertigen Seele.


 << zurück weiter >>